Magazinrundschau

Bücherduft

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.07.2013. Der Rolling Stone sucht den Riss in der Golden-Boy-Fassade des Boston-Attentäters Dschochar Zarnajew. Die NYT liest überwältigt eine Biografie des Ökonomen Albert O. Hirschman, der ans Scheitern glaubte, nicht an große Theorien. In HVG findet Laszlo Martin ungarische Literatur auf Deutsch manchmal interessanter als im Original. Foreign Affair beleuchtet die segensreiche Auswirkung der Frankfurter Schule auf das Deutschenbild der Amerikaner. The New Republic freundet sich mit dem Übermenschen Peter Sloterdijks an. Im TLS erinnert Timothy Snyder daran, dass Katyn nicht nur in Polen liegt, sondern auch in Weißrussland. Wired beobachtet Syrer beim Granatenschleudern.

Rolling Stone (USA), 17.07.2013

In Amerika ist eine Debatte über das neue Cover des Rolling Stone ausgebrochen. Es zeigt den jüngeren der beiden Boston-Attentäter, Dschochar Zarnajew, in einem träumerischen, fast poetischen Bild. Nicht zuletzt weil der junge Mann inzwischen eine riesige Fangemeinde hat, fanden viele das Bild täterverherrlichend und geschmacklos. Die Reportage von Janet Reitman widerlegt diesen ersten Eindruck gründlich. Das Bild zeigt Zarnajew genau so, wie ihn alle, die ihn gekannt haben, beschreiben: als sanften, träumerischen Golden Boy, dessen Radikalisierung niemand bemerkt hat. ""Ich fragte ihn, wo er herkommt, und er sagte: Tschetschenien. Und ich: Tschetschenien, willst du mich verarschen?", erzählt Larry Aaronson, Zarnajews Nachbar und Geschichtslehrer. "Ich sagte: Mein Gott, wie bist du mit dem ganzen Stress fertiggeworden? Und er sagte: Larry, deshalb sind wir nach Amerika gekommen, und was für ein Glück, dass wir ausgerechnet nach Cambridge gekommen sind!" Er liebte die Stadt, die Schule, die ganze Kultur und war dankbar für ihre Annehmlichkeiten. Das hat mir so an ihm gefallen: Er war das typische Kriegskind, das alle Angebote nutzte, die unsere Welt zu bieten hatte, um sein Leben neu zu gestalten. Und er war bildschön", fügt Aaronsen hinzu." Die Reportage ist aber vor allem lesenswert, weil Reitman doch verschiedene Risse in Zarnajews glatter Oberfläche aufzeigen kann.
Archiv: Rolling Stone

New York Times (USA), 20.07.2013

Der Ökonom Albert O. Hirschman gehörte zu den wenigen Menschen, die Scheitern als Chance begriffen haben. Justin Fox ist total hingerissen von einer 740 Seiten starken Biografie, die Jeremy Adelman über Hirschman geschrieben hat. Schon allein die Lebensgeschichte des Mannes liest sich wie eine Abenteuerreise durch das 20. Jahrhundert: In Berlin geborener Jude, Mitkämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, Mitkämpfer in der Resistance, Berater der amerikanischen Regierung bei der Umsetzung des Marshallplans und schließlich Berater lateinamerikanischer Länder für die Weltbank und Autor literarischer Essays für die New York Review of Books. Eine "Lehre" hat er nie begründet, dafür waren seine Überlegungen viel zu unkonventionell: "Seine große Entwicklungstheorie war, dass große Entwicklungstheorien meist schief liegen. Seine Sicht auf die Beziehung zwischen freien Märkten und staatlichem Eingriff war, dass gute Gesellschaften beides brauchen, in verschiedenen Dosen, eben immer abhängig von den Umständen. Er war misstrauisch gegenüber den ganz großen Ideen, sogar seinen eigenen. Eines seiner Bücher hieß 'A Propensity to Self-Subversion'." (Wer mehr über Hirschman wissen möchte, dem sei Malcolm Gladwells ausführliches Porträt im New Yorker empfohlen.)
Archiv: New York Times
Stichwörter: Resistance

Dark Rye (USA), 22.07.2013

Am vergangenen Donnerstag beantragte Detroit die Insolvenz. Das ist der Moment, nach vorn zu blicken. Dark Rye hat in seiner aktuellen Ausgabe eine Reihe kleiner Erfolgsgeschichten aus Detroit zusammengestellt. Zum Beispiel ein Video über den 25jährigen Andy Didorosi, der das marode Bussystem wieder zum Leben erweckt hat und, ganz amerikanisch, die Chancen betont, die seine Stadt zu bieten hat: "In anderen Städten ist man Passagier. Man kann mitfahren und sein Ding machen, aber die Stadt fährt auch ohne einen. Hier in Detroit hat man die Möglichkeit, tatsächlich etwas zu bewirken. Nirgendwo sonst auf der Welt hat man Gebäude und Mittel und so kluge Leute und so großen Kram, die nur darauf warten, genutzt zu werden."
Archiv: Dark Rye
Stichwörter: Detroit

HVG (Ungarn), 10.07.2013

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler László Márton erklärt im Interview, welche Rolle Deutschland für die ungarische Literatur spielt: "Auch die Deutschen haben ihren Kanon zur Welt- und auch zur ost- und mitteleuropäischen Literatur, aber es ist auch Entdeckungsgeist spürbar. Es braucht ein wenig Zeit, bis ein jüngerer Schriftsteller Erfolg hat. In der jüngsten Vergangenheit war dies der Fall mit Attila Bartis oder György Dragomán und vor kurzem sind die Bücher von László Darvasi, Zsolt Koppány-Nagy und Noémi Ildikó Nagy übersetzt worden. Péter Esterházy, György Konrád, Péter Nádas genießen einen größeren Bekanntheitsgrad. Aber viel interessanter ist, was aus der von Ernő Kulcsár-Szabó herausgegebenen, vor kurzem auf Deutsch erschienenen ungarischen Literaturgeschichte hervorgeht. Der Dichter Endre Ady erinnert auf Deutsch an die deutsche Romantik und nicht an den Symbolismus. Dezső Kosztolányi wirkt als hätte er 60 Jahre später geschrieben. Der absurde und groteske Charakter der Texte von Jenő Rejtő ist deutlicher in der Übersetzung als in der Muttersprache, in der die Lockerheit der Witze eine Selbstverständlichkeit sind."
Archiv: HVG

Foreign Affairs (USA), 01.07.2013

William E. Scheuermann erzählt die Geschichte, wie die Marxisten von der Frankfurter Schule dem amerikanischen Geheimdienst erklärten, was es mit den Deutschen und den Nazis auf sich hatte. William Donovan, einer der Gründer des CIA-Vorläufers Office of Strategic Services (OSS) war klug genug, die Emigranten aus Deutschland einzuspannen, um mehr über Deutschland zu erfahren, und sie haben ihre Sache nicht so schlecht gemacht: "Am erhellendsten ist der wichtigste Ratschlag der Frankfurter an die amerikanischen Politiker. Die Alliierten sollten aufhören, Nazi-Deutschland durch die Brille des Ersten Weltkriegs zu sehen. Nur wenn die Vereinigten Staaten verstanden, wie stark die Gegenwart von historischen Vorläufern abwich, konnten sie den Frieden gewinnen und den Grund für eine deutsche Demokratie legen. Franz Neumann und sein Team kritisieren die US-Politiker für ihr Festhalten an anachronistischen Bildern von Deutschland als ein von einer Militärkaste dominiertes 'Preußen' - als ob das Land noch vom Kaiser regiert würde. Derart rückwärts gewandte Propaganda mochte geeignet sein, eine breite Unterstützung für den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen, aber sie verkannte die Realitäten der Machtstrukturen unter den Nazis."
Archiv: Foreign Affairs

Rue89 (Frankreich), 21.07.2013

Die lesbische Aktivistin Ahlem Bensaidani wendet sich gegen Femen in Tunesien. Die Aktion westlicher Feministinnen für die Tunesierin Amina Sboui, die im Gefängnis sitzt, weil sie das Wort "Femen" an eine Friedhofsmauer gemalt hat, sei kontraproduktiv. Bensaidani erläutert den Begriff der "intersectionnalité", um ihre Idee zu erläutern: Ein Protest gegen die Unterdrückung muslimischer Frauen dürfe nicht als Kritik an der islamischen Kultur an sich auftreten: "Die Aktivistinnen von Femen werden keine Frauen für ihr Anliegen gewinnen, die zwar ihre Idee der Gleichheit für die Frauen teilen, sich zugleich aber abwenden werden, weil sie Angst haben, das Spiel der Islamophobie mitzuspielen oder Lektionen erhalten zu sollen, zumal wenn sie das Gefühl haben, dass sie wegen des Stigmas ihrer Religion gar nicht willkommen sind."
Archiv: Rue89

Berfrois (USA), 05.07.2013

Jonathan Sperbers Biografie über Karl Marx ist auch in Deutschland mit großem Interesse aufgenommen worden. Russell Bennetts stellt Sperber im Interview unter anderem die Frage nach Marx' Verhältnis zu den Juden, auf die Sperber eine interessant differenzierende Antwort gibt. Von jüdischem Selbsthass könne man bei Marx nicht sprechen: "Um Marx' Position zu verstehen, müssen wir sehen, dass das Judentum in der Mitte des 19. Jahrhunderts als religiöse und kulturelle Herkunft gesehen wurde. Marx ist im Alter von fünf Jahren getauft worden und hat eine protestantische religiöse Erziehung erhalten, die von jüdischer Identität sehr weit entfernt war. Seines Geisteswelt war vor allem von Junghegelianern geprägt, radikalen Philosophen, die ihre Karriere allesamt als protestantische Theologen begonnen hatten. Die feindlichen Bemerkungen über Juden in 'Zur Judenfrage' sind von Ideen liberaler protestantischer Theologen über das Judentum als eine ethisch unterlegene Religion abzuleiten - von Ideen also, die bis ins 20. Jahrhundert im protestantischen Denken Deutschlands vorherrschend waren."
Archiv: Berfrois

SZ-Magazin (Deutschland), 19.07.2013

Absolut grauenhaft liest sich Michael Oberts Reportage über den Sinai und eine Geschichte, die nur sporadisch in den Medien kursiert. Flüchtlinge aus Afrika (meist Äthiopien oder Eritrea) werden von Beduinen systematisch gefoltert, um von ihren Familien Lösegelder freizupressen: "Von den rund 60.000 afrikanischen Migranten, die es nach Schätzungen der Tel Aviver Organisation Ärzte für Menschenrechte in den vergangenen Jahren illegal über die ägyptische Grenze nach Israel geschafft haben, sind bis zu 7000 in den Folterkammern der Beduinen misshandelt worden. Mehr als 4000 haben die Torturen nicht überlebt; ihre Leichen verrotten in der Wüste. Rund tausend Menschen sollen sich derzeit in den Fängen der Kidnapper befinden."
Archiv: SZ-Magazin
Stichwörter: Äthiopien, Eritrea, Tel Aviv

Times Literary Supplement (UK), 19.07.2013

1943 richteten deutsche Truppen im weißrussischen Khatyn ein Massaker an, das in der sowjetischen Erinnerung einen großen Platz einnahm - im Gegensatz zum sowjetischen Massaker im polnischen Katýn. Timothy Snyder erkennt darin kalten Zynismus: "Für die Sowjetunion bestand der Zweite Weltkrieg aus zwei Kriegen, der eine wurde gänzlich vergessen, der andere nur selektiv erinnert. Zwischen 1939 und 1941 kämpfte die Sowjetunion als deutsche Alliierte und marschierte in Polen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Rumänien ein. In dieser Zeit verübten die Sowjets einen Massenmord unter den bis dahin nicht sowjetischen Bevölkerungen, wie an den Polen in Katýn 1940. Zwischen 1941 und 1945, nachdem Hitler Stalin verraten hatte und Deutschland in die Sowjetunion einmarschiert war, verübte Deutschland einen Massenmord in noch größerem Umfang, so wie den im weißrussischen Khatyn 1943. Von Kriegsende bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, versuchte die sowjetische Propaganda den ersten Krieg durch den zweiten zu verdrängen, so dass die Sowjetunion und ihre Bewohner einzig als Opfer und Sieger dastehen. Die deutschen Verbrechen sollten die sowjetischen aufheben. Khatyn sollte Katýn ersetzen. 1969 wandelte die Einweihung des Denkmals für die ermordeten Weißrussen von Khatyn das unvorstellbare Leid der Menschen in Weißrussland in geopolitische Propaganda."

Weiteres: Davis Hanson blickt auf die Geschichte der Kriegstechnik, die immer Gesellschaften verändert hat, aber wenig das Wesen des Krieges. Schön abenteuerlich findet Robert Irwin David Triggers Geschichte "Red Nile", aber leider auch voller Fehler und Fiktionen.

Nepszabadsag (Ungarn), 21.07.2013

Die ungarischen Verlage versuchen mit seltsamen Mitteln ihren Lesern die neuen Ebooks schmackhaft zu machen, lernt man aus diesem Artikel von Gábor Dombi. "Die namhaften Vertreter unsere Buchkultur sprechen immer noch befremdet über das Ebook. Sie sagen: 'Ich mag den Duft der Bücher' (es gibt bereits Deos für die Tablets in 'Bücherduft'), 'man kann keine Notizen machen' (selbstverständlich kann man), 'der Büchermarkt wird durch sie zerstört' (nicht wahr), 'die digitale Version wird gestohlen' (das kann passieren). (…) Nach Meinung von László Földes, Leiter der Online-Redaktion des Budapester Kossuth Verlages, nutzen die meisten namhaften ungarischen Verlaghäuser die Möglichkeiten des Ebooks nicht. 'Die Auswahl wird an den richtigen Stellen und in die richtige Richtung erweitert, aber sie ist immer noch winzig, darum ist die Anzahl der illegalen Downloads enorm. Aber auch die internationalen Anbieter bringen Gefahr. Wenn Google und Amazon ankommen - was früher oder später unumgänglich sein wird - werden sie ihre Überlegenheit auf dem Markt ausnutzen. Keine der ungarischen Akteure wird ein ernsthafter Konkurrent sein, nicht einmal mittelfristig', sagt Földes."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Amazon, Buchkultur, Duft, Ebooks

Guardian (UK), 20.07.2013

Sind Trinker die besseren Schriftsteller? Blake Morrisson blickt in einem tollen Text auf die Zeit der großen Säufer zurück, auf Dylan Thomas, John Cheever, F. Scott Fitzgerald und Kingsley Amis, die alle meinten, der Alkohol steigere die Kreativität: "So dachte auch Hemingway: 'Wie soll man die Gedanken auf eine andere Flugbahn bringen, wenn nicht mit Whisky?' Sie liegen nicht ganz falsch. Es gibt ein Zeitfenster zwischen dem ersten und zweiten Drink, oder auch dem zweiten und dem dritten, in dem manchmal das Unerwartete eintrifft - eine Idee, ein Bild, ein Satz. Das Problem besteht darin, es aufzuschreiben, bevor es weg ist. Wenn man in Begleitung ist, muss man kurz mit seinem Notebook verschwinden, das nimmt einem Entschlossenheit oder Selbstachtung. Das Amis-Prinzip - ein Glas zur Entspannung am Schreibtisch, wenn man das meiste geschafft hat - passt gut zu denen mit Willenskraft. Aber es gibt das abschreckende Beispiel von Jack London, der sich gern mit einem Drink belohnte, wenn er sein tägliches Soll von tausend Wörtern erfüllt hatte, und irgendwann nicht mehr ohne einen anfangen konnte. Der Mann nimmt einen Drink, dann nimmt der Drink den Mann. Befreiung, die in den Stumpfsinn führt. 'Schreib betrunken, redigiere nüchtern', lautet Hemingways viel zitierter Rat."

Außerdem: Florian Illies' Bestseller "1913" ist jetzt auch auf Englisch erschienen, Philip Oltermann betrachtet etwas skeptisch diesen Versuch, die Teleologie aus der Geschichte zu nehmen. Leo Robson bedauert, dass Hollywood keine kamikazeartigen Flops wie "Kleopatra" oder "Heavens Gate" mehr produzieren kann.
Archiv: Guardian

Wired (USA), 16.07.2013

Matthieu Aikins hat sich in Aleppo, Syrien, bei den Rebellen eingenistet und beobachtet dort, mit welchen archaischen Mitteln die Assadgegner Bomben und Waffen anfertigen. Die mit simplen Schleudern abgeschossenen Granaten sind dabei nicht nur für den Feind gefährlich: "Mohammed platziert ein Geschoss in dem Band und zieht es straff zurück (...) Zakaria hält ein Feuerzeug an den Zünder. Mit einem Schlag lässt Mohammed die Granate frei - doch der Winkel ist zu niedrig. Wir hören das metallische Klirren der Bombe, wie sie die Hofmauer trifft und zu uns zurück rollt. Alle schreien und rennen durcheinander, um zu fliehen. In meiner Nähe hier im Hof befindet sich eine Doppeltür zu einem Hausflur, doch sie ist halb verschlossen und schon drängen sich drei Männer durch diesen Flaschenhals. Mir bleibt einzig das Badezimmer, in das ich mich stürze und auf dessen kühlen Fliesen ich mit meinem Gesicht entlang schramme. Ein weiterer Rebell springt auf mich, nur einen Moment bevor wir die brachiale Explosion der Granate spüren, die mich nicht als Krach, sondern als Stille erreicht. Eine ganze Minute lang ist die Welt still. Dann höre ich langsam Stimmen von Männern, die so klingen wie ein weit entferntes Radiogeschnatter. Nach und nach stellt sich mein Gehör wieder ein, wenn auch mit einem enormen Klingeln im Ohr. Ein Wunder: Niemand ist verletzt."

Weiteres: Ein Hauch von (mulmiger) Science Fiction: John Bohannon porträtiert Zhao Bowen, der die genetischen Grundlagen der Hochbegabung erforschen und nutzbar machen will. Mark Yarm trifft sich mit dem südafrikanischen Science-Fiction-Regisseur Neill Blomkamp (hier unsere Kritik zu seinem Debüt "District 9"), der an Los Angeles vor allem zu schätzen weiß, dass sich die Stadt wie eine Atombombe kurz vor der Zündung anfühlt. Gratis-Pizza, umgangene Paywalls, frisierter Lebenslauf: Wired gibt diverse Tipps und Tricks, um sich durchs Leben zu schnorren. Außerdem: Eine ziemlich atemberaubende Fotostrecke aus dem Innern deutscher Atomkraftwerke.
Archiv: Wired

Film Comment (USA), 15.07.2013

Nicolas Rapold spricht ausführlich mit Joshua Oppenheimer und dessen Dokumentarfilm über das Massaker an den indonesischen Kommunisten in den 60er Jahren "The Act of Killing", der auf Festivals weltweit derzeit vor allem auch deshalb für Aufsehen sorgt, da er darin die Täter von damals ihre Taten in theater- und filmartigen Settings nachspielen lässt (siehe etwa auch diese Kritik und hier Slavoj Žižek im New Statesman). Das Vertrauen der in Indonesien im Rang von Volkshelden stehenden Täter zu erlangen fiel dem Regisseur nicht weiter schwer: "Die Vereinigten Staaten hatten den Völkermord unterstützt - das wussten sie (...) und sie wussten, ich bin ein amerikanischer Filmemacher, und sie lieben amerikanische Filme. Und da ich das Land nach Belieben bereisen und verlassen konnte, wurde einfach angenommen, dass ich automatisch auf der Seite jener Leute stehe, die über solche Finanzmittel und also über ein gewisses Maß an Macht verfügen. Deshalb müsste ich wohl auf ihrer Seite stehen. Alles was ich tun musste, war, mich ihnen gegenüber so zu verhalten, wie ich es auch jetzt Ihnen gegenüber tue: Nett sein, zugewandt sein, sie wie Menschen behandeln. Und das spüren sie. (...) Alle möglichen Wörter, die nach Völkermord riechen, haben eine heroische und glorreiche Konnotation erfahren. Das Wort 'Ausrottung' etwa, das uns an den Holocaust denken lässt, hat dort eher ein 'Jawoll, ich war an der Ausrottung der Kommunisten beteiligt' zur Folge. Als ob das etwas Großartiges wäre. Das gestattete es mir, sehr, sehr ehrlich zu sein. Ich konnte also sagen 'erzählen Sie mir etwas über die Ausrottung der Kommunisten'. Und so weiter, solange es mir gelang, die emotionalen Reaktionen zurückzuhalten, die sich einstellten, als sie mir diese Geschichten erzählten. Das war schwierig."

Außerdem blickt Regisseur Paul Schrader auf seine turbulenten Erfahrungen beim Dreh mit Lindsay Lohan zurück, die Anfang dieses Jahres vor allem nach einem Setbericht im New York Magazine für Aufsehen sorgten. Für den Profi zählt im Nachhinein natürlich nur das Ergebnis, nicht der Weg dorthin - und er sieht einige Parallelen zu Marilyn Monroe in ihrer letzten, beschwerlichsten Schaffensphase, als sie mit John Huston "The Misfits" drehte: "Parallelen? Saumseligkeit, Unberechenbarkeit, Wutanfälle, Fehlzeiten, Hilfsbedürftigkeit, Psychodrama - ja, all das, doch auch noch mehr, diese eine Sache, die Dich eine Person auf einer Leinwand weiter beobachten lässt, diese Sache, von der Du Deine Augen nicht abwenden kannst, diese Magie, dieses Mysterium. Diese Sache, von der John Huston in seinen Erinnerungen schreibt, dass er sich wundert, warum er sich das alles zumutet. Doch dann sah er die täglichen Abzüge des belichteten Materials. ... Von einem egoistischen Standpunkt aus betrachtet, vom Standpunkt eines Regisseurs, war es hervorragend mit Lindsay zu arbeiten. All das Drama, all der Stress - bedeutet nichts."
Archiv: Film Comment

Prospect (UK), 22.07.2013

Menzies Campbell verspricht sich einiges von Irans neuem Präsidenten Hassan Rouhani: Dieser "besteht darauf, dass ein konstruktiver Ausgleich zwischen den Interessen des eigenen Landes und denen in Übersee erzielt werden kann; dass er zugleich Irans islamische Tradition bewahren und den staatlichen Zugriff hinsichtlich Medienzensur, sexueller Diskriminierung und Bürgerrechte lockern kann; dass er mit dem Westen in Verhandlungen treten kann, ohne Irans Nuklearprogramm aufzugeben. Nach seiner Wahl unterstrich er seine innen- und außenpolitische Positionen: 'Weder Unterwerfung noch Konfliktsuche, weder Passivität noch Säbelrasseln. Eine gemäßigte Haltung ist für das Zusammenspiel effektiv und konstruktiv.'"

Außerdem: Ein umfangreiches Porträt der neuen UN-Botschafterin der USA, Samantha Power, die für ihr besonders moralisches Auftreten bekannt, für ihre Position gegenüber Israel allerdings berüchtigt ist (mehr dazu hier und hier).
Archiv: Prospect

New Yorker (USA), 29.07.2013

Vor dem Hintergrund des Freispruchs von George Zimmerman und einer Anzeigenkampagne der nationalen Schusswaffenvereinigung NRA vom März diskutiert Jelanie Cobb ein merkwürdiges Missverhältnis in der Einschätzung, ob der Zugang zu Waffen in Amerika reglementiert werden sollte oder nicht. Es offenbart sich demnach in der unterschiedlichen Bewertung dieser Frage durch afro-amerikanische und weiße Bevölkerungsgruppen - und steht im Widerspruch zum Inhalt besagter Anzeigenkampagne, in der ein Schwarzer mit der Begründung gegen Beschränkungen eintrat, angesichts der Geschichte rassistischer Gewalt sei es für Schwarze geradezu "absurd", gegen Waffen zu sein. Cobb hält dagegen: "2010 machten Afro-Amerikaner dreizehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus und fünfundfünfzig Prozent aller Mordopfer ... Heute befürworten Weiße das Recht auf Waffenbesitz gegenüber seiner Einschränkung mit neun Punkten Vorsprung. Im Gegensatz dazu befürworten Afro-Amerikaner die Einschränkung gegenüber freiem Waffenbesitz mit einem Vorsprung von vierundvierzig Punkten ... Der Teil der Bevölkerung, der mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfahrung mit Waffengewalt macht, ist damit zugleich am ehesten der Überzeugung, dass Waffen zu leicht zugänglich sind."

Weitere Artikel: Atul Gawande erklärt, warum sich technologische Innovationen in der Medizin oft nur langsam durchsetzen: Weil sich Normen und Standards eben nur im Gespräch von Mensch zu Mensch ändern. Emily Nussbaum unterzieht die TV-Serie "Sex and the City" einer Neubetrachtung und erklärt, wie sich die Serie um ihren guten Ruf brachte. Und David Denby sah im Kino Ryan Cooglers Drama "Fruitvale Station", das in Cannes den Preis für den besten Debütfilm gewann, und den neuen Film von Woody Allen "Blue Jasmine".
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.07.2013

László J. Győri sprach mit der Historikerin Éva Gál über ihr Buch "Lejáratás és bomlasztás" ("Denunzierung und Sabotage", Corvina Verlag, Budapest 2013), welches die Praktiken der ungarischen Staatssicherheit gegen oppositionelle Intellektuellen rekonstruiert. Gál war persönlich betroffen, da ihr verstorbener Ehemann, der Historiker György Litván 1959 aufgrund seiner Beteiligung an dem Aufstand 1956 zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war. "1990 war es für jeden selbstverständlich, dass die geheimen Unterlagen der ungarischen Staatssicherheit veröffentlicht werden müssen. Für die Menschen war es in erster Linie interessant zu wissen, wer über sie an das Innenministerium berichtete. Heute wissen wir, warum dieses Gesetz nicht zustande kam: außer den Liberalen und dem damaligen Fidesz wollte keine andere Partei dieses Gesetz. Seit 1997 gibt es ein Gesetz, nach dem einige Akten mit gewissen Einschränkungen zugänglich sind. Kopien dürfen nicht gemacht werden, lediglich handschriftliche Notizen in einer begrenzten Zeit. Das Gesetz von 2003 verbesserte die Lage der Forschung, doch es ist immer noch weit vom optimalen entfernt. Vieles kann zwar rekonstruiert werden, doch die Lücken sind immer noch groß. Aufgrund dieser Lücken habe ich mich entschlossen zu schreiben. Es wäre sinnlos gewesen, als Verwandte und Beteiligte zu forschen, dann wären die wirklich relevanten Teile der Akten geschwärzt gewesen. Als Historikerin konnte ich das aber umgehen. 'Früher haben sie uns gelesen, jetzt lesen wir sie', hätte mein Mann gesagt."
Stichwörter: Fidesz, Staatssicherheit, 1956

New Republic (USA), 19.07.2013

Adam Kirsch stellt den Amerikanern Peter Sloterdijk, von dem in den letzten Jahren einige Bücher ins Englische übersetzt wurden, als "mitreißenden und eklektischen Denker" vor. Nicht mal vor der Idee des Übermenschen scheue er zurück. "Aber in seinen Händen ist das Konzept vollkommen frei von jedem Hauch blonder Bestien oder dem Willen zur Macht. Tatsächlich sind die Personen, die Sloterdijk als überlegene Selbsttrainer zitiert, Jesus und Sokrates - genau diejenigen, die Nietzsche als Lehrer einer Herdenmoralität verabscheute. Es ist zentral für Sloterdijks Vision, dass für ihn Überlegenheit vollkommen getrennt ist von Dominanz. Seiner Ansicht nach ist nur die Selbstbeherrschung wichtig für die Menschen, das Training des Selbst ist nobler und befriedigender als die Kontrolle über andere. Wenn das ein blinder Fleck ist, dann ist es einer, der es ihm erlaubt, seinen Nietzsche schuldfrei einzunehmen."
Archiv: New Republic
Stichwörter: Sloterdijk, Peter, Dominanz