Magazinrundschau

Stürme von Judasküssen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
07.05.2013. In der London Review of Books zeichnet Ian Sinclair ein aasiges Bild von der Beerdigung Margaret Thatchers. Das New York Magazine erklärt, wie für ein balloon toy von Jeff Koons der Preis von 30 Millionen Dollar gesetzt wird. In Frankreich möchte der Regisseur Michel Hazanavicius die Internetprovider für die Filmfinanzierung anzapfen. In Amerika möchte Susan Crawford die Telekoms gründlich renovieren, um endlich überall schnelles und günstiges Internet zu haben. Der Antisemitismus vergiftet alles in Ungarn, ruft in Nepszabadsag der Politiker Béla Markó. Drogenkonsum wird erst durch Informationsmangel richtig gefährlich, lernt der Guardian

London Review of Books (UK), 09.05.2013

Iain Sinclair sucht die Beerdigungszeremonie von Margaret Thatcher nach "Symbolen und Omen" ab und zeichnet dabei ein aasiges Bild: "Selten sah man ein solches Alice-im-Wunderland-artiges Getöse lokaler Stereotype an einer Stelle versammelt. Einige davon (wie Dave und Samantha Cameron) amüsierten sich offenkundig prächtig, mit Lächeln, Witzeleien und niedlichem Händchenhalten für die Fotografen. Wie Spechte verteilten die ersten Reihen Stürme von Judasküssen: Bis aufs Blut verfeindete Parteien, die dazu gezwungen waren, spitze Lippen auf kalte Wangen zu pressen. Zahnlose Füchse, die an toten Hühnern schnuppern."

In Zypern trifft es keineswegs bloß die Reichen, wenn der Staat sich an den Ersparnissen seiner Bürger bedient, erklärt James Meek am Beispiel von Panikos Demetriou, dem von 178.000 Euro nurmehr 100.000 geblieben sind: "Was die 178.000 Euro betrifft: Das ist viel Geld, wenn man es ausgeben kann. Aber es ist nicht gar so viel, wenn man 58 Jahre alt ist und versucht, davon den Rest seines Lebens auszukommen. Anders als in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten (...) ist es in Zypern gängig, sich mit einem großen, steuerfreien Pauschalbetrag zur Ruhe zu setzen, über den man nach Belieben verfügen kann. Für die Arbeiter in Zypern ist das üblich geworden."

Außerdem: Viel Verständnis bringt Richard Lloyd Parry für das Säbelrasseln Nordkoreas auf, das doch eigentlich nur an seiner Isolation leidet: "Mittels der einfachen mentalen Übung, sich in die nordkoreanischen Schuhe zu versetzen, erscheint Kims Verhalten verständlich, oftmals logisch und gelegentlich sogar vernünftig." Michael Wood stellt Joseph Loseys Film "The Servant" aus dem Jahr 1963 vor, der kürzlich frisch restauriert beim London Lesbian & Gay Filmfestival lief und "im Laufe der Jahre nichts von seinem Geheimnis eingebüßt hat" (mehr zu dem Film etwa auch in diesem Essay). Christian Lorentzen schreibt über die poröse Identität von Amerikanern in London. Seth Colter Walls liest "Middle C", das neue Buch von William Gass. Außerdem besucht Charles Hope die Barocci-Ausstellung in der National Gallery in London.


Le Monde (Frankreich), 03.05.2013

Michel Hazanavicius, Regisseur des Erfolgsfilms "The Artist“", hat die im Dezember von Vincent Maraval losgetretene Debatte um das französische Filmfinanzierungssystem neu entfacht. Entgegen Maravals These, die Gagen der Stars seien einfach viel zu hoch, sieht er ein ganzes Bündel von Problemen, einen wahren Dschungel des Filmfinanzwesens, in dem jeder nur noch die eigenen Interessen im Sinn hat. Hilfe sucht er dann aber ganz woanders - im Internet, dessen Akteure er anzapfen will: "Wir müssen akzeptieren, dass Internet Fernsehen und Fernsehen Internet ist und Konsequenzen aus diesen neuen Definitionen ziehen, vor allem für die Finanzierung unserer Werke. Wir müssen die Akteure des Netzes und ihre Funktionen semantisch neu einordnen. Ein Internetprovider ist auch ein Verbreiter von Inhalten, eine Videoplattform ein Sender, und was sind Tablets anderes als Bildschirme?"
Archiv: Le Monde
Stichwörter: Hazanavicius, Michel

New Republic (USA), 13.05.2013

Auch die USA haben ihre Probleme mit dem Service und den Preisen der Telekoms. Da könnte John B. Judis' Porträt der Aktivistin Susan Crawford und ihre aggressiven Strategien inspirierend sein. Sie hat es mit ihren Kampagnen so weit gebracht, dasss sich Telekom-Chefs nicht mehr mit ihr auf ein Podium setzen. Nun wird sie von Blogs wie BoingBoing als Chefin der Netzbehörde Federal Communications Commission (FCC) vorgeschlagen. Nötig wär's: Comcast-Kunden geben im Schnitt 153 Dollar monatlich für Internet, Telefon und TV aus, Franzosen nur 34 Dollar bei besserer Netzqualität (vielleicht hat Sascha Lobo doch recht, wenn er hier mehr staatliche Investitionen fordert?). Crawfords Strategie für die USA sähe nach Judis so aus: "Sie würde die Telekoms ebenso gründlich renovieren, wie es die New Dealers einst bei der Elektroindustrie nach Jahren der Preistreiberei und des lückenhaften Service taten. Sie brachen nationale Holdings auf, erließen strengere Regelwerke und subventionierten Strom in Regionen, die die Industrie mied. Allerdings glaubt sie, dass die Telekoms - deren Lobbyaktivitäten nur von Pharma und Versicherung übertroffen werden - solche Maßnahmen torpedieren würden."

In der Titelgeschichte berichtet Jeffrey Rosen über ein Treffen von Free-Speech-Verantwortlichen der großen Internetkonzerne (Twitter, Google, Facebook etc.) über die Frage, welche Inhalte sie zulassen und welche nicht. Eine große Gefahr für die Redefreiheit geht für Rosen von europäischen Gesetzen aus, die die Beleidigung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen unter Strafe stellt. Diese Logik setzt sich zusehends in internationalen Organisationen fort: "Bei einem Treffen in Dubai stimmte eine Mehrheit der 193 Mitglieder der International Telecommunication Union, einer Organisation der UN, einem Vorschlag der Länder China, Russland, Tadschikistan und Usbekistan zu, der ominöse 'internationale Normen und Regeln zu Standardisierung des Verhaltens von Ländern in Information und Cyberspace' vorsieht."
Archiv: New Republic

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.04.2013

Élet és Irodalom thematisiert das umstrittene Gesetz, nach dem die Ungarische Akademie der Wissenschaften bindend die Verwendung von Namen für öffentliche Plätze und Einrichtungen überprüfen soll. Personen und Begriffe, die mit totalitären Regimes assoziiert werden können, sollen nicht mehr geehrt werden. Die Soziologin Erzsébet Szalai protestiert als Akademiemitglied gegen die Instrumentalisierung der Institution. "Die Ungarische Akademie der Wissenschaften veröffentlichte vor kurzem eine Stellungnahme, in der sie auf Anfrage der Kommunen die nicht erwünschten Straßennamen auflistet. Es ist bezeichnend für die Lage des öffentlichen Lebens, dass es unter anderem Begriffe wie 'Frieden', 'Republik' oder der Name des Dichters Attila József zur Bewertung vorlagen... In einer Demokratie obliegt die Entscheidungen über die Benennung von öffentlichen Plätzen aber den Bürgern vor Ort, sowie den für ihre Entscheidungen verantwortlichen Stadt- und Gemeinderäten. Die Bürger können von unterschiedlichen Seiten Gutachten in Auftrag geben - jedoch nicht von der Akademie, die der unabhängigen Wissenschaft dient."

Guardian (UK), 04.05.2013

Sehr faszinierend findet Steven Poole, was Mike Power in seinem Buch "Drugs 2.0" über die globale Drogenmarkt berichtet, dessen Handelswege übers Internet in die Chemielabore von Shanghai (oder Albuquerque) führen - mit unsinnigsten Folgen: "Viele der derzeitigen Drogenkriege sind Informationskriege. Power dokumentiert den Aufstieg von Webseiten, auf denen Psychonauten von ihren Erfahrungen mit speziellen Zusammensetzungen berichten oder die Zuverlässigkeit von Onlinehändler einstufen (diese Seiten retten unbestreitbar Leben). User wissen, dass offzielle Drogenberatungen - zum Beispiel die britische Helpline Talk to Frank - schulmeisternd und unzuverlässig sind. Wie Power zeigt, nehmen die Leute jedenfalls 'Drogen, von deren Existenz die Behörden nicht einmal wissen, und zwar auf Arten, die sie sich nicht vorstellen können'. Dabei kriminalisiert das amerikanische Gesetz, das nicht nur die aktuellen Zusammensetzungen, sondern auch mögliche chemische Verwandte verbietet, auch das Angebot von Informationen - über die Wirkung der Droge und eine sichere Dosierung. Das macht Drogenkonsum gefährlicher."

Die in London lebende syrische Schriftstellerin Samar Yazbek widerspricht dem Eindruck, die Rebellion in ihrem Land sei von Islamisten gekapert worden: "Letztes Jahr im Juli kehrte ich zurück in den Norden, in das Dorf Nanash nahe Idlib. Dort sah ich zum ersten mal das wahre Syrien. Die Angriffe gingen weiter. Scharfschützen waren über das gesamte von den Rebellen kontrollierte Gebiet verteilt, an allen Straßen befanden sich Checkpoints der Freien Syrischen Armee. Von extremistischen Islamisten waren keine Anzeichen zu erkennen. In Städten wie Saraqeb hörte man in den Straßen die Gedichte von Mahmoud Darwish und Muthafar al-Nawab oder Lieder von Liebe und Krieg."

Außerdem bereitet uns Sarah Churchwell auf Baz Luhrmanns bald in die Kinos kommende Gatsby-Verflimung vor.
Archiv: Guardian

New York Magazine (USA), 13.05.2013

Sehr unterhaltsam und informativ liest sich Carl Swansons Porträt über Jeff Koons, der demnächst zwei Ausstellungen in den angesagtesten New Yorker Galerien und eine Retro im Whitney Museum hat. Er besucht ihn in seinem Studio ("Da sitzen Typen vor Computern mit 3-D-Software gegenüber dem Schaummodell einer Ballerina-Statue, die er in Stein meißeln will - mit Lasern, damit das filigrane Tutu ganz genau rauskommt"). Sammler spielen verrückt, und er beherrscht den Markt: "Der Kreis der Sammler und Händler ist so klein, dass er von außen als abgekartetes Spiel erscheinen mag, in dem ein schlechter Deal viel wervoller sein kann als ein guter. Kaufst Du ein riesiges seiner balloon toys für 30 Millionen Dollar, magst Du ein bisschen mehr ausgegeben haben, als du ursprünglich vorhattest. Aber du hast den neuen Wert des Werks festgelegt und somit den Wert aller anderen balloon toys in deiner Sammlung gesteigert. Und das ist gut so, denn es gibt nicht sehr viele Leute, die 30 Millionen Dollar für ein balloon toy ausgeben können und Spaß daran haben, die Marktpreise zu setzen."

Nepszabadsag (Ungarn), 05.05.2013

Der Antisemitismus vergiftet alles in Ungarn, sagt der Politiker und Autor Béla Markó im Gespräch und vergleicht die Reaktion der Rumänen auf den Nobelpreis für Herta Müller mit der der Ungarn auf den Nobelpreis für Imre Kertész: Müller "emigrierte während des Kommunismus, sie erhielt den Nobelpreis als deutsche Schriftstellerin. Die Reaktion der Rumänen war nach einer kurzen Verwirrung klar: Man machte sie zu einer der ihren. Imre Kertész ist ein ungarischer Schriftsteller, er schreibt auf Ungarisch, er hat eine ungarische Identität, auch wenn er heute sehr stark in seine deutsche Umgebung eingebettet ist. Einer solchen Einvernehmlichkeit wie bei Müller hätte es in seinem Fall gar nicht bedurft. Man hätte sich einfach als Ungar freuen können. Man hätte Ungarn damit in Europa beliebter, bekannter machen können. Genau der Gegenteil ist passiert, man hat angefangen, gegen Juden zu hetzen und all die Schweinereien begannen."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Kertesz, Imre, Müller, Herta

Film Comment (USA), 03.05.2013

Quentin Tarantinos, gelinde gesagt, kritische Äußerungen über die Westernfilme von John Ford, denen er in diesem Gespräch eine üble rassistische Indianer-Darstellung ankreidet, kann Kent Jones nicht widerspruchslos hinnehmen. Nicht nur, weil Fords Bilder der amerikanischen Ureinwohner, wie Jones kenntnisreich belegt, weit differenzierter sind als Tarantinos abwatschender Einwurf es erahnen lässt, sondern auch, weil eine rein moralische Einschätzung selbst noch Fords heikleren Filmen künstlerisch unrecht tut: "Gibt es einen anderen Filmkünstler geben, der so tief in die schmerzhaften Widersprüche zwischen Einsamkeit und der Gemeinschaft oder die Zerbrechlichkeit menschlicher Bündnisse und Arrangements vorgedrungen ist, so habe ich ihn nicht gefunden. Ich denke, wer den Blick auf 'Stagecoach', 'Rio Grande' oder 'The Searchers' legt und darin absolut nichts anderes sieht, als einen Beleg für die Propagierung angelsächsischer Überlegenheit, der wendet seinen Blick vom Kino selbst ab. In 'Stagecoach' und 'Rio Grande' entsprechen die 'Indianer' dem platonischen Ideal des Gegners - jedes Zeitalter verfügt über ein solches, dasselbe Element findet sich im gesamten Verlauf der Geschichte des Dramas wieder und in zahllosen anderen Westernfilmen."
Archiv: Film Comment

Economist (UK), 04.05.2013

Sehr interessiert hört Economist den Reform- und Wohlstandsversprechungen des neuen chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping zu, nicht ohne dabei auf die Risiken eines neuen Autoritarismus hinzuweisen: "Eines davon ist der Nationalismus. Ein fest verankerter Sinn für den eigenen, historischen Opferstatus bedeutet, dass die Rhetorik einer wiederaufstrebenden Nation nur allzu schnell sehr hässlich werden könnte. Während die Scharmützel und Provokationen in den umliegenden Meeren zunehmen, brauchen patriotische Mikroblogger keine Extra-Aufforderung, um nach einer demütigenden Lektion für die Japaner zu verlangen ... Das andere Risiko besteht darin, dass der chinesische Traum am Ende der Partei mehr Macht verleiht als der Bevölkerung ... Auch wenn der chinesische Traum eine kommunistische Rhetorik vermeidet, hat Xi zu erkennen gegeben, dass seiner Meinung nach die Sowjetunion zusammenbrach, weil die kommunistische Partei dort die ideologische Orthodoxie und strikte Disziplin verlassen hat. 'Der chinesische Traum', sagte er, 'ist ein Ideal. Kommunisten sollten ein höheres Ideal haben und das ist der Kommunismus'."

Weiteres: Eine Vorstellung der gerade in der Tate Modern gezeigten Künstlerin Ellen Gallagher, die "für ihre Kunst aus Science Fiction, Meeresbiologie und schwarzer Geschichte schöpft und auf ganz unterschiedliche Arten Tonpapier, Bleistift, Knetmasse, Druckwaren, Radiergummi, Blattgold und Heliogravüre verwendet". Von den Herausforderungen (und den lockenden traumhaften Renditen) der Musical-Industrie erfahren wir hier. Außerdem liest der Economist neue Bücher über Maggie Thatcher sowie, an dieser Stelle, über die Zukunft und das Netz, darunter Eric Schmidts und Jared Cohens "Vernetzung der Welt".
Archiv: Economist

New Yorker (USA), 13.05.2013

Kelefah Sanneh porträtiert den amerikanischen Ethnologen David Graeber ("Schulden") und sein neues Buch "The Democracy Project" (hier mehr) als Anarchisten, der von "grimmigen und freudlosen" Linken so weit entfernt ist wie von Kapitalisten. Oder doch nicht? "Es gibt eine Spur von Askese in seiner Vision. Teil von Graebers Motivation, 2011 zum Bowling Green hinunter zu wandern, war seine Opposition gegen Bürgermeister Bloombergs 'drakonische Austeritätsbudgets', wie Graeber sie nannte. Graeber will moderne Schulden dämonisieren ohne die Schuldner dabei mit zu dämonisieren. Doch die Sprache wirtschaftlicher 'Austerität' zeigt eine verblüffende Analogie zu seiner Vision einer post-Schulden-Gesellschaft aus Menschen, die gelernt haben, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu leben."

Außerdem: Dexter Filkins berichtet ausführlich über die Debatte, die im Weißen Haus über Syrien geführt wird.
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Askese, Graeber, David