Magazinrundschau

Köstliches Tabu

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
18.06.2013. Bloomberg besucht das nordkoreanische Kunststudio Mansudae. Ungarn zählt zu den unreligiösesten Ländern Europas, meldet Elet es Irodalom. Eurozine schmeckt eine kräftige Dosis Guy Debord in den Reden der heutigen russischen Opposition. Pitchfork lernt von Pussy Riot den größten Unterschied zwischen den USA und Russland. Granta erliegt den Verlockungen indischer Eis-Lollies. Der New Statesman feiert die Dichterin Charlotte Mew, die London Review den Fotografen Garry Winogrand, Hazlitt den Comickünstler Gengoroh Tagame und die New York Times den Maler James Turrell.

Bloomberg Businessweek (USA), 06.06.2013

Das nordkoreanische Mansudae Kunststudio führt Aufträge für Monumentalskulpturen aus, vom Frankfurter Märchenbrunnen bis zum Monument de la Renaissance africaine (Bild) in Dakar. Bei letzterem erwies sich die Zusammenarbeit allerdings als konfliktreich, berichtet Caroline Winter: "Senegals Gewerkschaften protestierten gegen die Entscheidung von Präsident Abdoulaye Wade, ausländische Arbeit zu importieren, während die Arbeitslosigkeit des Landes bei fast 50 Prozent lag. Viele nahmen auch Anstoß an der Mutterfigur der Statue, die, in einen kaum existenten Hauch von Stoff gehüllt, die muslimische Bevölkerungsmehrheit repräsentieren soll. Wade war wiederum entsetzt, als sich herausstellte, dass die Gesichter der Statuen koreanisch aussahen - ein wiederkehrendes Problem von Mansudaes internationalen Installationen." (Im Februar erschien bei BrandEins ebenfalls eine Reportage über das Mansudae Kunststudio.)

Elet es Irodalom (Ungarn), 14.06.2013

Wie religiös sind die Ungarn? Viel weniger als man glaubt, lernt die Soziologe Mária Vásárhelyi aus den Ergebnissen der Volksbefragung von 2011. So spreche sich eine Mehrheit gegen das neue Kirchenstatusgesetz und gegen die Verteilung von Steuergeldern an ausgewählte Kirchen aus und stelle den obligatorischen Religionsunterricht an den Schulen Frage: "Die derzeitige ungarische Regierung positioniert sich stets gegen den säkularen Staat, sie hebt die patriotische Kraft des Christentums hervor und verunglimpft das heutige Europa - im Gegensatz zu Ungarn - als religionsfeindlich, als Friedhof der christlichen Werte. Sie kann sich nun rühmen, dass während ihrer Amtszeit der Anteil der Menschen, die sich einer der historischen Religionen zugehörig fühlen, in einer nie dagewesenen Weise zurückging, die Verweltlichung Ungarns geht ununterbrochen weiter. (...) Nur als Vergleich: in Italien und in Polen bekennen sich mehr als 90 Prozent, in der Slowakei 84 Prozent, in Österreich 83 Prozent, in Spanien 76 Prozent, in Deutschland 63 Prozent der Gesellschaft dazu, Mitglied in einer Religionsgemeinschaft zu sein. In Ungarn sind es 52 Prozent. Das bedeutet, dass Ungarn im Jahre 2011 unreligiösesten Ländern Europas zählt."

Auch der linke Philosoph Miklós Gáspár Tamás mag keine europäischen Werte. Was soll das überhaupt sein, fragt er. "Die ungarische liberale Opposition versteht darunter die Werte der liberalen Demokratie. Die Autorität des reichen Westens, des 'erfolgreichen' Europas, als kulturgeografisch umschriebene Region, soll eine moralisch-politische Debatte über die Organisation der Gesellschaft ersetzen."

Im Interview mit Eszter Rádai erklärt Bálint Magyar, ehemaliger Bildungsminister Ungarns, wie der postkommunistische Mafiastaat funktioniert: "Nach der Logik des Mafiastaates werden zuerst autonom besetzte politische und gesellschaftliche Positionen liquidiert, das Parlament wird zur Scheinvertretung, die durch den Paten abgesegnete, nach individuellen Bestellungen passende Gesetze verabschiedet. (...) Es folgt die Verstaatlichung im Bereich Kultur und Bildung: Die Pädagogen werden im 'Stand der Diener' organisiert, die Autonomie der Universitäten wird systematisch abgebaut. Die staatlichen und kommunalen Kulturinstitutionen sind bereits beherrscht, die restlichen lässt man verhungern. (...) Eine totale Stille, wie in einer klassischen Diktatur, wird nicht benötigt. Es reicht, wenn kritische Medien wirtschaftlich in eine prekäre Situation gebracht werden oder sichergestellt wird, dass sie außerhalb einer identifizierbaren gesellschaftlichen Gruppe, keine Gehör finden können."

Vanity Fair (USA), 01.07.2013

Bitte Taschentuch rausholen, und begleiten Sie uns in die Rehakliinik des Condé-Nast-Verlags: Ingrid Sischy macht das erste Interview mit dem britischen Modedesigner John Galliano seit seinen mit Handy-Kamera aufgezeichneten extrem obszönen und antisemitischen Ausfällen, die ihn seinen Job bei Dior kosteten. Es sei das schlimmste, was er je gesagt habe, sagt er heute, und dass er seitdem nüchtern ist. Wieviel ist an solchen Ausfällen der Sucht und wieviel der Person zuzuschreiben, fragt sich Sischy (und fragt sogar bei Rabbis nach, ob man Galliano eventuell verzeihen kann): "Süchtige können eine Menge darüber erzählen, wie man ausflippt. Ich habe einmal mit Elton John gesprochen, der jetzt seit 23 Jahren nicht mehr trinkt und mir sagt, 'dass ich heute noch Geschichten darüber höre, wie man mit mir kaum fertig wurde. In meiner schlimmsten Zeit habe ich mich einmal in einem Londoner Hotel tagelang besoffen. Ich wollte ein bisschen Schlaf finden, aber es ging nicht, draußen war es so windig. Ich rief mein Büro an und sagte, sie sollen dem Wettbüro Bescheid sagen, damit die das abstellen. Und ich meinte das ernst.'"
Archiv: Vanity Fair

Eurozine (Österreich), 14.06.2013

Peter Pomerantsev ist ein britischer Fernsehproduzent mit russischen Wurzeln, der jahrelang bei russischen Fernsehsendern gearbeitet und einen faszinierenden Blick ins Innere einer postmodernen Diktatur geworfen hat, in der selbst der Anschein von Opposition noch vom Regime organisiert wird. Allerdings bekommt das System Brüche. Putins virtuoser Chefpropagandist Wladislaw Surkow musste im Mai abtreten und die neue Opposition bricht mit dem Nihilismus der jetzigen Medieneliten: "Bei ihrer Suche nach einem moralischen Code, in dem sie sich wiederfindet, greift die neue Opposition auf die Dissidenten der siebziger Jahre zurück: Aus den Witzfiguren der zynischen nuller Jahre sind plötzlich wieder Helden geworden. Die Punkerinnen von Pussy Riot verglichen ihren Prozess mit dem Schauprozess gegen Andrej Sinjawskij in den Sechzigern, zitierten in ihren Schlussstatements Joseph Brodsky und pfefferten ihre Reden mit Siebziger-Jahre-Begriffen wie 'dostojnstwo' (Würde) und 'Sowest' (Gewissen). Teile der neuen Opposition sind auch eifrige Leser der französischen Situationisten. Ernste junge Studenten diskutieren bis spät in die Nacht Guy Debords kürzlich übersetzte 'Société du spectacle', deren Sprache ideal ist, um die virtuelle Realität der gelenkten Demokratie zu beschreiben."
Archiv: Eurozine

Granta (UK), 11.06.2013

In der Street-Food-Serie von Granta schildert Anjum Hasan die Faszination der Eis-Lollies, die für seine ostindische Heimadtstadt Shillong typisch sind und von den Kindern 'nala-pani', 'Schmutzwasser', genannt werden: "Die zweifelhafte Herkunft des Wassers, aus dem sie hergestellt wurden, machte sie zu einem köstlichen Tabu... Es ist unmöglich, ihre Verlockung von den ungewaschenen Händen ihrer Verkäufer zu trennen, den verwitterten, rostigen Büchsen mit dem Pulver von Masalas, der geriebenen, den Elementen ausgesetzten Papaya und dem schlammig aussehenden Tamarindenwasser."

In weiteren Beiträgen der Serie über Street Food erzählen Héctor Abad aus Kolumbien, Tan Twan Eng aus Penang, Malaysia, Claire Vaye Watkins über die hot dogs von Nevada and Annia Ciezaldo über das Brot von Beirut.
Archiv: Granta

HVG (Ungarn), 17.06.2013

Der Axel Springer Verlag und die Ringier AG verhandeln gerade mit der österreichischen Firma Vienna Capital Partners (VCP) über die Übernahme einiger ungarischer Presseorgane, damit die beiden Verlagshäuser auch in Ungarn ihre Druckereien fusionieren können. Betroffen ist auch die auflagenstärkste politische Tageszeitung Népszabadság, im Portfolio von Ringier, mit einer Minderheitenbeteiligung von 27 Prozent einer Stiftung, die der sozialistischen Partei MSZP gehört. Die Wochenzeitung HVG ging dem anstehenden Geschäft nach: "Die Fusion wurde bisher von der staatlichen Medienbehörde mit der Begründung verhindert, dass die Vielfalt der Berichterstattung stark gefährdet wäre. Unterschiedlichen Berichten zufolge stehen hinter dem VCP Fidesz-nahe Firmen, was eine Übernahme der 'links-liberalen' Népszabadság noch interessanter macht. Das wird wohl auch von der sozialistischen Partei MSZP befürchtet. Obwohl sie durch die Stiftung ein Vorkaufsrecht hat, ist es fraglich, ob sie die stark verschuldete Zeitung übernehmen kann. Der größte Teil der Schulden beläuft sich auf Verbindlichkeiten gegenüber den konzerninternen Druckereien. Die Partei würde für die kommenden Wahlen den Einfluss der mit 51.000 Exemplaren immer noch größten politischen Tageszeitung gut gebrauchen, doch die Partei kämpft selbst mit finanziellen Schwierigkeiten, liquide Mitteln für die Übernahme gibt es kaum."
Archiv: HVG

n+1 (USA), 14.06.2013

Der 54stöckige Ponte Tower bot einst Luxuswohnungen für die weiße Elite Johannesburgs, bevor sich in den Neunzigern kriminelle Banden ansiedelten und das ehemalige Nobelviertel Hillbrow zum Inbegriff städtischen Verfalls wurde. Anna Hartford erzählt die Geschichte von Ponte City, das für Südafrika viel mehr ist als nur ein Gebäude: "Es ist unser großes Spukhaus, ein Betonbau, der den ganzen abstrakten Terror beherbergt, den wir produzieren. Wenige Menschen sind in Ponte oder überhaupt in der Nähe gewesen, aber alle wissen etwas darüber Bescheid. Sie wissen beispielsweise, dass sein Inneres einst mit Müll, Schutt und verwesenden Katzen gefüllt war. Sie wissen, dass Ponte die Heimat von Gangs, Prosituierten und nigerianischen Drogenbaronen ist. Sie wissen, dass es das Selbstmordgebäude ist, auch wenn sie von keinem spezifischen Selbstmord gehört haben, und sie wissen, dass es ein Verbrechergebäude ist, ohne sich an ein einziges Verbrechen zu erinnern."
Archiv: n+1
Stichwörter: Südafrika

New York Magazine (USA), 17.06.2013

Jason Zengerle porträtiert die frühere Journalistin Samantha Power, die sich mit ihrem Buch "A Problem From Hell" einen Namen als Expertin für Völkermorde gemacht hatte und dann Barack Obamas Sicherheitsberaterin wurde. Jetzt soll sie UN-Botschafterin werden. Für Zengerle zeigt Powers Karriere, wie schwierig es ist, mit einem solchen Seitenwechsel sich selbst treu zu bleiben: "Sie beklagte sich gegenüber Stacy Sullivan, einer Freundin aus ihrer Journalistenzeit in Bosnien, dass sie und ihr Mann, der ebenfalls für Obama arbeitende Harvard-Jurist Cass Sunstein, 'früher eine ganze Bandbreite von Gefühlen aufbrachten und viele verschiedene Adjektive benutzen, um Dinge zu beschreiben; nachdem sie bei der Regierung angefangen hatten, beurteilten sie Angelegenheiten nach dem einfachen Raster erfolgreich oder nicht und anerkannt oder nicht. "Wie war dein Tag, Schatz?" - "Toll, ich war erfolgreich und habe dafür Anerkennung erhalten."' Obwohl sie Obama erfolgreich zu einer Intervention in Libyen überredet hat, glauben ihre früheren Kollegen, dass das Hauptproblem ihres Jobs - nämlich mit einem Präsidenten klarzukommen, der ausländischen Verwicklungen eher abgeneigt ist - seinen Tribut gefordert hat. 'Wenn man Obamas Außenpolitik betrachtet, kann man wohl kaum sagen, dass Samantha Power stolz auf die Menschenrechtsbilanz sein dürfte', sagt einer."
Stichwörter: Bosnien, Libyen, Obama, Barack

New Statesman (UK), 17.06.2013

Julia Copus erinnert an die heute nahezu vergessene Dichterin Charlotte Mew, die von ihren Zeitgenossen sehr bewundert wurde, nicht zuletzt weil sie wie eine französische Marquise aussah, aber offenbar recht derben Slang sprach: "1896 in eine vornehme viktorianische Mittelklassefamilie geboren, von einer dominanten Mutter, die um jeden Preis den Schein waren wollte, war Mew erstaunlich wenig unterdrückt. Sie ging, wohin sie wollte, ohne Begleitung, und rauchte ihre eigenen selbstgedrehten Zigaretten. Als ihr Vater 1898 starb, sah sich Mew gezwungen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und begann ernsthaft, Geschichten zu schreiben, um sie zu veröffentlichen. Man hätte niemals sehen dürfen, dass sie Geld verdiente, und ihre Mutter hätte das auch niemals zugelassen; das Schreiben war der Weg, diese Demütigung zu umgehen. Aber ihre Erzählungen waren nur ein Mittel zum Zweck und es dauerte beinahe zwanzig Jahre, bis sie ihren ersten Gedichtband 'The Farmer's Bride' zustande brachte."

Fin de Fête
von Charlotte Mew

"Sweetheart, for such a day
One mustn't grudge the score;
Here, then, it's all to pay,
It's Good-night at the door.
 
Good-night and good dreams to you,-
Do you remember the picture-book thieves
Who left two children sleeping in a wood the long night through,
And how the birds came down and covered them with leaves?
 
So you and I should have slept,-But now,
Oh, what a lonely head!
With just the shadow of a waving bough
In the moonlight over your bed."
Archiv: New Statesman

London Review of Books (UK), 20.06.2013

Mit großer Begeisterung stellt Geoff Dyer den Fotografen Garry Winogrand (1928-1984) vor, den das Museum of Modern Art in San Francisco mit einer großen Ausstellung ehrte und dessen Katalog Dyer durchgeblättert hat: "Winogrand ist unerschöpflich. In einem Winogrand-Bild lässt sich wahrscheinlich mehr sehen als in den Bildern jedes anderen Künstlers (ein Teil der Attraktivität von Weitwinkelobjektiven liegt darin, dass sie ihm nicht nur gestatten, mehr Leute aufs Bild zu bekommen, sondern auch, dass man das Bild mit dem Raum zwischen ihnen füllen kann) und doch verzehren wir uns nach immer mehr Fotografien. Er belichtete mehr Film als fast jeder andere Fotograf und zwar tatsächlich so viel Film, dass er nicht mehr in der Lage war, die Bilder zusammenzustellen, was er dann auch nach und nach sein ließ, bis er schließlich mehr oder weniger ganz damit aufgehöre, sie überhaupt noch anzusehen - oder zu entwickeln. Die oft zitierte Behauptung, dass er etwas fotografierte, 'um herauszufinden, wie es fotografiert aussehen würde', verwandelte sich schließlich in ein 'sich nicht weiter darum kümmern, wie etwas fotografiert aussehen würde, sondern allein des Fotografierens willen zu fotografieren'. Oder aber - doch darauf setzen nur die Risikofreudigen - hatte er schon so weit internalisiert, was die Fotografie mit den Objekten anstellte, dass er gar nicht mehr hinsehen musste?"
Stichwörter: San Francisco

Magyar Narancs (Ungarn), 17.06.2013

András Greff macht sich Gedanken über die deutsche Fernsehserie "Unsere Mütter, unsere Väter", die er ziemlich verlogen findet: "Die Tränen fehlen nicht, die Leichenberge werden nicht verschwiegen, uns aber auch nicht unter die Nase gerieben. Es wird gesagt, dass die tötende deutsche Hand letztendlich auch einem Opfer gehören konnte - was der Bewahrung würdig wäre, auch wenn die Geschichten im Hinterland lediglich mittelmäßige Mephisto-Versionen sind. Doch die Serie stellt am Ende klar, dass ein wirklich guter Mensch aufgrund seiner menschlichen Güte die Chance zum Überleben erhielt. Das aber war nicht nur im Zweiten Weltkrieg, sondern in allen Kriegen der Menschheitsgeschichte die Unwahrheit."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Fernsehserien

Pitchfork (USA), 14.06.2013

Lindsay Zoladz hat Puck und Headlight, zwei anonyme Mitglieder von Pussy Riot, bei deren Besuch in den Staaten begleitet. In vielerlei Hinsicht verhalten sich die beiden äußerst zurückhaltend: "Am Montagabend finden sie sich in der Lower East Side in dem linksradikalen Buchladen Bluestockings für ein unangekündigtes Publikumsgespräch ein. 'Wir freuen uns riesig und sind ein bisschen nervös', verkündet der Moderator den etwa 50 anwesenden Leuten. (...) Bevor die Mädchen zu Wort kommen, lässt uns der Moderator die Hände zum Eid erheben, dass wir von dieser Veranstaltung keine Aufzeichnungen anfertigen oder Fotos schießen und dass wir darüber mindestens zwei Tage lang nicht tweeten werden. Der Grund für all diese nervöse Geheimniskrämerei ergibt sich rasch. Puck erzählt, dass der russische Gesetzgeber im letzten Monat eine Reihe von Gesetzen erlassen hat, die informell als 'Pussy Riot Gesetze' bezeichnet werden - im wesentlichen, da sie jegliches typische Verhalten der Gruppe präventiv für illegal erklären. In Russland stellt es jetzt ein Verbrechen dar, eine Maske über dem Gesicht zu tragen (...) oder ein Mitglied der Russisch-Orthodoxen Kirche zu brüskieren. Doch am verstörendsten ist es wohl, dass es russischen Bürgern jetzt untersagt ist, sich gegenüber der ausländischen Presse schlecht über die Regierung zu äußern. ... 'In Russland haben sie deutlich größere Angst vor dem Wort riot', sagt Puck und lacht, 'die USA unterdessen scheinen sich mehr vor dem anderen Wort zu fürchten.'"
Archiv: Pitchfork

Economist (UK), 15.06.2013

Ungewohnte Worte aus Großbritannien: "Gefahr für Europa besteht derzeit nicht in zu viel deutscher Führung, sondern in zu wenig", schreibt der Economist in einem Plädoyer an Angela Merkel, sich ihrer Rolle an der Spitze des mächtigsten EU-Staats bewusst zu werden und entsprechend verantwortungsvoll zu handeln. Auch die Bedenken, einen reformunwilligen Süden mit durchzuschleifen, sollte Deutschland demnach fallen lassen: "Diese moralistische Einschätzung basiert auf einer selektiven Lektüre der Geschichte. Deutschland erwartet Reformen in Südeuropa zu einem Zeitpunkt der Sparsamkeit, doch als sich Deutschland 2003 selbst Reformen unterzog, überschritt es die Budgetdefizit-Regeln des Euros. ... Auch ist Deutschlands Wirtschaft nicht so robust, wie es scheinen mag. ... Im Lauf der kommenden zehn Jahre wird die deutsche Arbeitskraft um etwa 6,5 Millionen sinken, also etwa um die Zahl der Arbeiter in Bayern. Deutschland ist im höchsten Maße auf ein erfolgreiches Europa angewiesen - nicht nur als nobles Projekt oder als Akt der Nächstenliebe, sondern wegen seiner eigenen wirtschaftlichen Zukunft."

In einem zweiten Artikel wagt der Economist einen Blick ins nächste Jubiläumsjahr der Wiedervereinigung, 2020, für das er ein pessimistisches EU-Szenario nicht für völlig abwegig hält, sollte die Krise nicht gemeistert werden: "Diverse südeuropäische Länder haben die Einheitswährung verlassen, nachdem euroskeptische Parteien an die Macht gekommen sind. Der Euro, jetzt beschränkt auf eine Gruppe nordeuropäischer Wirtschaften, ist im Wert gestiegen, was die deutsche Exportmaschinerie schwer trifft. Deutsche Firmen und Banken liegen im Clinch mit Schuldnern im Zahlungsverzug. ... Europas Nachkriegsprojekt einer Einigung liegt in Scherben. Und viele ausländische Gäste bei Deutschlands Geburtstagsfeiern denken insgeheim, dass ihre Gastgeber den Großteil an Verantwortung dafür tragen. Ein paar mögen sogar unfreundlich murren, dass es Deutschand zum dritten Mal in gerade einmal einem Jahrhundert gelang, den Kontinent zu ruinieren." (Schlimm, wie hilflos britische Spekulanten dabei zusehen müssen!)
Archiv: Economist

Hazlitt (Kanada), 31.05.2013

In den japanischen Manga gibt es eine lange Tradition schwuler Comics, die vor allem auch von einem weiblichen Publikum gelesen werden. Im Gegensatz zu diesen oft romantisch und melodramatisch verzärtelten Geschichten, geht es in Gengoroh Tagames schwulen Sadomaso-Comics, die nun erstmals in einer englischen Edition vorliegen, erheblich derber zur Sache, schreibt Chris Randle, der zudem noch etwas historischen Background liefert: "Als stabile Identitäten sind Homo- und Heterosexualität ein Erbe der Moderne. Als das Meiji-Regime 1868 an die Macht kam und sich daran machte, die japanische Gesellschaft in einer bis dato ungesehenen Geschwindigkeit zu verändern, wurden Gewohnheiten, die westliche Besucher als 'degeneriert' oder 'rückständig' erachteten (wie etwa das Cross-Dressing), abgedrängt. Schwule Ausdrucksweisen, einst in gewissen Formen akzeptiert, wurden pathologisiert und kriminalisiert. Folgt man Jim Reicherts Studie 'In the Company of Men', so galt nanshoku (das Begehen zwischen Männern) in der vorangegangenen Edo-Periode als respektierte literarische Form. Die Standardbeziehungen darin weisen, ähnlich wie die Übergangsbeziehungen im alten Griechenland, ausbeuterische Machtgefälle auf: Samurai und ihre jugendlichen Schüler oder Kabuki-Darsteller in Frauenkleidung und ihre urbanen Kunden. Obwohl die übliche yaoi-Anordnung (Liebe zwischen Jungen) in seme (dominante) und uke (unterwürfige) Partner als Abkömmling davon plausibel ist, sind sie doch soweit gleichberechtigt geworden, dass ein Leser frei die Seiten - oder auch beide zugleich - wählen kann. Tagame wurde in Magazinen veröffentlicht, die sowohl yaoi (Liebe zwischen Jungen) und bara (Liebe zwischen Männern) bringen, und blendet beides ineinander. Vielleicht bietet er den Fans eine dornigere, schwarz schimmernde Version dieses Rollenspiels."
Archiv: Hazlitt

Nepszabadsag (Ungarn), 15.06.2013

Der Philosoph János Kis erklärt im Interview mit Dóra Ónody-Molnár, warum alles gleich zu bleiben scheint, auch wenn es sich verändert: "Die revolutionären Veränderungen finden in einem Zustand der Euphorie statt. Was früher unmöglich erschien, wird nun möglich. Die Herrschaft der Unterdrücker zerbricht, der Wind der Freiheit weht auf den öffentlichen Plätzen. Mit der Zeit wird klar, dass sich das Gewebe der Gesellschaft langsamer ändert als die Rechtsinstitutionen. Die alten Beziehungen greifen wieder. Sie passen sich den neuen Gegebenheiten an. Die Veränderungen verursachen hohe Kosten, die neue Welt bringt nicht nur Vorteile, die Freiheit ist größer, für die Existenzsicherung muss mehr gekämpft werden. Diese Zeit der Ausnüchterung ist verständlich und wir sind nicht allein damit in Ost-Mittel-Europa."
Archiv: Nepszabadsag

New York Times (USA), 15.06.2013

Der Lichtkünstler James Turrell wird in diesem Sommer in den USA drei große Ausstellung haben, im Lacma, dem Museum of Fine Arts in Houston und dem New Yorker Guggenheim-Museum. In einem epischen Porträt schildert Wil S. Hylton für das Magazin der New York Times die magische Wirkung seiner Lichträume, die allerdings auch etwas zutiefst Desorientierendes haben können: "Und dann waren da die 'Perceptual Cells'. Diese Wahrnehmungszellen sind Turrells extremstes Werk. Der Besucher nähert sich einer gigantischen Kugel, die aussieht wie ein überdimensionaler Pingpong-Ball, und legt sich dann auf eine Art Leichenhallenschublade, mit der man hineingezogen wird (Bilder). Sobald die Tür geschlossen ist, kommt das Licht, und es ist so hell, dass es fast keinen Unterschied mehr macht, ob man die Augen schließt. Und während die Farben sich verschieben und verändern, beginnt man Dinge zu sehen, die nicht da sind, kleine Regenbogen, die im Raum umherschweben und geometrische Formen. Es stellt sich heraus, dass dies die biologischen Strukturen des eigenen Auges sind, das in blendender Intsität anfängt, sich selbst zu sehen. Selbst Turrell beschreibt die 'Perceptual Cells' als 'invasiv' und 'beklemmend'."

Außerdem in der New York Times: Eric Pfanner berichtet über eine Initiative französische Archivare, die sich gegen das von der EU geforderte "Recht zu vergessen" im Internet wenden. Laura M. Holson porträtiert den hippen Literaturagenten Luke Janklow. Und David Margolick erinnert an den Autor John Horne Burns.
Archiv: New York Times