Magazinrundschau

Übermaß an Liebe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
30.04.2013. n+1 geht den Tonarten Hilary Mantels nach. The New Republic bewundert die chinesische Einfachheit des georgianischen Dichters Edward Thomas. Slate.fr sucht eine neue revolutionäre Klasse. Rumänische Filmregisseure werden auf der ganzen Welt geachtet, nur nicht in Rumänien, lesen wir in HVG. In The National Interest sucht Walter Laqueur vergeblich nach der vielbeschworenen Marx-Renaissance. Der New Yorker liest Bücher über den amerikanischen Drohneneinsatz. Der Guardian erleidet den Liebestod.

n+1 (USA), 24.04.2013

Die britische Autorin Hilary Mantel hat nicht immer historische Romane geschrieben, lernen wir von Namara Smith, die in einem längeren Text die Sprache in Mantels unterschiedlichen Romanen vergleicht. "Ihr fünfter Roman, 'Reizklima' (1994), beginnt: 'Eines Tages, als Kit zehn Jahre alt war, schnitt sich eine Besucherin in der Küche die Pulsadern auf. Sie begann gerade mit dieser kalten, schwierigen Art des Sterbens, als Kit hereinkam, um sich ein Glas Milch zu holen.' Jede Zeile beginnt und endet mit einer neutralen Formulierung - Kits Alter, ihr Glas Milch, das farblose 'sie begann gerade' - aber der Wechsel zwischen diesen banalen Beobachtungen und dem Gewaltakt im Zentrum betont die Distanz zwischen ihnen. Vor allem in Mantels frühen Romanen prägt dieser Wechsel des Ausdrucks ihre Redewendungen. ... In 'Wölfe', dem ersten ihrer historischen Romane über Thomas Cromwell, hat Mantels Prosa eine neue Tonart angenommen. Noch immer setzt sie sich aus der sorgfältigen Ansammlung indirekter Beobachtungen zusammen, doch wirkt das Bindegewebe ihrer Sätze loser, und die scharfen Formulierungen ihrer frühen Romane sind einem üppigen, beinahe Elisabethanischen Vokabular gewichen."

Während Einsatzkräfte nach dem flüchtigen Boston-Attentäter fahndeten, dachte Benjamin Kunkel über politisch motivierte Gewalt nach. Er bekennt, dass sie ihm - zumindest in der Phantasie - nicht gänzlich fremd ist: "Die freie Verfügbarkeit, auch für Verrückte, von Sturmgewehren mit großen Magazinen und die Verbrennung fossiler Energieträger weit über die Klimaverträglichkeit hinaus hängen, wie jeder weiß, mit einem Kongress zusammen, der überwiegend von Mietlingen der Waffenlobby und Ölfirmen besetzt ist. Ich könnte den ein oder anderen Senator erwürgen, wenn ich dazu imstande wäre. Nur wäre ich das nie."
Archiv: n+1

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.04.2013

Der Schriftsteller Eugen Ruge spricht am Rande des Budapester Literaturfestivals mit László J. Győri über die DDR in der Literatur: "Das (öffentliche) Bild der DDR wurde in den letzten Jahren in den Medien durch eine vereinfachte und nicht selten fragliche Darstellung gekennzeichnet: Mauer Stasi, Stacheldraht. Die Literatur vermittelt hier ein wahrhaftigeres Bild. Ich behaupte nicht, dass dies für alle Werke gilt, oder dass die Schriftsteller näher an der Wahrheit sind als andere, doch sicherlich muss die Literatur auf Programmchefs, Redakteure, oder Meinungen und Erwartungen von Außenstehenden weniger Rücksicht nehmen", sagt Ruge. Mit Ungarn will er die DDR nicht vergleichen, obwohl viele ungarische Kritiker über seinen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" meinten, er könnte auch über Ungarn sein. "Die DDR-Bürger hatten Glück, sie hatten die BRD als eine Arte 'Senior-Partner', was natürlich nicht problemlos war. Was passierte, war in Wirklichkeit keine Vereinigung. Ich sehe das viel pragmatischer, wenn ich sage, die DDR schloss sich der Bundesrepublik an, sie verschmolz mit ihr. Sie übernahm die Gesetze, die Wirtschaftsordnung und die Gesellschaftspraktiken. Die Ostdeutschen sprangen mit einem Kopfsprung ins eisige Wasser des Kapitalismus, vielleicht ging die Ausnüchterung etwas schneller als in Ungarn."

New Yorker (USA), 06.05.2013

Steve Coll stellt zwei neue Bücher von Journalisten vor, die sich mit dem heiklen Problem der von der amerikanischen Regierung angeordneten Tötung politischer Gegner befassen: "Dirty Wars" von Jeremy Scahill, Reporter bei The Nation ("Schmutzige Kriege" erscheint im Oktober auf Deutsch bei Kunstmann, hier ein Auszug in The Nation) und "The Way of the Knife" von Mark Mazzetti, der für die Times arbeitet. "Ohne juristische Überprüfung oder öffentliche Debatte haben Missbrauch und Übergriffe in gewaltiges Potenzial. In einer der beunruhigendsten Passagen seines Buchs schreibt Mazetti, dass, als sich die Anzahl der Toten in Pakistan erhöhte, Obamas Behörde einmal behauptete, die gestiegenen Drohnen-Schläge hätten keinerlei Zivilisten getötet. 'Das hatte was von einem logischen Trick', schreibt Mazetti. 'Denn in einem Gebiet, das für militante Aktivitäten bekannt war, wurden alle Männer im militärfähigen Alter als feindliche Kämpfer angesehen. Deshalb wurde dort jeder, der bei einem Drohnen-Anschlag ums Leben kam, als Kämpfer eingestuft."

Außerdem: Nicholas Schmidle geht der Frage nach, ob man der UCK, der Befreiungsarmee des Kosovo, all die "grotesken" Kriegsverbrechen, die man ihr anlastet - vor allem das Ausweiden und den Verkauf von Organen serbischer Gefangener - auch tatsächlich wird nachweisen können; im Zentrum seiner ausführlichen Reportage steht der amerikanische Radiojournalist Michael Montgomery, der mithalf, das Massaker an 41 Kosovo-Albanern durch serbische Kräfte am 14. Mai 1999 aufzudecken. Und Emily Nussbaum stellt die zweite Staffel der TV-Serie "Veep" vor.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 06.05.2013

Die Begeisterung für das klassische Tamil-Kino bringt Aravind Adiga auf die Spur von Ashokamitran, einen 81-jährigen Autor, der in "My Year with the Boss" seine Erfahrungen als Werbetexter der Gemini Studios in den 50er Jahren zusammenfasste. "Zwar ist das Studio vor vielen Jahren abgerissen worden, doch ersteht es in den Seiten dieses schmalen Büchleins vor unseren Augen wieder auf: Der Tag, an dem Chou-En Lai vorbei kam, um sich eine Musik-und-Tanz-Szene anzusehen. Der Morgen, an dem Dev Anand nach Madras geflogen kam, nur um zu erfahren, dass die Arbeiten an seinem Film zwischenzeitig abgebrochen wurden und er noch am selben Abend nach Mumbai zurückkehrte. Die Art und Weise, wie das Make-Up so dick auf das Gesicht der Schauspieler aufgetragen wurde, dass sie es scherzhaft 'Pfannkuchen' nannten. Doch ist meine liebste Vignette die, in der Vasan auf der Reise durch Calcutta auf ein Kino stößt, dass einen neuen bengalischen Film statt seiner eigenen neuen Produktion zeigt. Der Chef kriegt einen Tobsuchstanfall und lässt den Film aus dem Kino entfernen, bringt aber die Kinorollen mit zurück nach Madras. Alle versammeln sich im Studio und schauen sich immer wieder diesen bengalischen Film an. Obwohl sie ihn nicht ganz verstehen, spüren sie, dass dieser Regisseur Talent hat. Der Filmtitel lautet 'Pather Panchali'."

Ein paar wenige Texte von Ashokamitran gibt es im Archiv von Outlook India, diese Playlist versammelt Klassiker des Tamil-Kinos und "Pather Panchali" steht in voller Länge auf Youtube:

Archiv: Outlook India
Stichwörter: Youtube, 1950er, Mumbai

Economist (UK), 27.04.2013

Eine Anhörung beim Supreme Court in Michigan lässt den Economist über den Sinn und Zweck von "affirmative action" (oder "positive Diskriminierung") nachdenken und zu einem eindeutigen Plädoyer gelangen: Der Staat sollte, trotz der langen Geschichte der Segregation, "farbenblind" sein und etwa bei der Vergabe von Studienplätzen auch gegenüber Angehörigen ethnischer Minderheiten allgemein gültige Maßstäbe ansetzen: "Eine Studie fand heraus, dass an manchen amerikanischen Universitäten schwarze Bewerber, die bei den Eignungstests um 450 Punkte (bei 1600 erzielbaren) schlechter abschnitten als asiatische, dennoch die selben Chancen auf einen Studienplatz haben. Das ist weder fair gegenüber Asiaten, noch ein Anreiz für Schwarze, auf der High School zu lernen. In ihrem Buch 'Mismatch' legen Richard Sander und Stuart Taylor Indizien vor, die den Schluss nahelegen, dass 'affirmative action' die Anzahl von Schwarzen, die sich als Anwälte qualifizieren, verringert, da sie schwarze Studenten an Law Schools verweist, für die sie schlecht vorbereitet sind, sodass viele von ihnen ihr Studium abbrechen. Wären sie an weniger herausfordernde Schulen gegangen, hätten sie ihren Abschluss wohl gemacht. Auch wenn die Gruppen, die von 'affirmative action' bedacht werden, in der Regel ärmer sind als ihre Nachbarn, sind es die Individuen, die daraus Nutzen ziehen, oftmals nicht." Ausführlicher dazu auch dieser Text.

Außerdem beobachtet der Economist den Fortschritt von 3D-Printern und blickt mit Sorge auf die global steigende Jugendarbeitslosigkeit.
Archiv: Economist

New Republic (USA), 28.04.2013

Adam Kirsch stellt einige Dichter vor, von denen man hierzulande kaum je gehört hat: Georgianische Dichter allesamt, die, so T.S. Eliot einst in boshafter Stimmung, "alles streicheln, was sie anfassen". Sie liebten besonders die Natur, die sie in schwärmerischen - oft etwas zu schwärmerischen - Tönen besangen. Kirsch las jetzt ein Buch über den Dichter Edward Thomas, der zwar unter Georgianern lebte, aber selbst keiner war. Der 1917 im Ersten Weltkrieg getötete Dichter war depressiv und in vielem ein echter Modernist, meint Kirsch: "Thomas ist of ein trauriger Dichter, manchmal sogar ein selbstmitleidiger, in der großen viktorianischen Tradition des Selbstmitleids. Aber in seinen feinfühligsten Momenten weiß er, wie man Natur so beschreibt, dass ihre Heiligkeit eingefangen wird ohne sie als heilig zu beschreiben - zufrieden zu sein mit einer Erfahrung, die er nicht beherrschen oder verlängern kann. In solchen Momenten versucht Thomas gar nicht mehr, das Gedicht zu beherrschen, und er erreicht eine abklingende Einfachheit, die den Leser unwiderstehlich an chinesische Poesie erinnert. Etwas von dieser Qualität kann man sogar in einem seiner berühmtensten englischen Gedichte hören, 'Adlestrop':

The steam hissed. Someone cleared his throat.
No one left and no one came
On the bare platform. What I saw
Was Adlestrop - only the name

And willows, willow-herb, and grass,
And meadowsweet, and haycocks dry,
No whit less still and lonely fair
Than the high cloudlets in the sky.

And for that minute a blackbird sang
Close by, and round him, mistier,
Farther and farther, all the birds
Of Oxfordshire and Gloucestershire.'"

Außerdem: Cara Parks singt ein Loblied auf die Reporterin Janet Malcolm
Archiv: New Republic
Stichwörter: Sky, Malcolm, Janet

Slate.fr (Frankreich), 27.04.2013

Hysterische Stimmung macht Eric Dupin angesichts der Krise in Frankreich aus und zitiert drei historische Vrgleiche, die zur Zeit Konkjunktur haben: Befinden wir uns vor einem neuen 68, in den dreißiger Jahren oder gar vor der Französischen Revolution? Zur letzten Parallele schreibt er: "Natürlich kann man einige gemeinsame Punkte zwischen 1789 und 2013 finden. Die öffentliche Veschuldung war schon damals ein großes Thema. Aber noch mehr verbinden uns der Zorn der Bevölkerung und die Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden mit dieser weit zurückliegenden Epoche. Allerdings braucht es mehr für eine Revolution. Welches wäre denn heute die aufsteigende, dem Bürgertum zu vergleichende Klasse, die in der Lage wäre, die dekadente Elite zu verdrängen?"

"Für Wikipedia sind Frauen keine Schriftsteller wie die anderen" überschreibt Charlotte Pudlowski ihren Bericht über eine Entwicklung auf der Plattform, Autorinnen aus der Kategorie "amerikanische Schriftsteller" zu verbannen und sie in sie in eine "Untergruppe amerikanische Schriftsteller weiblichen Geschlechts" zu packen. Angeblich aus Platzgründen. Das sei nicht nur äußerst albern: "Sind Nicole Krauss, Siri Hustvedt, Jennifer Egan oder Toni Morisson etwa weniger amerikanisch, weil sie keinen Penis haben? Dieser Ausschluss von Frauen aus der Kategorie 'amerikanische Schriftsteller' hat ganz praktische Konsequenzen. Denn sucht man bei Google nach amerikanischen Autoren, ist es eben diese angeblich allgemeine, in Wahrheit jedoch höchst männliche Liste, die als erstes angezeigt wird."
Archiv: Slate.fr

Guardian (UK), 27.04.2013

"Wie kann mir dieser Antisemit nur so das Herz zerreißen?", fragt Paul Mason in einer - im Guardian eher unerwarteten - Hymne auf Richard Wagner, in der er weniger den revolutionären Impuls des "Rings" als den Humanismus und die psychologische Tiefe der späten Opern hochhält, bei den "Meistersingern", "Tristan und Isolde" oder im "Parsifal": "Die Antwort ist: Bei Wagner gibt es ein Übermaß an Liebe. Sie überkommt einen von allen Seiten und in jeder Form. Egal, was Wagner uns zu sagen glaubte, was er tatsächlich sagte, war: Liebt, wen Ihr wollt, ohne Rücksicht auf soziale Schranken, und wenn Ihr Eure Gefühle unterdrücken müsst, dann bewusst und aus höheren Gründen."

Weiteres: Andy Beckett liest gleich zwei Biografien, über Margaret Thatcher, die ihr ihre früheren Vertrauten Charles Moore und Robin Harris gewidmet haben. Viel neues Material hat er in ihnen gefunden, auch einen Hauch von Ehrlichkeit, aber - ganz wie in einem Spectator-Artikel - immer noch "eher herrschaftliches als logisches" Denken. Gemeldet wird außerdem, dass Richard Dawkins in einer Umfrage wieder zur Nummer eins unter den Weltklasse-Denkern gekürt wurde, gefolgt von dem afghanischen Ökonomen und früheren Finanzminister Ashraf Ghani auf Platz zwei und Steven Pinker auf Platz drei.
Archiv: Guardian

HVG (Ungarn), 17.04.2013

Anlässlich der internationalen Erfolge rumänischer Filmproduktionen bei namhaften Filmfestivals spricht Rita Szentgyörgyi mit Vertretern der "neuen rumänischen Welle" über Motivation, Hintergründe und die Lage der Filmbranche in Rumänien. "Die ganze Welt spricht über eine neue Welle des rumänischen Films, aber die Filmproduktion selbst liegt im Sterben", sagt der Regisseur Cristian Mungiu ( "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage", Goldene Palme und Europäischer Filmpreis 2007). "Diese internationalen Preise haben keinerlei Wirkung auf die Entscheidungsträger der rumänischen Filmbranche. (...) Mit sechs bis acht Produktionen jährlich, die im Ausland allesamt größere Zuschauerzahlen haben als in Rumänien, ist es schwer von einer Goldenen Zeit des rumänischen Films zu sprechen." Den Statistiken zufolge kommen im gesamten Land lediglich 80 Kinoräume auf 20 Millionen Einwohnern. Der Rumäne geht im Durchschnitt alle 10 Jahre ins Kino. "Unsere Filme werden meistens von Journalisten, Intellektuellen und Filmverrückten angesehen, das breite Publikum ist nicht interessiert", zitiert Szentgyörgyi den Regisseur Radu Jude und stellt damit eine Parallele mit der Lage des ungarischen Films her.
Archiv: HVG

National Interest (USA), 01.05.2013

Walter Laqueur untersucht die vielbeschworene Marx-Renaissance, findet aber nicht allzu viele Hinweise auf ihre Stichhaltigkeit. Die eigentliche ökonomische Auseinandersetzung, so meint er, läuft zwischen Anhängern von Keynes und Friedman. Woher also die vor allem in der akademischen Linken behauptet Aktualität? "Die Antwort ist wohl, dass 'Marx' zu so etwas wie einem Markenzeichen für den Wunsch nach einem radikalen Wandel geworden ist, den viele Anhänger sogenannter 'cultural studies' teilen. Mit Marxismus hat das nicht allzuviel zu tun."