Magazinrundschau

#surreal

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.04.2013. Das Attentat von Boston wird vor allem den Tschetschenen schaden, fürchtet The Atlantic. Das New York Magazin beobachtet die Verdrängungstaktiken der Chassidim in New York. In Rumpus erklärt Aleksandar Hemon, warum nur die ganz Privilegierten glauben, es gebe keinen Fortschritt. Die LRB singt dem russischen Performancekünstler Vladik Monroe ein Abschiedslied. In Eurozine erklärt Etgar Keret das Hebräische als Literatursprache. Dem Murdoch-Imperium geht's prächtig, meldet Bloomberg Businessweek. In der NYRB ärgert sich John Gray über den inkohärenten Mischmasch der Marxschen Philosophie. In Bidoun erzählt Larry Gagosian, warum Cy Twombly den armenischen Maler Arshile Gorky liebte.

New Republic (USA), 22.04.2013

Der Politikwissenschaftler Olivier Roy glaubt nicht, dass die beiden Brüder Zarnajew Mitglieder von Al Qaida waren, wie er im Interview erklärt. Das Problem junger Attentäter im Westen sei eher, dass sie überhaupt keine echte Verbindung zu ihrer muslimischen Community haben. "Globalisierung und Individualisierung sind hier die Stichworte. Sie verbinden sich nicht mit einer Organisation, sondern mit dem Netz. Sie verbinden sich mit einer virtuellen Umma, nicht mit der realen Gesellschaft. Die meisten von ihnen haben in der westlichen Gesellschaft keine Kontakte geknüpft. Sie sind vielleicht in die Moschee gegangen, waren aber nie wirklich Teil einer Gemeinde, sie haben kein wirkliches, soziales Leben. Ihr soziales Leben findet im Internet statt."
Archiv: New Republic

The Atlantic (USA), 19.04.2013

Putin reibt sich die Hände, weil die Attentäter von Boston tschetschenischer Herkunft sind. Genau was er braucht, um seine brutale Tschetschenienpolitik zu rechtfertigen, glaubt Thor Halvorssen, der mehr Engagement von den Europäern fordert: "Tschetschenien mag außerhalb der politischen Grenzen der europäischen Familie liegen, aber es ist in seiner überwältigenden Mehrheit eine europäische Nation. Die meisten Tschetschenen suchen - anders als die beiden Verdächtigen von Boston (die laut Berichten nach Kirgisien geflohen waren, wo Dschochar Zarnajew geboren wurde) - Zuflucht in Demokratien, nicht in islamischen Diktaturen. Die Arabische Liga hat nicht ein einziges Mal Besorgnis geäußert über die muslimische Bevölkerung in Tschetschenien und was das russische Regime ihr antut. Die meisten tschetschenischen Flüchtlinge suchen Freiheit, leben in freien Ländern und verstehen die Trennung von Staat und Moschee."
Archiv: The Atlantic

New York Magazine (USA), 29.04.2013

Eins hat James Gleick aus der Jagd auf die Attentäter von Boston gelernt: beständiger Nachrichtenfluss in Echtzeit ist ein gescheitertes Experiment. Wenn man pausenlos etwas sagen muss, auch wenn man nichts neues zu sagen hat, werden Falschinformationen und Gerüchte verbreitet. Zumal heute jeder irgendwas in den Äther funkt: "Mikroblogging und soziale Medien drängten sich massiv in die Ereignisse. Die @CambridgePolice, die von Donnerstag Nacht bis Freitag Morgen noch 'Verdächtiges Paket'-Meldungen tweeteten, hörten damit auf für den Fall, dass der 19-jährige Flüchtige Dschochar Zarnajew an seinem Telefon klebte wie alle anderen. Und warum sollte er nicht? Das Internet enthüllte seinen mutmaßlichen Twitternamen, der sofort zehntausende neue Follower verbuchen konnte. Reddit-User setzten mittels crowd sourcing eine Karte über die Schießereien und die Autoentführung Donnerstag Nacht zusammen. Die @Boston_Police bat andere Twitterer damit aufzuhören 'taktische Positionen der Häuser zu veröffentlichen, die durchsucht werden'. Jemand registrierte den Domainnamen 'shouldIlivetweetthescanner.info' um eine kurze Botschaft zu veröffentlichen: 'NO. NO, NO and NO.' Der ermordete Polizist Sean Collier wurde auf einer Officer Down Memorial Page verewigt. Der tschetschenische Präsident Ramzan Kadyrow, aka kadyrov_95, verkündete auf Instagram, dass, was passiert sei, allein Amerikas Schuld sei. Einer der populärsten Twitter-Hashtags war #surreal. Das wäre auch für Fernsehnachrichten passend gewesen, wenn sie Hashtags hätten."

Benjamin Wallace-Wells erzählt in einer langen Reportage, wie die jüdisch-orthodoxen Chassidim in Rockland County, deren Zahl aufgrund ihrer Zeugungsfreudigkeit rapide anwächst, andere Einwohner des Landstrichs buchstäblich verdrängen. Der schärfste Streit kreist um die öffentlichen Schulen, für die die Gelder vom mehrheitlich mit Chassidim besetzten Schulausschuss immer mehr zusammengestrichen werden, obwohl die Chassidim gar nicht auf öffentliche Schulen gehen. "Bei einem Treffen im März, kurz nachdem Young-Mercer und das zweite verbliebene säkulare Ausschussmitglied zurückgetreten waren, blickten sieben Männer mit Yarmulke vom Podium herab auf eine Menge aus wütenden Studenten und Eltern, die meisten schwarz oder hispanisch. Einige Mitglieder des Ausschusses sprechen nur selten und auf dem Podium herrscht oft eine Atmosphäre aus Uninteressiertheit und Zerstreutheit. Nachdem die Hauptangelegenheiten des Bezirks erledigt sind, aber noch bevor die Öffentlichkeit Gelegenheit hat selbst zu sprechen, verschwindet der Ausschuss in der Regel in private Sitzungen, die meist Stunden dauern. Das machte viele der Studenten und Eltern wütend, die oft bis nach Mitternacht warten müssen, um sprechen zu können."

Rumpus (USA), 14.04.2013

Der Schriftsteller Aleksandar Hemon spricht im Interview über sein neues Buch "The Book of My Lives". Und er erklärt, warum er kein Außenseiter ist und auch nicht mehr sein möchte: Weil man sich dann nicht mehr verantwortlich fühlt. "Als ich nach Amerika kam, noch bevor ich nach Chicago ging, reiste ich viel. Ich besuchte eine Freundin in Kanada, eine Frau, die ich im Sommer 91 in der Ukraine kennengelernt hatte. Sie hatte eine Freundin, eine Journalistin und wir diskutierten viel. Ich sagte damals - das war Teil meines reflexhaften Nihilismus zu der Zeit - dass die Welt sich nicht ändere. Es gebe keinen Fortschritt, nur Krieg, Wir würden nichts dazu lernen, außer in der Technologie sei alles wie im Mittelalter. Sie widersprach. Sie sagte: 'Das stimmt nicht. Vor einer Generation konnte ich nicht wählen. Ich hätte nicht wählen dürfen.' Und ich stritt nicht mehr mit ihr, denn das war offensichtlich wahr. Um zu behaupten, dass die Welt sich nicht ändere, muss man in einer sehr privilegierten Position sein. Nur dann sieht alles gleich aus für dich. Ich gab diese Ansicht im selben Moment auf."
Archiv: Rumpus

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.04.2013

Der scheidende Direktor des Budapester Nationaltheaters, Róbert Alföldi, spricht im Interview mit Eszter Rádai über seine Arbeit unter politischem Druck: "Meine Inszenierungen sind in der Tat politisch, ich halte es für sehr wichtig, dass ein Theater sich mit der Politik beschäftigt. Selbstverständlich geht es nicht um Parteipolitik, sondern um Verantwortungsbewusstsein für ein Land, für eine Nation, die - auch wenn manche das bezweifeln - unsere ist. Dieses Haus hat die verdammte Pflicht über gesellschaftliche Themen, über die bittersten, schmerzhaftesten, problematischsten Themen zu sprechen und diese auch als Schlag ins Gesicht der Menschen zu präsentieren. Wir werden damit die Welt nicht ändern, doch können vielleicht irgendeine Kommunikation lostretet." Die letzte Inszenierung von Alföldi wird Klaus Manns "Mephisto" sein.

Außerdem schreibt der Schriftsteller und Dichter András Nyerges (unter anderem "Nichtvordemkind!" beim Knaus Verlag) über Versuche der Regierung einen nationalistischen literarischen Kanon zu entwickeln. Und György Báron berichtet vom Filmfestival Titanic, das sein zwanzigstes Jubiläum feiert: "Auf der sinkenden Titanic spielte die Kapelle bis zum letzten Augenblick."
Stichwörter: Kanon, Titanic

London Review of Books (UK), 25.04.2013

Peter Pomerantsev schreibt einen Doppel-Nachruf auf zwei russische Persönlichkeiten, die die frühe Post-Sowjet-Ära entschieden geprägt haben: Der eine ist Boris Beresowski, der ursprüngliche "Pate des Kremls", Königs-, beziehungsweise Präsidentenmacher nach dem Ende der Sowjetunion. Der andere ist Vladislav Mamyshev, ein unter dem Namen Vladik Monroe bekannter Performancekünstler, der sich schon zu Sowjetzeiten mit zuvor kaum denkbaren Provokationen einen Namen machte: "Nicht-Russen könnten Schwierigkeiten haben zu verstehen, warum seine Arbeit als so wichtig angesehen wurde. Doch in der Welt nach der Sowjetunion, in der alle alten Rollenbilder und Archetypen verschwunden waren, in der keiner mehr wusste, wie man sich verhalten sollte, und es den Anschein hatte, als würde jeder neue Posen einüben und sich in rasendem Tempo von Kommunismus über Perestroika, Liberalismus und Nationalismus hin zum Mafiastaat und der postmodernen Dikatur neue Ideologien überstreifen, in dieser Welt wurden der Begriff 'Performance' zu einem Modewort und Performancekünstler zu Stars. Keine Party war ohne Mamyshev oder einen seiner befreundeten Künstler komplett: Oleg Kulik, der einen tollwütigen Hund darstellte, um die Gebrochenheit des Post-Sowjet-Mannes darzustellen, Andrei Barteniev, der als Außerirdischer auftrat, um die Unheimlichkeit der neuen Welt darzulegen, oder German Vinogradov, der nackt durch die Straßen lief und sich mit Eiswasser übergoss."

Hier sehen wir Vladik Monroe gleich in mehreren Rollen:



Weiteres: Tariq Ali berichtet von Übergriffen buddhistischer Mönche auf die muslimische Minderheit in Sri Lanka. Ross McKibbin schaudert es vor den Absichten der Tories, den Sozialstaat weiter zu demontieren, und hält auch sehr wenig von den momentanen Lobliedern in der Presse auf Thatcher, die das Land mit ihren Einschnitten gerettet habe: "Ein deprimierender Anblick, nichts davon entspricht der Wahrheit." Wie eingebunkert fühlt sich Inigo Thomas im Lesesaal der British Library, deren Insassen immerhin über anonyme Notizzettel miteinander flirten. Nick Richardson liest das Buch seines London-Review-Kollegen James Lasdun über dessen Erfahrung mit einer Stalkerin. Adam Shatz bespricht James Buchans "gelehrtes" Buch über die Revolution in Iran und deren Folgen.

Berfrois (USA), 11.04.2013

In einem sehr interessanten langen Gespräch überlegen der russische Aktivist und Kulturkritiker Artemy Troitsky, der britische Fernsehproduzent Peter Pomerantsev und Oliver Carroll von Open Democracy, welche Rolle heute die Kultur in Russland spielt. Sie wird plötzlich wieder als gefährlich wahrgenommen, das zeigt schon der Prozess gegen Pussy Riot, aber sie spielt längst nicht die Rolle, die sie in den 60ern und 80ern gespielt hat, meint Troitsky. Dafür sei sie zu elitär, zu weit weg von den "normalen" Menschen. Pomerantsev stimmt zu. Aber vielleicht müsse das jetzt auch so sein, überlegt er. "Es ist sehr interessant, sich im Detail anzusehen, was gerade passiert, denn es ist ein etwas anderer Kampf. In der Sowjetzeit gab es eine Sowjetkultur und eine Dissidentenkultur. Heute sind die Dinge weniger eindeutig. Zum Beispiel habe ich in den letzten Tagen einige Leute von Nashi [der Putin-treuen Jugendorganisation] getroffen. Ich war ziemlich überrascht herauszufinden, dass ihre Ästhetik hipster ist. Sie lieben Mangafilme, sie mögen moderne Kunst, sie haben eine Art westlichen Stil in ihrer Sprache integriert und das ganze dann auf den Kopf gestellt und mit Patriotismus und einem Quasi-Faschismus verbunden. In der Vergangenheit hat der Kreml oft die radikalsten Kunstprojekte wie zum Beispiel Kyrill Serebrennikows Territorija Festival gesponsort. Sie wollten sicher gehen, dass es keine kulturelle Rebellion gibt, indem sie ihre Sprache vereinnahmt und zum Teil des Systems gemacht haben. Sie wurde sinnlos. In den letzten achtzehn Monaten habe ich gesehen, was Kultur und Sprache angeht, wie die Opposition versucht, eine Miniwelt für sich selbst zu schaffen, einen Ort, der nicht durch die Einmischung des Kremls kontaminiert ist. Ich finde das unglaublich und sehr inspirierend."
Archiv: Berfrois

Eurozine (Österreich), 12.04.2013

Juan Luis Sánchez berichtet in Index on Censorship (online auf Eurozine) über die Verschärfung des politischen Klimas in Spanien, die sich auch auf die Gesetzgebung auswirkt: "Das neue Strafgesetz von 2013 ist mehr als eine Bedrohung. Es erklärt passiven und friedlichen Widerstand - etwa sich bei Wohnungsräumungen anzuketten - zu ernsthaften Straftaten, entsprechend der Aufstachelung zur Gewalt auf der Straße oder bei Demonstrationen. Es gab sogar Vorschläge, Aufrufe zu Demonstrationen über Internet unter Strafe zu stellen."

Im Interview mit Ieva Lesinska spricht der israelische Autor Etgar Keret über die speziellen Schwierigkeiten des Hebräischen als Literatursprache: Die Sprache ist künstlich erneuert worden - nachdem sie jahrhundertelang nicht gebraucht worden war. Das heißt, dass ein heutiger Israeli sich zwar mit einem Juden aus dem Mittelalter eventuell verstehen könnte - aber anderererseits fehlen eine Menge Wörter für alles, was seitdem geschah: Auch "wenn ich in Slang schreibe, würde ich sagen, dass die Hälfte der Wörter biblischen Ursprungs ist. Die andere Hälfte besteht aus Wörtern, die die Leute brauchen, die aber nicht in der Bibel stehen, Wasserhahn, Autoreifen und so weiter. Die Wörter wurden sofort gebraucht. Sie konnten ganz leicht importiert und hebraisiert werden. Ich kann ein russisches Wort nehmen und es in eine hebräische Form setzen, ich kann auch ein Wort erfinden, das Leute aus dem Kontext verstehen können, denn sie sind daran gewöhnt, dass die Leute ständig versuchen, irgendetwas zu erklären, für das man kein Wort hat. So kann man innerhalb eines Satzes eine interessante Spannung schaffen."

Außerdem: John Lanchester spricht im Interview über seinen Roman "Kapital" und den Ausverkauf Londons.
Archiv: Eurozine

Bloomberg Businessweek (USA), 18.04.2013

Vor zwei Jahren sah es aus, als stünde das Murdoch-Imperium vor dem Ende. Die Abhöraffäre, das Ende der News of the World ließen den Tycoon angeschlagen erscheinen. Inzwischen ist er wieder oben auf und hat sich zum Twitter-Virtuosen entwickelt (400.000 Followers), und News Corp. entwickelt sich prächtig, erzählt Felix Gillette. Das Geheimnis? Geld, in der richtigen Dosierung, für die richtigen Zwecke. 700 Abhöropfer wurden außergerichtlich abgefunden: "Zwischen Juli 2010 und Dezember 2012 hat die News Corp. 250 Millionen Dollar an Anwaltskosten und anderen Kosten für den Abhörskandal ausgegeben, plus 25 Millionen Dollar für außergerichtliche Einigungen. Das mag als ein schmerzhafter Betrag erscheinen, aber die tatsächlichen Kosten liegen weit unter den Schätzungen von 2011, sagt die Medien-Expertin Claire Enders: 'Damals wurden Kosten in Milliardenhöhe anvisiert. Das konnte doch nach unten gedrückt werden und hat die Aktienkurse zugleich nach oben getrieben.' Der New Yorker Anwalt und Spezialist für Krisenbewältigung bei großen Firmen, Richard Levick, glaubt, dass das Geld für die Einigungen gut investiert ist: 'So blieben die Fälle außerhalb der Schlagzeilen', sag er. 'Und was hat es gekostet? Nur einen Bruchteil des Betrags, um den der Wert des Unternehmens gestiegen ist.'"
Stichwörter: Geld, Virtuosen

MicroMega (Italien), 12.04.2013

Die Tiefendimension des "Politclowns" Beppe Grillo ist in Deutschland noch kaum wahrgenommen worden. Wir haben neulich auf zwei Artikel über den Guru des Gurus, Gianroberto Casaleggio hingewiesen (hier und hier). Nun denkt Giovanni Perazzoli in Micromega interessant und klarsichtig über den "millenaristischen Charakter" der Fünf-Sterne-Bewegung nach, aus dem sich auch die Ablehnung der Zusammenarbeit mit anderen Parteien ergibt. "Grillo meint es sehr ernst, wenn er das Netz als Instrument des Heils betrachtet, das direkte Demokratie ermöglicht, oder wenn er für seine Fünf-Sterne-Bewegung eine Vision der Weltrevolution ausmacht oder glaubt, dass das 'Format' der Web-Demokratie von Italien aus über die ganze Welt kommen wird... Das Netz bekommt bei ihm dieselbe, ans Theologische grenzende Bedeutung, die der Markt für den Neoliberalismus oder die materielle Dialektik für den Marxismus hat."
Archiv: MicroMega

New York Review of Books (USA), 09.05.2013

John Gray hat mit großem Interesse die kluge und elegante Karl-Marx-Biografie von Jonathan Sperber gelesen, die Marx ganz im Denken des 19. Jahrhunderts verortet. Doch so leicht wie Sperber will Gray Marx nicht aus der Verantwortung entlassen: "Marx glaubte, dass eine andere und unvergleichlich bessere Welt entstehen würde, wenn der Kapitalismus erst einmal überwunden wäre, und er gründete seinen Glauben an die Möglichkeit einer solchen Welt auf einen inkohärenten Mischmasch aus idealistischer Philosophie, zweifelhaften evolutionären Spekulationen und einer positivistischen Weltsicht. Lenin folgte in Marx' Fußstapfen, als er eine neue Version dieses Glaubens in die Welt setzte. Die von Leszek Kolakowski und anderen vorgebrachte Behauptung ist noch nicht widerlegt, dass der tödliche Mix aus metaphysischer Gewissheit und Pseudowissenschaft, den Lenin von Marx übernahm, einen entscheidenden Anteil an der Entstehung des kommunistischen Totalitarismus hatte. Marx' leninistische Anhänger verfolgten die unerfüllbare Vision einer harmonischen Zukunft nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus und schufen so eine repressive und inhumane Gesellschaft, die selbst zusammenbrach, während sich der Kapitalismus - trotz aller Probleme - weiter ausbreitet."

Richtig findet es die französische Historikerin Anka Muhlstein, dass das Metropolitan Museum die Ausstellung L'Impressionnisme et la Mode" aus dem Musée d'Orsay um die Moderne ergänzt als "Impressionism, Fashion, and Modernity" in New York zeigt: "Die Verbindung zwischen Impressionismus und Mode ist heikel, nah an der Täuschung. Dies liegt nur zum Teil daran, dass die Kleider in ihren Schaukästen starre Museumsstücke sind, während die gleichen Kleider auf der Leinwand glänzen, bewegt und untrennbar verbunden sind mit den Bewegungen der Frauen, die sie tragen. Es liegt auch daran, dass bei einem eleganten Kleid wesentliche Merkmale die Details sind - was die Qualität eines Kleides ausmacht, sind die Form eines Knopfes, der Sitz einer Falte, die Feinheit der Stickerei, die Perfektion des fini (um die Sprache eines Haute-Couture-Ateliers zu benutzen) -, während es Monet, Manet oder Renoir in erster Linie darum ging, eine Haltung zu evozieren, einen Eindruck, das auf dem Stoff spielende Licht. Tatsächlich arbeiteten sie also am Unfertigen, am non-fini. Dies ist das genaue Gegenteil zu einem Porträt von Ingres, der sich beflissen darum mühte, die Kleidung seines Modells in detaillierter Exaktheit wiederzugeben."

Salon.eu.sk (Slowakei), 18.04.2013

Wenn der Blogger und Aktivist Alexej Nawalny wegen der blödsinnigen Anklage, er habe Holz gestohlen, eingesperrt wird, dann haben die Zentristen endgültig verloren, meint der Krimiautor Boris Akunin. "Dann werden unweigerlich die Revolutionäre zum Mainstream der Opposition. Dann gibt es keine harmlosen Clowns mehr wie Limonow oder wütende Intellektuelle wie Kasparow und Piontkowski. Neue Führer und neue Techniken des Kampfes werden erstehen. Und ihr Hauptslogan wird kompromisslos sein: 'Entweder kriegen wir sie oder sie kriegen uns.'"

Außerdem: In einem Artikel für Elet es Irodalom, von Salon.eu.sk ins Englische übersetzt, erklärt Ilma Rakusa, was Europa für sie bedeutet.
Archiv: Salon.eu.sk

Guardian (UK), 22.04.2013

Ein literarisches Großereignis ist für den Guardian ein neuübersetzter Essayband von W.G. Sebald. Abgedruckt wird daraus ein Text über Rousseau, "A Place in the Country". Außerdem huldigen Will Self, Iain Sinclair Robert Macfarlane und James Wood dem Autor, dessen Stil Wood nah am 19. Jahrhundert sieht: "Die rätselhafte Ruhe seiner Sätze, die pedantische Syntax, die besondere Antiquiertheit seiner Diktion, die seltsam zurückgenommene Distanz seines Schreibens, das alles milchig und wie unter Wasser erscheinen lässt, nie fassbar - all dies gibt Sebald seine besondere Note, so dass wir manchmal weniger einen speziellen Schriftsteller zu lesen scheinen als eine Emanation der Literatur schlechthin."

Weiteres: Hellauf begeistert ist Kathryn Hughes von einer Essaysammlung, die sich den wichtigsten Büchern der Kunstgeschichte verschreibt, darunter Roger Frys "Cézanne", Ernst Gombrichs "Art and Illusion", Clement Greenbergs "Art and Culture" oder Alfred Barrs "Matisse". Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie stellt klar, das die unglaublichsten Passagen ihrer Romane meist realen Erfahrungen entspringen.
Archiv: Guardian

Al Ahram Weekly (Ägypten), 17.04.2013

Die ägyptischen Frauen haben mit der Revolution nichts gewonnen, meint Reem Leila. Sie scheinen eher Rechte zu verlieren: "Obwohl Frauen an der Revolution vom 25. Januar für die Freiheit gekämpft haben, haben sie nicht mehr Rechte gewonnen als sie schon hatten. Im Gegenteil, es gibt Versuche, Gesetze zu anullieren, die Frauen unter der Herrschaft von Mubarak mit bestimmten Rechten ausgestattet hatten. Rechte, die Frauen in der politischen und sozialen Arena errungen hatten, werden scharf angegriffen von den Islamisten, die glauben, Frauen sollten in der Hierarchie tiefer stehen und nur die Rechte haben, die der Islam ihnen zugesteht."

Außerdem: Nehad Selaiha berichtet vom nationalen Theatertreffen in Kairo, das mit einer Demonstration begann.
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Theatertreffen

Wired (USA), 16.04.2013

20 Jahre Wired! Zum Jubiläum halten die Silicon-Valley-Futuristen eine vergnügliche, alphabetische Rückschau auf die Epoche des digitalen Übergangs. Eine Auswahl: In der reich bebilderten und noch anekdotenreicheren Oral History erklären die Magazingründer nicht nur, wie sie in einer Welt ohne Google und iPhone ihr Baby aus der Taufe hoben, sondern auch, wie sie sich von der bis dahin eher bastelstubenartigen Ästhetik von Computerzeitschriften - die "hatten bis dahin alle Fotos von Computern oder von Leuten, die vor Computern sitzen" - abheben wollten. John Plunkett erzählt: "Louis Rossetto und ich waren Fans von Marshall McLuhan, insbesondere seines 'Das Medium ist die Botschaft'. Doch was, wenn McLuhan und sein Designer Quentin Fiore Zugriff auf einen Sechsfarb-Druck gehabt hätten? Wie wäre das gewesen? Wir versuchten, Wörter und Bilder zu verschmelzen, um Ideen zu kommunizieren, um das Magazin zu schaffen, das McLuhan ansehen und 'Na endlich' sagen würde. ... Diese erste Ausgabe nutzte wahrscheinlich ein Dutzend verschiedener Tintensorten statt einer oder vier."

Außerdem: Von der einstigen Euphorie über die Möglichkeiten einer Hypertext-Literatur ist wenig geblieben, stellt Steven Johnson in einer melancholischen Bilanz fest: "Ein klassischer Fall von gescheitertem Futurismus". Steven Levy unterhält sich mit Mark Zuckerberg über die Zukunft von Facebook auf dem mobilen Markt. Kevin Kelly besucht die zahlreichen, benachbarten Startups in San Francisco, von denen er sich nichts weniger als die Zukunft der Onlinekultur verspricht. Mit fast schon verdächtigem Enthusiasmus legt Mat Honan dar, warum Microsoft seiner Ansicht nach mit Windows 8 und dessen Abschied vom Startbutton endlich wieder die Abfahrt Richtung Coolness genommen hat (andernorts vertritt man die Ansicht, dass Microsoft gerade das Grab des PCs schaufelt). Angela Watercutter bringt eine Typologie der animierten GIFs. Lore Sjöberg erklärt, warum der Webcomic xkcd für Nerdkultur schlechthin im Netz steht.

Auch nicht zu verachten: Einige Infografiken - etwa über die Geschichte des Bloggens, über den Siegeszug der Comics in Hollywood, über die Konvergenz zahlreicher Gadgets im Smartphone, eine Mem-Collage, ein Comic über die Stuxnet-Attacke sowie ein Rezept für den perfekten TED-Talk. Und schließlich haben die Wired-Redakteure ein (allerdings kostenpflichtiges) eBook mit den Greatest Hits aus 20 Jahren zusammengestellt (darunter dieser epische Essay von Science-Fiction-Autor Neal Stephenson über die Verdrahtung der Welt).
Archiv: Wired

La vie des idees (Frankreich), 19.04.2013

"Fundiert und umfassend" findet Bertrand Guest eine Kulturgeschichte des Reisens, das sich seit den großen Entdeckungsreisen Ende des 18. bis zu den Anfängen des Massentourismus Anfang des 20. Jahrhunderts stark gewandelt habe. Sylvain Venayre fokussiere in ihrem "Panorama du voyage 1780-1920" vor allem auf die unterschiedlichen Formen und Reisetypen, denn Erforscher, Bildungsreisende, Kurgäste oder Pilger reisen eben nicht auf gleiche Weise, lernt Guest. So zeigt ihm das Buch, wie allmählich das Vergnügen in den Mittelpunkt des Reisens rückt: "Die Grenze zwischen medizinischer Strenge oder kirchliche Buße und diesem Verlangen nach Vergnügen verschwimmen. Zu genießen schließt weder aus, etwas zu lernen oder zu erfahren, noch zu beten oder sich um seine Gesundheit zu kümmern. Stattdessen reicht Genuss zunehmend aus, das Reisen als solches zu legitimieren - Kur und Wallfahrt inbegriffen."

Vorgestellt werden außerdem zwei neue Bücher über Marokko und Algerien, von denen Rezensent M'hamed Oualdi überzeugt ist, dass sie künftig Standardwerke über Frankreichs ehemaligen Kolonien sein werden: "Histoire de l'Algérie à la période coloniale (1830-1962)" von Abderrahmane Bouchene et al. und "Histoire du Maroc de Moulay Idris a Mohammed VI" von Daniel Rivet.
Stichwörter: Algerien, Marokko, Massentourismus

Bidoun (USA), 01.04.2013

Über-Kunsthändler Larry Gagosian spricht im Interview unter anderem über den armenischen Künstler Arshile Gorky, dessen Werke er mehrmals ausgestellt hatte. Irgendwann wollten er und Cy Twombly sogar mal nach Armenien reisen. "Leider ist das nie passiert. Aber Cy hatte eine besondere Verbindung zu Gorky, der immer wieder in Virginia lebte. Cy machte eine Zeichnung - ich wünschte, sie würde mir gehören - es war eine wunderbare Zeichnung, ich glaube aus den 80ern, auf die er geschrieben hatte, 'meine Leute essen Steine' oder etwas ähnliches und es war ein direkter Hinweis auf den Genozid an den Armeniern. Ich weiß nicht mehr, wer das ursprünglich gesagt hat - es kann sehr gut Gorky selbst gewesen sein. Cy war in Virginia geboren, er hatte ein Studio in den Shenandoah Bergen... es gab eine Serie von Arbeiten auf Papier und Gemälden von Gorky, die 'Virginia Landscapes' heißen. Es habe also Verbindungen von verschiedenen Punkten aus. Und Gorkys späte Arbeiten, von 1942 bis zu seinem Selbstmord - man kann sehen, dass Cy davon beeinflusst war, vor allem von der Freiheit in Gorkys Werk."
Archiv: Bidoun

HVG (Ungarn), 10.04.2013

2014 jährt sich die Deportation der ungarischen Juden von 1944 zum siebzigsten Mal. HVG stellt die für das Gedenkjahr geplanten Vorhaben vor, darunter auch einen Gedenkort für die Kinder, die Opfer des Holocaust wurden. Hierfür soll nach den Plänen der in 2005 geschlossene Güterbahnhof in Józsefváros in Budapest renoviert und ausgestattet werden. Unter anderem soll hier auch an den Retter Raoul Wallenberg erinnert werden. Der Holocaustforscher László Karsai kritisiert die Konzentration auf die Kinder: "Die bloße Hervorhebung von einigen tausend Kinderopfern aus den fünfhunderttausend ermordeten ungarischen Menschen entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Zielsetzung und ist nur ein geschmacksloser Angriff auf die Tränendrüsen." Die Macher der Ausstellung kontern: "Einige gut dokumentierte Kindergeschichten gibt es sehr wohl und mit weiteren Forschungen könnte daraus eine Ausstellung konzipiert werden, gleichzeitig soll ja im Komplex die Figur von Wallenberg einen geeigneten Platz erhalten."

Außerdem spricht der Übersetzer und Schriftsteller Mihály Dés, der dreißig Jahre lang in Spanien lebte, über seinen Roman "Pester Barock" der im Ungarn der achtziger Jahre spielt. Über das heutige Ungarn sagt er: "Die Situation halte ich für sehr ernüchternd, aber dafür ist nicht nur die inkompetente Regierung verantwortlich, sondern auch eine alte Tradition, die Selbstbesessenheit. Die Welt existiert praktisch nur aus einer Sicht: was wird über Ungarn im Ausland gesagt? Die Ungarn beschäftigen sich wie Nervenkranke nur mit ihren eigenen Problemen."
Archiv: HVG
Stichwörter: Deportation, Hvg, Gedenkorte, Pest

New York Times (USA), 17.12.2012

Vier Pulitzerpreise hat die New York Times in diesem Jahr abgeräumt, darunter den Preis für investigative Reportage für diese Reportage über das korrumpierende Geschäftsgebaren von Wal-Mart in Mexiko. Der verheerenden Effekt von Wal-Mart auf amerikanische Innenstädte wurde schon viel diskutiert (etwa hier in Robert Greenwalds Dokumentarfilm "Wal-Mart: The High Cost of Low Price" von 2005). In ihrer jetzt ausgezeichneten Reportage "The Bribary Aisle" beleuchten David Barstow und Alejandra Xanic von Bertrab die kriminelle Energie, mit der es Wal-Mart zum größten privaten Arbeitgeber Mexikos gebracht hat: "Weder war Wal-Mart de Mexico das widerwillige Opfer einer korrupten Kultur, in der Bestechung eine Notwendigkeit des Geschäftemachens war, noch zahlte es Schmiergelder zu dem Zweck, Routinegenehmigungen zu beschleunigen. Vielmehr war Wal-Mart de Mexico ein ebenso aggressiver wie kreativer Bestecher, der sich für hohe Summen beschaffte, was das Gesetz eigentlich verbot. Der mit Schmiergeldern die demokratische Führung unterlief, bauliche Sicherheitsbestimmungen umging und Wettbewerber ausstach."
Archiv: New York Times