Magazinrundschau

Unsere eigene Größe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
02.07.2013. Die London Review zieht den Hut vor Edward Snowden. Rue 89 erklärt, warum Stefan Zweig so beliebt in Frankreich ist. Micromega sieht die Bürgerrechte in Italien zerfallen. Der Believer erinnert an die Village People. Das TLS hält Genderfragen absolut nicht für Bildungsfragen. Die New York Review of Books versinkt in Laszlo Krasznahorkais Roman "Satantango".

London Review of Books (UK), 04.07.2013

David Bromwich fasst die ersten zwei Wochen nach dem Prism-Skandal und insbesondere Edward Snowdens Weg von der patriotischen Begeisterung nach dem 11. September bis zu seiner Offenlegung der NSA-Machenschaften zusammen. Snowden, fällt ihm in dem Guardian-Interview auf, unterscheidet sich in einer Sache von anderen Whistleblowern: "Seine Gedanken waren kein Geheimnis. In Unterhaltungen mit Freunden machte er keinen Versuch, seine Gewissensbisse zu verbergen. Es scheint auch wahr zu sein - obwohl er diesen Punkt im Interview nicht direkt formuliert - dass er, selbst wenn er bei der Arbeit war und dort seinen privilegierten Zugang nutzte, Reue empfand wegen der Überlegenheit, die er über andere Bürger hatte, die dem Auge der Regierung, für die er arbeitete, jederzeit ausgeliefert waren. Die Reue (wenn diese Vermutung richtig ist) entstand nicht aus dem Verdacht heraus, dass er sein Privileg nicht verdiene, sondern aus der Überzeugung, dass niemand es verdiene. Die Verfasser der neuen Gesetze und die Wächter über die geheime Interpretation dieser Gesetze, glauben dagegen, dass sie diese Privilegien sehr wohl verdienen. [...] Das System, wie Snowden schlicht erkannt hat, ist unvereinbar mit dem 'demokratischen Modell' und kann nur praktiziert oder akzeptiert werden von Menschen, die jede Idee einer liberalen Demokratie aufgegeben haben, außer der Vorstellung von allgemeiner Verteidigung und Fürsorge."

Außerdem: John Lanchester lässt eine ganze Reihe von Bankenskandalen genüsslich Revue passieren. James Pogue lässt WalMart und Konsorten nach dem Fabrikbrand in Bangladesch nicht so schnell davon kommen. Ganz tief taucht Thomas Powers in die Welt des "Great Gatsby" ein. Marina Warner erinnert an die Frauenrechtlerlin Emily Davison. Brian Dillon besucht Simon Starlings "Phantom Ride" in der Tate Britain. Michael Wood bespricht Steven Soderberghs Fernsehfilm "Behind the Candelabra".

Rue89 (Frankreich), 30.06.2013

Stefan Zweig wird in Frankreich wahrscheinlich mehr gelesen als in Deutschland (und sogar in Österreich?) Gerade ist ihm (wohl auch wegen frei werdender Rechte) eine Ehre widerfahren, die Thomas Mann, Heinrich Mann, Hermann Hesse oder Alfred Döblin bisher nicht vergönnt war: Er wurde in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen, die berühmte Klassikerreihe, die in Frankreich den Kanon definiert. Aurélie Champagne unterhält sich mit dem Herausgeber Jean-Pierre Lefebvre über Zweigs Popularität in Frankreich: "Die Leute lesen eine Sache von ihm, dann zwei, dann drei und kommen vom Hundertsten ins Tausendste, denn es ist ein Werk, das viel über Geschichte und die Werke anderer spricht (Nietzsche, Dostojewski, Hölderlin, Dickens, Tolstoi...) Er ist eine Art Türöffner. Und da ist es doch viel angenehmer, Zweig zu lesen, zumal in Frankreich, wo er gut übersetzt ist. Das ist nicht so langatmig wie Thomas Mann...."
Archiv: Rue89

MicroMega (Italien), 28.06.2013

Alle Länder kriegen die Homoehe, nur Italien nicht, obwohl die höchsten Gerichte den Gesetzgeber längst aufgefordert haben, auf die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen hinzuarbeiten. Aber das Parlament winkt ab. Für Stefano Rodotà ist das ein Besorgnis erregendes Symptom, das über das Thema der Homoehe hinausreicht und etwas über die Psychologie der tiefen Krise Italiens aussagt: "Eingeschlossen in ihrem Wunsch, die Regierung um jeden Preis zu erhalten, haben die Mehrheitsparteien fast jeden Bezug auf die Bürgerrechte und die sogenannten 'neuen Rechte' aus ihrer Agenda gestrichen, da diese Themen als spalterisch gelten und man einen unheilbaren politischen Bruch fürchtet. So entfernt sich die Politik von der Gesellschaft, ignoriert ihre Dynamik und Bedürfnisse und schließt jeden Kommunikationskanal mit den Bürgern - genau in dem Moment, in dem sie sich fähig zeigen müsste, diese Wünsche aufzunehmen und in eine politische Agenda zu integrieren, die nicht mehr nur selbstreferenziell ist."
Archiv: MicroMega

Le Monde (Frankreich), 27.06.2013

Le Monde des Idees bringt ein Dossier über Brasilien, dazu gehört ein Stimmungsbericht des Schriftstellers Juliàn Fuks, der zunächst beschreibt, wie die Masse die ganze Stadt Sao Paolo paralysiert. Und "während eines dieser Momente der Stille, die uns manchmal ergreifen, bemerkt ein Demonstrant, dass wir uns in der Glasfassade eines großen Gebäudes spiegeln. Für einen Moment sind wir bestürzt über unsere eigene Größe, beglückt von dieser Vision: Diese Avenue, die stets vollgestopft ist mit ausdruckslosen Metallkisten, wird plötzlich besetzt von Tausenden von Männern und Frauen. Wir nehmen uns die Stadt zurück, die von Maschinen besetzt worden war, und wir verstehen, dass wir die Stadt gar nicht paralysierten. Sie war nie so in Bewegung und so lebendig wie jetzt."
Archiv: Le Monde
Stichwörter: Sao Paolo

Economist (UK), 27.06.2013

Der Economist unterzieht die Protestbewegungen der letzten Wochen und Monate einer genaueren Untersuchung. Zwar mag "diese schnell mobilisierbare Bereitschaft zum breiten Schönwetter-Aktivismus so schnell wieder verschwinden, wie sie erschienen ist. Dies war etwa das Schicksal des Occupy-Protests, der 2011 in den westlichen Städten seine Zelte errichtet hatte. ... Schlägkräftiger aber sind die politischen Erwartungen einer rasant wachsenden Mittelschicht in den aufstrebenden Staaten (mehr). ... In der Türkei ist die Zahl der Universitätenabschlüsse seit 1995 jährlich um acht Prozent gestiegen. Die dadurch entstandene junge Mittelschicht reibt sich am religiösen Konservatismus des Premierministers Erdogan, der für große Familien und Alkoholkontrollen einsteht. Die 40 Millionen Brasilianer, die sich in den vergangenen acht Jahren aus der Armut hochgearbeitet haben, sind erstmals in der Lage, die Gesellschaft zu hinterfragen, die sie mit ihren Steuern finanzieren. Sie fordern einen anständigen Staatsdienst und erhalten stattdessen überteuerte Fußballstadien." In einem gesonderten Artikel befasst sich der Economist mit den Vor- und Nachteilen der sozialen Medien für die Protestdynamiken.
Archiv: Economist

Nepszabadsag (Ungarn), 30.06.2013

Népszabadság hat sich mit dem Schriftsteller und Dramatiker György Spiró über historische Romane im allgemeinen und seinen eigenen, "Der Verruf", im besonderen unterhalten. "Historische Schundliteratur war immer beliebter als die sogenannte 'hohe Literatur', die ich auch nicht besonders mag", bekennt Spiró. "Sympathischer ist mir die angelsächsische Sichtweise: kann das Werk verkauft werden oder nicht? Kann das Interesse des Publikums geweckt werden oder nicht? Wenn ja, dann ist das Werk wahrscheinlich gut. Was man nicht verkaufen kann, kann auch nicht wirklich gut sein. Selten gibt es Romane, die gut sind, aber nicht zu verkaufen. Die Grundfunktion des Romans ist ein gutes Märchen mit interessanten Figuren, aufregend vorzustellen. Es ist ein Genuss beim Schreiben und beim Lesen. Dostojewski und Cervantes schrieben nur 'Schundliteratur', Shakespeare war erregt von Horror und Pornografie, ähnlich wie die Zuschauer des Globe Theatre. Ästhetik hatte er nicht im Sinn, nur die Wirkung. Er schrieb und brachte nur das auf die Bühne, was wirkte. Er hatte Recht. Das Werk, das keine Wirkung hat, ist nicht gut."
Archiv: Nepszabadsag

Believer (USA), 01.07.2013

Nicole Pasulka hat in vielen alten Musikzeitschriften gestöbert und erzählt anhand ihrer Fundstücke die Geschichte, wie aus dem Geist des Christopher Street Day und des Männerkults der schwulen Discoszene der frühen Siebziger die Village People entstanden und dabei, Tragik der Geschichte, die Mode-Codes der schwulen Szene an heterosexuelle Hipster preisgaben. Den realen Hintergrund, warum nun ausgerechnet die Vereinshäuser des Christlichen Vereins Junger Menschen (in den USA Y.M.C.A.) einen so zentralen Stellenwert in der schwulen Szene genossen, dass die Village People diesen in ihrem berühmtesten Song ein Denkmal setzten, hat Pasulka dabei auch herausgefunden: "In den Vereinshäusern galt ein trainierter, muskulöser Mann als spiritueller Mann. Der Vorstand der Organisation wollte die Häuser vor Ort als Anlaufpunkt positionieren, um junge Leute von 'negativen' Einflüssen fernzuhalten. Und hier hatten viele junge Kerle ihre ersten homosexuellen Erfahrungen. ... Homosexuelle Aufrisstouren und Gewichteheben gingen hier nach John Donal Gustav-Wrathalls akribischer historischer Darstellung Hand in Hand. Obwohl die Organisation homosexuellen Sex als 'unmoralisch' und 'pervers' verdammte, machte sie, indem sie besonderen Wert auf Fitness legte, nicht nur Sex zwischen Männern möglich, 'sondern formte das gleichgeschlechtliche sexuelle Begehren'. Indem sie Sexualkunde- und Hygieneprogramme frühzeitig aufgriff, machte Y.M.C.A. auf Homosexualität erst aufmerksam - auch wenn sie als unchristlich hingestellt werden sollte. ... In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachteten hier Männer einander beim Training und verbrachten viel Zeit damit, über Sex zu reden." In diesem Sinne:


Archiv: Believer

Merkur (Deutschland), 01.07.2013

Mit Blick auf Frankreich meint Wolfgang Matz zwar, dass die tatsächlich Lage nicht so schlecht sei wie die Stimmung, aus der Misere helfe jedoch keine antideutsche Polemik, bescheidet er die Pariser Linke wie die Rechte, sondern nur Rigueur: "Der Kern der Auseinandersetzung dreht sich um die Furcht, das französische Modell der staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik könnte funktionsuntüchtig geworden sein und in einen uneinholbaren Rückstand kommen gegenüber der deutschen Politik der Reformen und Haushaltssanierung. Das Problem der Kritiker einer allgemeinen Spar- und Austeritätspolitik liegt dann darin, dass diese zwar als unsozial gebrandmarkt wird, aber andererseits offenkundig erfolgreich ist und - durch die deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit - auch deutlich sozialer."

Und in der Ökonomiekolumne spottet Werner Plumpe über die kritischen Mittelschichten, die nicht begriffen, dass der Kapitalismus mit dem Massenkonsum längst ein "Projekt der Unterschichten" sei - Adel und Bourgeoisie hätten ihn für ihr bisschen Luxus nicht gebraucht. Im Print schreibt Richard J. Evans über die italienische Verharmlosung der Mussolini-Ära. Christoph Menke widmet sich Hannah Arendts Urteil über den Eichmann-Prozess.
Archiv: Merkur

Vanity Fair (USA), 27.06.2013

Ein denkbar trauriger Anlass, aber ein umso schönerer Text: Zum Tod von James Gandolfini hat Vanity Fair Peter Biskinds ausführliche Reportage über die verzwickte Entstehungsgeschichte der "Sopranos" aus dem Jahr 2007 online gestellt. Dass die Serie fast nicht produziert worden wäre, mutet von diesem Ende der Geschichte aus, an dem HBO dank der "Sopranos" zum veritablen Ersatzkino und Gandolfini als Tony Soprano zu einer Ikone des frühen 21. Jahrhunderts geworden ist, denkbar kurios an: "Keiner, der mit der Pilotfolge zu tun hatte - nicht Chase, der Regie führte, nicht Gandolfini - rechnete damit, dass die Serie in Produktion gehen würde. Sie setzte sich einfach über zuviele Auflagen und Gepflogenheiten hinweg, selbst für Pay-TV-Verhältnisse. ... So sicher war sich Chase, dass daraus niemals etwas werden wird, dass er schon bei den Produzenten von 'Akte X' vorsprach, um dort als Produzent und Drehbuchautor weiterzumachen. Erst in letzter Sekunde, kurz bevor die Verträge mit den Darstellern ausliefen und diese sich anderen Projekten zuwenden konnten, bestellte HBO 13 Folgen. Doch der Kampf war noch nicht ausgestanden. Chase wollte die Serie nach ein paar Kids in der High School 'Die Sopranos' nennen. 'Doch HBO hatte ein Problem damit', erklärt er. 'Sie dachten, die Leute würden das für eine Opernserie halten', was sich als wahr herausstellte. 'Also ließen sie irgendwelche Leute Listen mit Ersatztiteln erstellten. Seite für Seite schreckliches Zeug wie 'New Jersey Blood'. Sie wollten die Serie 'Family Man' nennen. Bis Steven van Zandt meinte, das ist Wahnsinn, habt ihr den Verstand verloren?' Dann begann eine Zeichentrickserie mit dem Titel 'Family Guy' und damit hatte sich das dann auch erledigt. 'Also gut, dann eben 'Die Sopranos'."
Archiv: Vanity Fair

Times Literary Supplement (UK), 29.06.2013

Paul Seabright liest Alison Wolfs "The XX Factor" und Sheryl Sandberg "Lean In", die beide - trotz aller Unterschiede - die Vermutung nahelegen, dass sich die Genderfrage mit steigender Bildung von selbst erledige. Seabright glaubt das nicht und erklärt, dass es nicht nur um Gerechtigkeit gehe: "Verglichen mit dem globalen Skandal, dass Millionen von Mädchen unter der Beschneidung leiden müssen, nicht zur Schule gehen dürfen, geschlagen werden und als Erwachsene ökonomisch um ihre Rechte gebracht werden, sollten die Leiden wohlhabender qualifizierter Frauen, die etwas weniger als ihre ebenso talentierten männlichen Kollegen verdienen, niemandem den Schlaf rauben. Es geht aber um die Verteilung ökonomischer Macht in unseren fortgeschrittenen Gesellschaften. Wenn sich weniger als ein Zwanzigstel der 500 größten amerikanischen Unternehmen als kompetent erwiesen haben, einen CEO in der weiblichen Hälfte des Talent-Pools zu finden, welches Vertrauen können wir dann in ihre übrigen Fähigkeiten haben? Wenn ein Mann, der niemals ernsthaft erwogen hat, für eine Vorstandsvorsitzende zu arbeiten, einem erklärt, sein Multimillionen-Dollar-Bonus sei notwendig, um das größtmögliche Talent auf dem Markt zu halten, dann sollte jedes Bullshit-o-Meter durchdrehen."
Stichwörter: Die Räuber, Beschneidung

La regle du jeu (Frankreich), 25.06.2013

Während deutsche Journalistinnen (hier in der SZ, hier in der FAZ, hier in der Welt) eher geschmäcklerisch auf Femen und ihre angeblich pubertären Provokationen reagieren, verfasst André Glucksmann zusammen mit Jacques Bérès und Bernard Schalscha eine leidenschaftliche Verteidigung der drei (inzwischen zm Glück freigelassenen) Femen-Aktivistinnen, die in Tunesien protestiert haben, um die jungen Tunesin Amina zu unterstützen, die man wegen eines "Femen"-Graffiti ins Gefängnis gesteckt hat: "Sie sind zu Recht entschlossen, den Sexismus, das Patriarchat und die Archaismen zu bekämpfen, denen die Tunesierinnen, nachdem sie unter Bourguiba schon besser gestellt waren, aufs neue brutal ausgesetzt sind - wie viele Frauen auf der ganzen Welt. Die eigentliche Provokation liegt darin, den Niqab zu tragen und ihn sogar in der Universität nicht ablegen zu wollen und in der angeblich 'komplementären' Rolle der Frauen im Verhältnis zu den Männern, die die Islamisten in die Verfasssung hatten schreiben wollen."
Archiv: La regle du jeu

New York Review of Books (USA), 11.07.2013

Laszlo Krasznahorkais düsterer Roman "Satantango" ist jetzt auch in englischer Übersetzung herausgekommen, und Adam Thirlwell ist absolut in den Bann geschlagen von diesem ungarischen Propheten: "Eine vorläufige Beschreibung seines Stils muss also seine sorgfältig einstudierte Obskurität ebenso umfassen wie seine Verspieltheit, seinen umfassenden Pessimismus, seine Liebe für die Apokalypse und die Freude an obsessiven Monologen. Oder anders gesagt: Krasznahorkais Thema ist die totale Desillusionierung der Welt, aber wie er diese Desillusionierung darstellt, ist bezaubernd, nein hynotisierend. Er ist einer der großen formalen Erneuerer der Gegenwartsliteratur."

Außerdem: Martin Wolf rechnet vor, wie und warum Europas Sparpolitik gescheitert ist. Steve Coll geht der Frage nach, ob für Obamas Nahost-Politik dasselbe gilt.