Magazinrundschau

Das Konzept eines Gottes

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.06.2013. Jawohl, es ging am Taksim auch um Alkohol und zwar zurecht, meint Atlantic. In Eurozine bezweifelt Timothy Snyder, dass Antisemitismus der Grund für den Holocaust war. GQ erzählt die Geschichte von Kim Jong-ils Sushi-Meister. Elet es Irodolam ahnt, warum wütende Antikommunisten in Ungarn an der Aufarbeitung des Kommunismus nur mäßig interessiert sind. The Believer lässt den Comic-Hexenmeister Alan Moore zu Wort kommen.

Believer (USA), 01.06.2013

Peter Bebergal unterhält sich ausführlich mit dem verschrobenen Comic-Hexenmeister Alan Moore, der dafür berüchtigt ist, mit seinen wahnwitzig konstruierten Werken auch den populären Comic abseits der literarisch ambitionierten Graphic Novel auf Niveau gebracht zu haben und der Comicindustrie spinnefeind gegenüber zu stehen. Im Grunde seines Herzens versteht er sich als Magier, wobei Kunst und Magie für ihn eigentlich dasselbe sind: "Schon sehr früh merken wir, dass die Wörter, denen wir lauschen, unser Bewusstsein verändern und es an Orte bringen können, von denen wir nie geträumt hätten, an Orte, die nicht existieren. Wenn auf dieser Verzauberung die Erschaffung der Götter, der Mythologien oder eine gewisse Art praktischer Magie fußt, so glaube ich, dass man damit im Grunde Meta-Fiktionen schafft. Man schafft Fiktionen, die so komplex und so selbst-referenziell sind, dass sie fast schon lebendig scheinen. Das wäre dann eine meiner Definitionen, was ein Gott sein könnte. ... In ontologischer Hinsicht ist die Erschaffung eines metaphysischen Wesens, bis zu einem gewissen Grad, das metaphysische Wesen selbst. Wenn Götter und Entitäten erdachte Wesen sind - und das sind sie meines Erachtens offensichtlich - dann ist das Konzept eines Gottes Gott. Ein Bild eines Gottes ist der Gott."

Außerdem erzählt Alex Mar die nicht minder berauschende Geschichte des iranisch-amerikanischen Transhumanisten Fereidoun M. Esfandiary (besser bekannt unter dem Namen FM-2030), dessen toter Körper seit 13 Jahren auf Eis liegt, bis sich seine Hoffnung erfüllt, eine transhumane Existenz eingehen zu können: FM-2030 zufolge sollte man "die menschliche Evolution in zwei Phasen unterteilen: Zunächst die 'kreatürlich-menschliche', in der wir uns jetzt, determiniert von 'biologischen Zufällen', die uns hervorbrachten, befinden. Und schon bald die 'post-kreatürliche', die wir erreichen, wenn wir weiterhin über unsere 'evolutionären Ursprünge hinauswachsen' und unsere biologischen Grundlagen und die Grenzen der Welt, in der wir leben, manipulieren können."
Archiv: Believer

Rue89 (Frankreich), 10.06.2013

Der bekannteste französische Medienkolumnist, Daniel Schneidermann, bekennt seine Bewunderung für den Whistleblower Edward Snowden: "Er kennt die Risiken, die er eingeht. Er weiß, dass er ein lebenslanges Exil in Hongkong riskiert, in einem Hotelzimmer, das kein bisschen komfortabler ist als ein Zimmer in der ecuadorianischen Botschaft in London und kaum komfortabler als eine Zelle in einem amerikanischen Militärgefängnis. Die Alternative ist die Auslieferung in die USA, oder der Zugriff der chinesischen Regierung. Er weiß es und steht aufrecht. Er will weder Ruhm noch Geld. Er denkt, dass er getan hat, was er tun musste, denn es ist nicht anständig, die Bürger auszuspionieren."

Ebenfalls nicht unfeierlich: Pierre Haskis Hommage auf die beiden französischen Journalisten, die in Syrien vermisst werden, Didier François und Edouard Elias: "Für viele Medien hat sich das Risiko-Interesse-Verhältnis nicht mehr gelohnt, sie haben ihre Journalisten aus Syrien abgezogen. In den Medien ist eine Syrien-'Müdigkeit' zu verspüren, die auch dazu beiträgt. Dabei gibt es Gegenbeispiele, etwa die Artikel Jean-Philippe Rémys und seines Fotografen Laurent Van der Stockt, in Le Monde, die den Beweis für Giftgaseinsätze und damit ein neues Streitthema brachten."
Archiv: Rue89

Eurozine (Österreich), 11.06.2013

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder arbeitet weiter mit starken Thesen daran, die Geschichte des Holocausts umzuschreiben und bezweifelt jetzt sogar, dass der Antisemitismus die eigentliche Ursache für die Ermordung der europäischen Juden war: "Wenn Antisemitismus einen Holocaust verursachen könnte, dann hätte es in Deutschland schon einen vor 1939 geben müssen. Aber obwohl einige hundert Juden getötet wurde und ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung zwischen 1933 und 1939 emigrierte, kam keine Aktion im Vorkriegsdeutschland einem antijüdischen Massenmord gleich. Auf jeden Juden, der in den dreißiger Jahren in Deutschland getötet wurde, kamen dagegen hundert, die in der Sowjetunion getötet wurden. Der Holocaust traf zuerst die Juden, die zuvor keiner systematischen Diskriminierung und Separierung unterworfen waren. Sie wurden getötet, als die deutsche Herrschaft an die Stelle der sowjetischen trat."
Archiv: Eurozine

Gentlemen's Quarterly (USA), 01.07.2013

Kein Ausländer kam dem nordkoreanischen Regime so nah wie der japanische Sushi-Meister Kenji Fujimoto. Pulitzerpreisträger Adam Johnson erzählt die Geschichte des Manner, der als Koch begann und im Laufe der Jahre zu Kim Jong-ils Vertrauensperson, Hofnarr und Spielgefährten wurde - ohne viel über seinen Vorgesetzten zu wissen: "Fujimoto wusste nicht, dass das Geld für die Luxusartikel aus Zwangsarbeitslagern stammte oder dass die Männer, die er bekochte, Kims Spezialeinheiten angehörten: Geldfälschung, Waffenhandel, Drogenherstellung. Er hatte keine Ahnung, dass die schönen Mädchen in fernen Ländern ihren Familien geraubt worden waren und dass ihre einzige Aufgabe darin bestand, Kims Wünsche zu erfüllen. Er konnte nicht wissen, dass Menschen, die verschwanden, in kommunale Arbeitslager, in Umerziehungscamps oder kwan-li-so Gulags gebracht wurden, vollkontrollierte Gebiete, aus denen niemand zurückkehrte."
Stichwörter: Geld, Gulag, Waffenhandel

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.06.2013

Zum dritten Mal wurde ein Gesetzentwurf der grünen Opposition zur Aufklärung der Geschichte der Staatssicherheit durch Enthaltung der Regierungsparteien verhindert. János Széky weist auf den Seiten von Élet és Irodalom auf grundlegende Mängel der seit 1994 geltenden Regelung hin und sucht nach möglichen Erklärungen für die ablehnende Haltung der Regierungsparteien. Das bisher geltende "Gesetz von 1994 zur Durchleuchtung der Arbeit der Staatssicherheit wurde offensichtlich von erfahrenen Mitarbeitern der Dienste selbst erarbeitet. So kann praktisch bei keinem Fall eine frühere IM-Tätigkeit nachgewiesen werden. (...) Die aktuelle Mehrheit möchte auch über sich selbst nicht alles wissen. Listen mit ehemaligen Spionen werden nicht veröffentlicht. Sicherlich sollen die eigenen Leute mit Stasi-Vergangenheit geschützt werden. (...) Solange aber die Akten und Dokumente nicht öffentlich zugänglich sind, bleibt dieser Teil der Geschichte eine unerschöpfliche Schatztruhe für Erpressungen. (...) Der mit massiven Enthaltungen verhinderte Gesetzentwurf zielte auf Transparenz. Wütende Antikommunisten enthielten sich der Stimme. An dieser Stelle endete offenbar ihr Antikommunismus."

The Atlantic (USA), 05.06.2013

Es geht bei den Protesten am Taksim-Platz sehr wohl um westlichen Lebensstil und ganz konkret um das Recht auf Alkohol, meint der türkische Autor Cinar Kiper im Atlantic. Es trinken zwar allenfalls 20 Prozent der Türken ab und an Alkohol, aber das ändert nichts am erbitterten Kampf Tayyip Erdogans: "Einen großen Sprung zu einer 'islamisch korrekteren' Gesellschaft machte Erdogans Partei AKP erst vor zwei Wochen, als weitere Verschärfungen des Alkohol-Gesetzes erlassen wurden. Es war eine 17-stündige Marathon-Sitzung des Parlaments mit Beleidigungen, Streit zwischen Parlamentariern und kollektivem Auszug aller Fraktionen außer der AKP. Das Ausmaß an Spannung und Gebrüll beweist die Entschlossenheit der Religiösen und die Furcht der Säkularen".
Archiv: The Atlantic

Open Democracy (UK), 07.06.2013

Brutale Gentrifizierung mit Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile (mit Vorliebe der Roma und anderer Minderheiten) einerseits und eine religiöse Verschärfung sind für Kerem Oktem die Ursachen für die Proteste in der Türkei: "Durch eine Schulreform wurde die Zahl der Religionsstunden an den Schulen erhöht, und viele Schüler werden gezwungen, religiöse Schulen zu besuchen, obwohl ihre Elltern dagegen sind. Das Recht auf Abtreibung wurde eingeschränkt, während die Sozialpolitik auf höhere Geburtsraten und ein Bild der Frau als Mutter und nicht so sehr als gleichberechtigte Person zielt. Der Akoholkonsum wurde gesetzlich weiter erschwert und mit hohen Steuern belegt."

Für Charles Turner ist die Auseinandersetzung in der Türkei mehr als ein Streit zwischen Religiösen und Säkularen. Er vergleicht Erdogan mit Margaret Thatcher, den Kaczynski-Brüdern und Wladimir Putin, die sich alle als Sprecher der "einfachen Leute" mit großen Familien begriffen: "Diese Version der unteren Mittelklasse mit bescheidenen Ansprüchen auf Respektabilität, kombiniert mit Furcht vor und Feindschaft gegen die Künste und ihre Repräsentanten in der liberalen Intelligentsia, war eine Trumpfkarte für Margaret Thatcher, sie brachte den katholisch-populistischen Kaczynskibrüdern einigen Erfolg und Putins asketisch-kommunistische Erziehung macht es ihm leicht, westliche Dekadenz dort zu sehen, wo andere kulturelle Offenheit sehen. Erdogan hat diese antikulturelle Karte in den letzten zehn Jahren immer wieder ausgespielt."

Open Democracy hat ein ganzes Dossier zur Türkei zusammengestellt. Außerdem befassen sich zwei Artikel (hier und hier) mit den Unruhen in Schweden.
Archiv: Open Democracy

Economist (UK), 08.06.2013

Erdogan - Sultan oder Demokrat, fragt sich der Economist mit sorgenvollem Blick Richtung Istanbul: "Einige Beobachter sehen im türkischen Aufstand (siehe auch dieser Artikel) einen neuen Beweis dafür, dass Islam und Demokratie sich nicht vertragen. Doch Erdogans religiöse Überzeugungen sind nicht der entscheidende Punkt. Die wahre Lektion, die man aus den Ereignissen ziehen kann, betrifft den Autoritarismus: Die Türkei wird einen Demokraten aus der Mittelschicht, der sich wie ein ottomanischer Sultan benimmt, nicht hinnehmen. ... Erdogan erfreut sich noch immer großer Popularität, insbesondere unter den kleinen Gewerbetreibenden und der konservativen Landbevölkerung Anatoliens, die den Großteil der Millionen Zugezogener der letzten Jahre in den Städten stellt. Angesichts einer nutzlosen Opposition dürfte die AK wohl neuerlich siegreich aus einer Wahl hervor gehen. Und doch gibt Erdogan seit langem Anlass zur Sorge. Einmal hat er die Demokratie mit einem Zug verglichen, aus dem man aussteigt, sobald man am Zielbahnhof angekommen ist. Dem kosmopolitischem Bürgertum in Istanbul und Izmir begegnet er mit Abscheu. Die religiösen Wurzeln seiner Partei lassen viele eine Islamisierung von Atatürks einstmals stolz säkularem Staat fürchten."

Außerdem berichtet der Economist von der Biennale in Venedig, wo, anders als in den vergangenen Jahren, die Hauptschau im Gegensatz zu den Pavillons mit "wirklich überraschender Kunst" die eigentliche Attraktion darstellt.
Archiv: Economist

ESPN (USA), 05.06.2013

Seit Anfang des Jahres häufen sich rassistische Vorfälle in italienischen Fußballstadien. Wright Thompson sucht nach der Ursache für den Hass, der Mario Balotelli oder Kevin-Prince Boateng Woche für Woche entgegenschlägt, und findet sie in einer frustrierten Jugend ohne Zukunft: "In Amerika tendiert die intellektuelle, wütende Jugend nach links. In Italien gibt es sicherlich auch diesen Linkstrend, aber es gibt auch einen beträchtlichen Teil der frustrierten Jugend, der nach rechtsaußen strebt. Das ist seit mehreren Generationen der Fall, doch die heutigen Neofaschisten marschieren nicht nur auf der Straße. Sie skandieren auch im Stadion. Die Kurve ist ihr politisches Megaphon."
Archiv: ESPN
Stichwörter: Prince

Brooklyn Rail (USA), 10.06.2013

In einem lesenswerten Gespräch mit Andrew Lampert bekräftigt der österreichische Experimentalfilmemacher Peter Kubelka seinen Anspruch auf die materielle Eigenständigkeit des analogen Filmmaterials (siehe auch unsere Magazinrundschau vom 18.9.2012): "Mir geht es nicht darum, ob das eine besser als das andere ist. Ganz und gar nicht. Digitalvideo ist ein fantastisches Medium. ... Doch ich kam bald dahinter, dass die Bildkomposition das schwächste Element des Kinos ist. Jeder Maler kann das besser: er hat alle Zeit der Welt, um seine Bildkomposition anzufertigen. Doch wo liegen die Stärken des Kinos? Wo die von Digitalvideo? Und da stieß ich auf völlig unterschiedliche Komponenten: Die Stärke des Digitalen liegt in seiner Lebendigkeit. Funktioniert bestens. Ich kann Sie filmen oder Ihr Bild digitalisieren und dabei gleichzeitig auf das Ergebnis schauen oder es rauf zum Mond schicken. Das bedeutet Freiheit. Wenn man etwas mit Film dreht, weiß man nicht, was sich auf dem Negativ befinden wird, man muss das Material erst entwickeln. ... Doch wenn Digitalvideo daherkommt und mir einen Experimentalfilm verkauft, den ich mir heute ansehen kann, als ob es Kino wäre, dann handelt es sich um eine billige Kopie. Es ist eben nicht Kino."
Archiv: Brooklyn Rail

Times Literary Supplement (UK), 10.06.2013

Mit einem bösen Verriss quittiert Terry Eagleton den Briefwechsel von Paul Auster und J.M. Coetzee, in dem sich die beiden Großautoren über Rotkohl, Radfahren und Sex mit der Mutter unterhalten: "Coetzees Bemerkungen über die aktuelle Wirtschaftskrise sind nicht nur eigenwillig, sondern einfältig. Mit der Weltwirtschaft sei eigentlich nichts weiter passiert, schreibt er sorglos an Auster, als dass sich ein paar Statistiken geändert haben. Die Bank von England dürfte von diesem Argument nicht sonderlich beeindruckt sein, noch weniger diejenigen, die von den Finanzgangstern um ihr Hab und Gut gebracht worden sind. Seiner zurückhaltenden Antwort nach zu urteilen, ist es auch Paul Auster nicht, allerdings legt er seinem berühmten Kollegen gegenüber zuviel Respekt an den Tag, um ihm dies auch deutlich zu sagen. Seltsamerweise schlägt Coetzee daraufhin vor, man müsste ein ganz neues Wirtschaftssystem schaffen, um die Zahlen wieder zu korrigieren - eine Logik, die sein Briefpartner weise unbeachtet lässt. In Wahrheit hat keiner von beiden Ahnung von Wirtschaft, und es gibt keinen Anlass zu glauben, dass die gekonnte Handhabung von Metaphern solche Einsichten gewährt."

Bookforum (USA), 11.06.2013

Bevor James Agee und Walker Evans ihr berühmtes Buch "Preisen will ich die großen Männer" veröffentlichten, waren sie 1941 für Fortune zu den Baumwollpflückern nach Alabama gereist. Ehrfurchtsvoll liest der Reporter John Jeremiah Sullivan die ursprüngliche Reportage "Cotton Tenants", die auf fünfzig Seiten von unterernährten, erschöpften und armen Menschen handelt und die das Magazin damals nicht drucken wollte: "Agee und Evans verbrachten zwei Monate in Hale County, Alabama, und lebten mit drei verschiedenen Pächterfamilien. Oder vielmehr lebte Agee mit ihnen, Evans lebte wohl hauptsächlich in einem örtlichen Motel. Agee aber wollte mehr als nur die Leute interviewen. Er wollte sich mit ihnen verbinden, nicht als einer von ihnen, sondern wie ein unsichtbarer Mann, ein geheimer Agent, der für jeden sichtbar dasitzen würde. Es sollte eine neue Art eintauchender Journalismus werden, eine Reportage wie Zola sie geschrieben hätte (die Einrichtung von Agees Farmhäusern erinnert an nichts so wie an die Bergarbeiterhütten in 'Germinal')."

Astra Taylor stellt Ethan Zuckermans Buch "Rewire" vor, der für eine neue Vernetzung plädiert, denn bisher habe uns das Internet nicht kosmopolitischer, sondern provinzieller gemacht: "Wir erfahren, was wir wissen wollen, auf Kosten dessen, was wir wissen müssen. Während wir auf virtuelle Communities stoßen, die unserer Neugier und unseren Eigenheiten entsprechen, drängt uns kaum etwas über die Komfortzone hinaus oder in etwas Unbekanntes, selbst wenn das gravierende Auswirkungen auf unser Leben haben könnte."
Archiv: Bookforum

MicroMega (Italien), 03.06.2013

Ende Mai haben wir auf einen Artikel in Micromega über den Skandal der Abtreibungen in Italien hingewiesen: Frauen finden kaum mehr einen Arzt, der den Eingriff vornimmt, weil so gut wie alle Ärzte aus "Gewissensgründen" - in Wahrheit wegen Drucks, der auf sie ausgeübt wird - keine Abtreibungen mehr vornehmen wollen. Nun greift die Journalistin und Feministin Maria Mantello in die Debatte ein: "Es ist an ein Urteil der Corte Costituzionale von 1975 zu erinnern: Wenn zwei Rechtsansprüche einen unauflösbaren Konflikt zwischen zwei Betroffenen schaffen, dann darf das Gesetz nicht einer der beiden Seiten einen einseitigen Schutz geben und die andere benachteiligen, so wie es heute in der Praxis geschieht, wenn man bedenkt, dass die Gewissensgründe der Ärzte regelmäßig über dem Recht der Frauen stehen, selbstverantwortlich über ihre Mutterschaft zu entscheiden. Stellen wir uns einen Zeugen Jehovas als Arzt vor, der aus Gewissensgründen eine Bluttransfusion bei einem Patienten ablehnte: Was gäbe es für ein Geschrei!"
Archiv: MicroMega

Ray (Österreich), 10.06.2013

Zum 50jährigen Jubiläum der Deutschen Kinemathek entdeckt die Institution auch ihren Gründer - den Regisseur und Sammler Gerhard Lamprecht - in Form einer dreibändigen Buchedition wieder. Das österreichische Filmmagazin Ray hat die beiden Autoren Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen für ein ausführliches und im Wortlaut transkribiertes Gespräch an einen Tisch gesetzt, in dem es unter anderem um die Herausforderungen geht, sich dem Werk des oft als Handwerker abgetanen Regisseurs neu zu öffnen und dessen ästhetische Besonderheite jenseits von Autorenfilmerqualitäten zu würdigen. Das war gar nicht so leicht, bekennt Jacobson, der sich die Lamprecht-Filme zusammen mit den Kollegen ansah. Er war überrascht, "dass das Vorurteil, das in der bisherigen Bewertung von Lamprechts Filmen und Werk allgemein herrschte: 'na ja, Handwerker, mäßig interessant', um es mal ganz vorsichtig zu formulieren, oder: 'langweilig' - das ist ja ein Begriff, den ich problematisiere in meiner Darstellung -, dass dieses Vorurteil in den Köpfen meiner Mitseher so manifest war, dass sie davon nach meinem Eindruck auch nicht los kamen. Das Stöhnen beim Anschauen war geradezu aufreizend".
Archiv: Ray

HVG (Ungarn), 10.06.2013

Anlässlich der Premiere des Dokumentarfilms, "Tartótiszt" (Führungsoffizier) von Ágota Varga befasst sich Gábor Murányi in der Wochenzeitschrift HVG mit der Stasi-Aufarbeitung in Ungarn. Der ehemalige Führungsoffizier begegnet in dem Film Menschen, die von seinen Agenten überwacht wurden. "Der Protagonist hat eine gewöhnliche Karriere im Innenministerium. (...) Der Historiker Gábor Tabajdi sagt hierzu: 'Es wäre irreführend zu denken, dass die Mitglieder der politischen Polizei des Kádár-Regimes als 'sozialistische James Bonds' ihre Arbeit erledigten. Diese kam eher der bürokratischen Tätigkeit in einem sozialistischen Großbetrieb nah. Selbst eine Lockerung der strikten 'zivilen Kleidervorschriften' blieb aus, obwohl bei 30 Grad Hitze die Mitarbeiter der Staatssicherheit leicht erkennbar waren, denn nur diese trugen in der Stadt Jackett, Hemd und Krawatte'."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 27.05.2013

In einer lesenswerten Reportage, die allerdings gerade von den Ereignissen überholt worden ist, beschreibt George Packer, der in den siebzigern in Palo Alto zur Schule ging, wie sehr sich die Gegend, die mal Mittelklasse, egalitär, angenehm und etwas langweilig, aber auch politisch bewusst war, durch die IT-Industrie in Silicon Valley verändert hat. "Der Druck, der aus verschiedenen Richtungen im Valley entsteht - seine Arbeitsethik, Statusbewusstsein, Idealismus, Gier - war perfekt zusammengefasst in einer Anzeige für die Universität von San Francisco, die ich auf einem öffentlichen Bus sah: 'Werde rasend erfolgreich, ohne ein Idiot zu werden, den niemand mag. Ändere die Welt von hier aus.' Die IT-Industrie, die sich selbst von der Community abgesondert hat, mit der sie zusammenwohnt, hat die Bay Area transformiert, ohne von ihr verändert zu werden - in gewisser Weise, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. In der ganzen Geschichte von Silicon Valley haben die Manager einen libertären Instinkt an den Tag gelegt, so weit wie möglich von Politik und Regierung entfernt zu bleiben."

Den Vorgängen rund um die NSA-Spionageskandale hat der Perlentaucher eine eigene Presseschau gewidmet.
Archiv: New Yorker