30.07.2013. Die LRB beschreibt die Spaltung Ägyptens. Micromega porträtiert den neuen Papst. Vice konstatiert, dass pädophile Priester von der Katholischen Kirche besser versorgt werden als Nonnen. Salon schildert die zivilisierende Wirkung von Gruppensex. Slate.fr sucht ein Taxi in Paris. El Pais Semanal hebt die Moral der Zwangsgeräumten. In The Brooklyn Rail spricht Joshua Oppenheimer über seinen gefeierten Dokumentarfilm "The Act of Killing". Das TLS begutachtet den sportlich-industriellen Komplex rund ums Cricket.
London Review of Books, 08.08.2013

Adam Shatz
berichtet aus dem
Post-
Mursi-
Ägypten, das er auf keinen Fall mit dem Prä-Revolutions-Ägypten verglichen wissen will: "Es gibt wichtige Unterschiede. Der Aufstand von 2011 vereinte Linksliberale und die Unterstützer der Muslimbrüderschaft. Heute leben die Ägypter in verschiedenen, einander
feindselig gesinnten Welten, sie beäugen einander mit gewaltigem Misstrauen und sprechen eine Sprache, die sehr nach
Krieg klingt. Islamisten beschreiben ihre säkularen Gegner als Ungläubige und attackieren die koptischen Christen wegen ihrer angeblichen dunklen Rolle bei den Protesten, die Mursi zu Fall gebracht haben. Linksliberale dagegen singen ein Loblied auf ihren neuen Erlöser, auf General al-Sisi mit dem schwarzen Beret, der über den Arrest der Muslimbrüder wacht - eine 'Vorsichtsmaßnahme, um Gewalt zu verhindern', wie El-Baradei es gegenüber der
New York Times delikat
umschrieb. Der Fernsehmoderator
Bassem Youssef beschuldigte die Bruderschaft, das Massaker der Republikanischen Garde an ihren Unterstützern am 8. Juli auf dem Rabia al-Adawiya Platz provoziert zu haben, und
schrieb in einem Tweet: 'Statt zahlreicher Tweets hier nur ein einzelner zur Zusammenfassung: Die Muslimbrüder sind eine
neue Art Nazis, verstanden?'"
Weitere Artikel: Ghaith Abdul-Ahad
war bei den Auseinandersetzungen um den
Taksimplatz in Istanbul hautnah dabei. Andrew O'Hagan
besucht eine Jugendstrafanstalt in
Kandahar, wo ihm die inhaftierten Kinder und Jugendliche ihre Lebensgeschichte zu Papier bringen. Michael Wood
schaut sich nochmals den großen
70mm-
Schinken "Cleopatra" an. John Barrell
besucht eine
Ausstellung mit Arbeiten von
L.
S.
Lowry in der Tate Modern.

Monde, 25.07.2013
Le Monde setzt die schöne Serie über die wahre Geschichte hinter einigen berühmten Fotos fort. Für den fünften Teil
hat Claire Guillot herausgefunden, dass die kalifornische Wanderarbeiterin auf einem beühmten Foto
Dorothea Langes, die das ganze Elend der Depression und den ganzen Elan der helfen wollenden Roosevelt-Administration repräsentierte, keine Wanderarbeiterin war, sondern eine Cherokee-Indianerin, die in Wirklichkeit gar nicht von Roosevelts Maßnahmen profitierte. Ihr Name war
Florence Owens Thompson: "Das Foto hat Florence Owens und ihren Kindern, die sich als Opfer stilisiert sahen, nie gefallen. 2002 hat ihnen der Regisseur Geoffrey Dunne im Magazin
New Times eine Stimme gegeben. Norma Rydlewski, das Baby auf dem Foto, erklärt: 'Mama liebte das Leben und ihre Kinder. Und sie liebte Musik und tanzte gern. Dieses Foto macht mich traurig. Es ist nicht so wie meine Erinnerung an sie."
Times Literary Supplement, 27.07.2013

Stephen Fay
weiß nach
James Astills Buch "The Great Tamasha", dass
Cricket vielleicht von den Engländern erfunden wurde, aber es gehört ihnen nicht mehr: Die
indische Sektion ist inzwischen die mächtigste im internationalen Cricket, und korrupte Politiker, Tycoons und Schauspieler machen Hunderte von Millionen - und sie machen ebensoviele selig: "Gideon Haigh, ein anerkannter Cricket-Historiker, bemerkt, dass dies mehr ist als nur eine Verschiebung der Macht, es ist eine Veränderung in der
Natur der Macht. Cricket ist Teil des neuen und rasant wachsenden sportlich-industriellen Komplexes geworden. Es ist eine Welt des Kommerz, und nicht zeigt dies mehr als die Indian Premier League (IPL), in der neun, von reichen Geschäftsleuten aufgekaufte Cricket-Teams in der Spielform
Twenty20 antreten.
Korruption ist sozusagen der natürlich Begleiter von so viel Reichtum und Macht... Es ist verrückt, sagt Astill, aber
absolut überwältigend."
Philip French
freut sich, dass zwei neue Biografien von
David Luhrssen und
Joseph Horowitz neues Licht auf den Regisseur
Rouben Mamoulian werfen, der ein "meisterhafter Stilist" gewesen sei, für einen Platz im Olymp der großen Regisseure aber offenbar nicht die rechte Unbescheidenheit hatte: "'Rouben Mamoulian war kein typischer Hollywood-Regisseur', erinnert sich Marlene Dietrichs Tochter, 'er trug nicht wie Stroheim
Reitstiefel und Gerte, er hatte nichts von Cecil B. DeMilles
Großspurigkeit... Er war ruhig. Er war nicht nur still, er war absolut still."
New Yorker, 05.08.2013

Der Schriftsteller
Gary Shteingart hat im Selbstversuch
Google Glass ausprobiert, womit man Netzdaten einblenden und seine Umwelt fotografieren oder filmen kann. Sein vorläufiges
Resümee: "Das Beste daran ist bisher, die
Reaktionen aufzunehmen, die die Brille auslöst. Als ich den Google-Laden verlasse, überquere ich einen breiten Fahrradweg, auf dem ich eine Woche zuvor fast überfahren worden wäre. Ein wütender Radler hatte mir damals ziemlich genau erklärt, wohin ich mir das iPhone stecken solle, auf dem ich abwesend herumgetippt hatte. Jetzt führt ein Beinahzusammenstoß mit einem offenbar kundigen Radfahrer zum Ausruf 'Ach, Glass!' ... Neuntklässler der Xavier High School laufen mir einen ganzen Block hinterher
wie Kinder in den ärmsten Ländern der Welt einem nachlaufen, wenn man, sagen wir, einen Kugelschreiber hat."
Weiteres: Ariel Levy
erzählt die Geschichte der Bloggerin
Alexandria Goddard, deren Netz-Recherche und -Engagement dazu führte, dass zwei Mitglieder einer High-School-Football-Manschaft in
Steubenville wegen Vergewaltigung einer betrunkenen Schülerin verurteilt wurden; bedeutsam ist dabei die - teilweise durchaus zweifelhafte -
Rolle der soziale Medien inzwischen auch
im juristischen Bereich (siehe zu diesem Thema auch
weiter unten die
New York Times). James Wood
bespricht David Gilberts zweiten Roman "& Sons". Und David Denby
sah im Kino
James Ponsoldts Komödie
"The Specatcular Now",
Maggie Careys High-School-Komödie
"The To Do List" und
Paul Schraders Erotik-Thriller
"The Canyons" nach einem Drehbuch von
Bret Easton Ellis.
City Pages, 24.07.2013

Der amerikanische Saatgut- und Herbizid-Produzent
Monsanto gilt als Ausgeburt des Bösen. Zu recht, meint Chris Parker und erläutert in einer langen, beunruhigenden
Reportage das aggressive Geschäftsgebahren: Bauern werden unter Druck gesetzt, Umweltschäden ignoriert, Konkurrenten, Wissenschaftler und Politiker gekauft: "Inzwischen hat der Konzern die
Führungsebene der Regierung infiltriert. Er hat Verbindungen zum Supreme Court (durch den ehemaligen Monsanto-Anwalt
Clarence Thomas) sowie ehemalige und amtierende Mitarbeiter in Führungspostionen im Landwirtschaftsministerium und der Behörde für Lebensmittelsicherheit (FDA). Ein wahrer Coup gelang, als Barack Obama mit
Michael Taylor den ehemaligen Vizepräsidenten von Monsanto zum stellvertretenden Beauftragten für Lebensmittel bei der FDA ernannte. Das ist, als würde man George Zimmermann zum Beauftragten für Sicherheit im Umgang mit Schusswaffen ernennen."
Economist, 27.07.2013

Die
Pleite von Detroit beschäftigt auch den
Economist: "Viele mutmaßen, dass die Stadt Vermögenswerte verkaufen wird, um die Schulden zu lindern. Das
Detroit Institute of Arts verfügt über eine gute Sammlung
alter Meister. Der Flughafen und vielleicht sogar die
Insel Belle Isle könnten zur Disposition stehen. Kein Zweifel, die Senioren haben lieber ihre Rente, als einen Ort, an dem sie sich alte Gemälde anschauen können. ... Andere wiederum sorgen sich, dass der Verkauf von Detroits Schätzen die
Lebensqualität mindern und damit noch mehr Leute dazu bringen wird, die Stadt zu verlassen." An
anderer Stelle erfahren wir unterdessen, dass sich die Pleite zumindest in der Innenstadt kaum bemerkbar macht und sich sogar noch Investoren niederlassen: "Grundstücke sind so günstig, dass Detroit noch immer Visionäre anzieht."
Die
Daily Show bringt die Misere auf den Punkt:
Außerdem hat sich der
Economist zum Lesen an den Strand zurückgezogen: Er
schmökert begeistert im
zweiten Band von
Reiner Stachs Kafka-Biografie,
informiert sich mittels einer neuen Studie über den
koreanischen Bürgerkrieg,
beschäftigt sich mit den letzten 100 Tagen
John F.
Kennedys und
erfährt, dass
Jesus vielleicht doch nicht so friedliebend gewesen ist.
Brooklyn Rail, 15.07.2013
Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm
"The Act of Killing" beschäftigt die USA auch weiterhin (siehe
unsere Magazinrundschau vom 23. Juli): Im
Gespräch mit Joshua Sperling erklärt der Regisseur, warum er zu den von ihm
porträtierten Killern des indonesischen
Massakers in den 60ern so auf Tuchfühlung gegangen ist: Sie sind "offenherzig sind und sich der Tragweite ihres Handelns gar nicht bewusst. ... Diese Offenheit lässt uns mit ihnen warm werden, sodass wir sie, wenn sie im nächsten Moment etwas Schreckliches tun, als Menschen betrachten. Wir identifizieren uns mit ihnen. Wir sehen, dass
das Böse menschlich ist. Dies steht im Kontrast dazu, wie sich die meisten Filme - ob fiktional oder dokumentarisch - mit bösartigen Taten befassen, wo schon der unheilvolle Soundtrack das Böse vorweg nimmt, damit man, wenn es eintritt, vorbereitet ist und sein Urteil
bereits gefällt hat." Der Kritiker von
Prospect ist unterdessen erstaunt: "Dieser Film ist die originellste politische Dokumentation seit Jahren!"
Geliefert wird zudem der
zweite Teil des geradezu episch ausführlichen Gesprächs mit dem österreichischen Experimentalfilmemacher und rigorosen Filmmaterial-Verfechter
Peter Kubelka (
hier der erste Teil). Lesenswert ist das Gespräch schon wegen der Nachfrage von Kubelkas langjährigem Freund
Jonas Mekas, wie genau das damals in den 60ern lief, als Kubelka
Judomeister von New York wurde. Interessant sind aber auch Kubelkas Einschätzungen, was Film als Material betrifft: "Ich halte es auch nicht für falsch, wenn in Zukunft nur noch Filmmuseen Filmkopien zeigen können. Dadurch wird dies etwas sehr wertvolles. Für mich ist aber von Belang, dass Filmmuseen Filme auch wirklich
auf Film zeigen. Ich würde dazu raten, digitale Werke einem anderen Museum zu überlassen. Ein Filmmusem ist kein Ort, an dem man sich über jüngste Entwicklungen im visuellen Bereich informiert, sondern ein Ort, wo
Dosen voller Filmstreifen gesammelt werden. Und es sollte allein diese Filmstreifen zeigen, damit Leute, die sich das anschauen, sehen, was dies einst war."
Weiteres: Der türkische Aktivist
Bengi Akbulut erklärt Robert S. Eshelman die Hintergründe der Revolte vom Taksimplatz. Außerdem
offenbart Margarete von Trotta Gregory Smulewicz-Zucker im Gespräch über ihren Film
"Hannah Arendt", dass sie sich hinsichtlich des Filmemachens für einen
Dinosaurier hält.
New York Times, 28.07.2013

Jay Caspian Kang
resümiert die unrühmliche Rolle der
Internetplattform Reddit, die den Anstoß lieferte, dass ein als vermisst gemeldeter junger Mann, der 22-jährige Student Sunil Tripathi, irrtümlich tagelang als
zweiter Verdächtiger des Attentats auf den Boston-Marathon galt. Die Netzgemeinde, aber auch zahlreiche Journalisten beteiligten sich an der "Suche" nach ihm und setzten der verstörten Familie von Sunil Tripathi (der, wie sich später herausstellte,
Selbstmord aufgrund von Depressionen begangen hatte) schwer zu. Der Geschäftsführer und Sprecher von
Reddit, Erik Martin, hatte sich im Anschluss zwar persönlich bei der Familie entschuldigt, meint aber auch, der Verlust persönlicher Freiheit sei ein "generelles Internet-Problem", auch
Twitter und
Facebook hätten einen "
Widerlichkeitsfaktor". Ein Mann namens Jackal, der den
Twitter-Dienst Your Anonymous News betreibt, der wie
Reddit und andere dem
Kult des schnellen und ungefilterten Sammelns von Nachrichten huldigt und sich ebenfalls an der Jagd beteiligt hatte, drückt es so aus: "Meine erste Reaktion war: Oh, (Schimpfwort), was haben wir getan? Aber das ist ein schwieriger Punkt, weil wir bei Kurzmeldungen
die Ersten sein wollen. Dann passiert was Schreckliches, und man will das Ganze noch mal überdenken. Aber letzten Endes glauben
wir als Anarchisten: Man kann tun, was man will, solange man glücklich ist." So dämlich sich das anhört, diese Art von Schnellschuss gibt es nicht nur bei den neuen Medien, meint Kang. Denn "dies ist, was
Medien heute sind: eine sich immer
weiter entwickelnde Interaktion zwischen Reportern, die für Mainstream-Medien arbeiten, Journalisten, die News für online-Medien kompilieren und interpretieren, und tausenden von Individuen, die selbst Informationen sammeln, zusammenfügen und verbreiten."
MicroMega, 29.07.2013

Kenntnisreich und lesenswert ist Valerio Gigantes
kritisches Porträt des neuen Papstes
Franziskus I., der mit seiner Kritik der globalisierten Indifferenz weithin auf Begeisterung stößt. In der
Rhetorik erkennt Gigante riesige Unterschiede zu Benedikt XVI., aber er zitiert auch einige Fakten, die die Reformfreudigkeit des Papstes in Zweifel stellen. Zwar hat er sich jüngst vielversprechend über
schwule Priester geäußert, aber seine Position zu Abtreibung, Geburtenkontrolle, Homoehe und ähnlichen Themen in Argentinien lag ganz auf der traditionellen Linie. Irritierend ist für Gigante auch die Besetzung des Gremiums seiner acht "Superberater", die teilweise
sehr konservativ sind. Da ist etwa Kardinal
Marcello Semeraro, der sich weigerte, die italienischen Behörden im Fall des Padre Marco Agostini, eines der
schlimmsten Pädophilen der italienischen Kirche, zu unterstützen. Auf Bitten der Staatsanwaltschaft, ihr Akten der Kirche zu überlassen, "sagte Semeraro 'nein' und berief sich auf Artikel 4, Absatz 4 des Konkordats, wonach Kirchenleute nicht gehalten sind, Richtern oder anderen Amtspersonen des Staates Materialien über die Amtsausübung der Priester weiterzugeben. Er wäre nicht verpflichtet gewesen, es zu tun - aber er hätte es tun dürfen. Er entschied sich dagegen. Zu dem Beratergremium gehört auch der chilenische Kardinal
Francisco Javier Errázuriz Ossa, der im Jahr 2006 den General Pinochet am Totenbett besuchte ('möge Gott ihm verzeihen und das Gute würdigen, das er getan hat') und der der chilenischen Regierung 2010 einen
Straferlass für Pinochets Militärs im Namen des 'christlichen Erbarmens' vorschlug."
Vice, 24.07.2013

In Amerika will kaum noch jemand
Nonne werden. Das führt dazu, dass immer mehr Konvente geschlossen und die alten Nonnen auf irgendwelche
Altersheime verteilt werden,
berichtet Allie Conti. Irgendwelche Ansprüche scheinen die Nonnen nicht zu haben, schon gar nicht an die Katholische Kirche. "Man kann sich fragen, ob die globale Kirche, der die Schwestern angehören, überhaupt daran interessiert ist, diese Konvente aufrechtzuerhalten. Es sieht ganz sicher nicht so aus. 2005 gab die Katholische Kirche
eine Milliarde Dollar für Prozesskosten von Priestern aus, die Kinder sexuell missbraucht hatten. Doch die Kirchenführung hat nie Fonds für die Versorgung älterer Schwestern geschaffen, und während die
Rentenfonds der Priester von der Kirche getragen werden, haben die Schwestern kein solches Sicherheitsnetz. Wenn ihr Orden pleite geht, war's das für sie."
Der
Südsudan, das jüngste Land der Welt, hat diesen Monat seinen 2. Geburtstag gefeiert. Es gab keine fröhliche Party,
erzählt Jack Barry, denn das Land scheint kurz vor einem Bürgerkrieg zu stehen: "Jeder kämpft gegen jeden und die einzigen Menschen, die nicht kämpfen, misstrauen jenen, die sie beschützen sollen. Zwei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung muss man sich echte Sorgen um den Südsudan machen."
Salon.com, 28.07.2013

Salon druckt einen
langen Auszug aus einem Buch, das beschreibt, wie
Gruppensex bzw. freier Sex auf der ganzen Welt - in den
USA,
China,
Russland oder dem
Iran - Veränderungen in Gang setzt, gegen die Konservative vergeblich Sturm laufen. "Wie es ein 23-jähriger Mann erklärt: 'Im Iran hatten alle Dinge, die mit Sex zu tun hatten, eine verschlossene Tür. Wir, die jetzige junge Generation, öffnen eine nach der anderen.
Masturbation? Aufmachen. Sexuelle Gefühle von Teenagern? Öffne diese Tür. Schwangerschaft außerhalb der Ehe? Aufmachen. Jetzt versucht die Jugend herauszufinden, was sie mit all den offenen Türen anfangen kann.' Verständlicherweise finden junge Menschen die konkurrierenden Ideale und Sehnsüchte verwirrend - traditionelle Erwartungen gegen zeitgenössische Versuchungen - und die Risiken persönlicher Entscheidungen bleiben hoch. Doch 2004 hat [die iranisch-amerikanische Anthropologin Pardis] Mahdavi - trotz der landesweiten Aufregung um die
Hinrichtung eines siebzehnjährigen Mädchens, das im Verdacht stand, vorehelichen Sex gehabt zu haben - dennoch viele junge Frauen gefunden, die bereit waren ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, um an der veränderten sexuellen Kultur teilhaben zu können."
New York Magazine, 29.07.2013

Leicht unbehaglich wird einem bei Benjamin Wallace-Wells'
Artikel über den Wirtschaftswissenschaftler
Robert J. Gordon zumute, der in einem wissenschaftlichen Papier (
hier, leider kostenpflichtig) das
Ende des Wachstums in den USA ankündigt, das einst durch die Industriellen Revolutionen ausgelöst worden war: Der kommende technische Fortschritt wird demnach nurmehr Arbeitsplätze kosten, der
amerikanische Traum ist endgültig zerstoben. Erste Symptome will Wallace-Wells schon ausgemacht haben: "Im Jahr 2000 kamen 770.000
Mexikaner über den Rio Grande, aber im Jahr 2007 waren es nur noch 300.000, und im Jahr 2010 waren sie, trotz endloser Gewalt in Mexiko, nur noch 150.000. Manche glauben, dass die Zahl der Mexikaner, die die USA verlassen heute höher ist als die der neuen Migranten. 'Wir werden niemals zu den Zahlen der späten Neunziger zurückkehren, bestätigt Wayne Cornelius, ein Politologe aus San Diego, der sich seit vierzig Jahren mit der Grenze beschäftigt. Ein geringer Teil dieser Tendenz ist durch die bessere Absicherung der Grenze zu erklären, aber der Hauptantrieb ist die
ökonomische Verschiebung zwischen den beiden Ländern - für arme Mexikaner bietet Mexiko heute bessere Bedingungen, um ihren Lebensstandard zu verbessern, als die USA."
Den guten alten Zeiten trauert offenbar auch
New-York-Autor
Boris Kachka nach, der in seinem Buch "Hothouse" die Geschichte des amerikanischen Verlagshauses
Farrar, Straus & Giroux beschreibt. Gegründet von charismatischen Verlegern, die Sex, Martinis und lange Mittagessen genossen, während sie - immer am finanziellen Abgrund balancierend - die aufregendsten Autoren entdeckte. Mitte der 90er konnten sie beim großen Bieten um Autoren nicht mehr mithalten und wurden von
Holtzbrinck übernommen. Da war dann Schluss mit lustig. Nach der Lektüre des Buchs
starrte John Galassi, langjähriger Mitarbeiter von FSG, der von den guten alten Zeiten nur noch das Ende mitbekommen hatte, "in den Spiegel und fragte sich: Bist du wirklich das
introvertierte,
distanzierte Firmenwerkzeug, das Boris aus dir macht? [...] Alles hat sich verändert - nur das Verlegen nicht: einen erstaunlichen Autor entdecken, mit ihm arbeiten, um sein Buch zum besten und bestaussehendsten zum machen und dies der Welt mitzuteilen. In Kachkas Version ist Verlegen heute nur '
Marketing Chuzpe'. War es das nicht immer?"
Slate.fr, 29.07.2013

Es gibt keinen Konflikt, der ein helleres Licht auf die miese
soziale Stimmung in Frankreich wirft als der um die
Taxis. In Frankreich bekommt man keines, es gibt viel zu wenige. Jean-Marc Proust
wirbt um Verständnis für die verhassten Taxifahrer, ohne die skandalöse Lage fürs Publikum zu beschönigen: Die Taxifahrer wehren sich gegen neue Zulassungen, weil sie selbst für ihre Lizenz
250.000 Euro zahlten und das Geld am Ende ihrer Karriere für die Altersversorgung brauchen. Wird das System geöffnet, haben sie verloren. "Im Grunde sind die Taxifahrer Franzosen wie alle anderen: Sie verteidigen eine Lage, die der
Allgemeinheit schadet, aber ihren eigenen Komfort absichert. Vielleicht sind sie sogar noch mehr Franzosen als die anderen, denn sie müssen sich ihr 'Privileg' buchstäblich kaufen, zu einem sehr hohen Preis."
Open Letters Monthly, 01.07.2013


Victoria Best
porträtiert die großartige, 1965 im Alter von 48 Jahren gestorbene Autorin
Shirley Jackson. "Ihre sechs Romane und die Kurzgeschichtensammlung teilten ein Thema, so Jackson, 'ein Beharren auf der unkontrollierten, unbeobachteten
Boshaftigkeit menschlichen Verhaltens'. Sie schrieb hervorragende Erzählungen, die durch den Spiegel gingen und dahinter nicht einfach nur Absurdität fanden, sondern Böswilligkeit. Das Umschalten geschah im Nu, ein gleißender Blitz, der das Farbbild in sein Negativ verwandelte. ... Ihre berühmteste Erzählung, 'Die Lotterie' ist dafür das perfekte Beispiel. Sie erzählt die Geschichte gewöhnlicher Menchen in einer Stadt, die nach alter Tradition zusammenkommen um
Lose zu ziehen. Als eine Hausfrau ein Stück Papier mit einem schwarzen Punkt hochhält, drehen sich ihre Nachbarn bedächtig und begierig zu ihr um und
steinigen sie. Die Erzählung rief bei ihrer Veröffentlichung 1948 im
New Yorker Empörung hervor. Leserbriefe an das Magazin nannten sie 'grauenhaft' und 'einen
neuen Tiefpunkt menschlicher Schlechtigkeit'. Aber Jackson zitierte lieber die Leserbriefe, die 'wissen wollten, wo diese Lotterie stattfindet und ob
man zugucken könne'.
El Pais Semanal, 28.07.2013

"Nicht mal ultraliberale Journalisten können nachvollziehen, wie man in Spanien mit dem Thema
Zwangsräumungen umgeht." Mikel López Iturriaga
unterhält sich mit
Ada Colau von der spanischen Antizwangsräumungsbewegung
Afectados por la Hipoteca: "Die wichtigste
Lehre aus meinen bisherigen Aktivitäten? Au weia, was für eine Frage. Ich weiß nicht Dass der
Glaube, alles sei entschieden, falsch ist. Die
offizielle Botschaft lautet: Man kann nichts anderes machen, auch wenn du dich bewegst, wirst du nichts erreichen, an allem, was passiert, bist du schuld, schäm dich: du hast
über deine Verhältnisse gelebt. Diese Botschaft erfüllt bestimmte Interessen. Du sollst glauben, dass du allein bist. Die größte Schwierigkeit war am Anfang nicht die Macht der Banken, sondern dass die Leute
so am Boden waren. Die wichtigste Lehre war, dass genau diese Leute, wenn sie auf Solidarität stoßen und man ihnen ihre Würde wiedergibt, zu
Superhelden werden können." "
New York Review of Books, 15.08.2013
Suketu Mehta hat
Rio de Janeiro besucht und eine wunderschöne, aber auch unglaublich gewalttätige Stadt erlebt. Der Ärger der Demonstranten in diesem Sommer,
meint er, "resultiert aber nur zum Teil aus den Ungerechtigkeiten, die es in der ganzen Geschichte Brasiliens gab. [Das staatliche Programm] 'Bolsa Familia' hat viel getan, um das Problem der
Ungerechtigkeit zu lösen, aber nicht das Problem des
Rassismus. Die Hälfte des Landes ist schwarz, aber Schwarze machen 70 Prozent der Ärmsten des Landes aus. Laut einer Studie, die auf der Volksbefragung 2000 basiert, haben achtzehnjährige weiße brasilianische Jungen im Schnitt eine 2,3 Jahre längere Ausbildung als achtzehnjährige schwarze brasilianische Jungen. Der Vater eines weißen Jungen hat ebenfalls 2,3 Jahre mehr Ausbildung als der Vater eines schwarzen Jungen und der Großvater eines weißen Jungen hat sogar 2,4 Jahre mehr Ausbildung. Fast alles im Land hat sich verändert, aber die
Kluft in der Ausbildung schwarzer und weißer Kinder bleibt seit drei Generationen hartnäckig konstant."
Kein Journalist ist so gut über die
NSA informiert wie
James Bamford, der seit Jahren zu dem Thema recherchiert (hier
seine Artikel bei
Wired). Für die Leser der
NYRB hat er noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse aus dem jüngsten NSA-Skandal
zusammengefasst. Telefon und Internet werden gleichermaßen überwacht. Was die
Internetkommunikation angeht, liefen 2002
über 99 Prozent der gesamten Internetkommunikation
weltweit an irgendeinem Punkt durch die USA. "Diese Daten abzugreifen ist möglich durch eine Kombination von Techniken. Am wirksamsten ist die, bei der die NSA
direkten Zugang zu den Glasfaserkabeln hat, durch die heute fast alle Kommunikationsdaten fließen. Nach einem Papier, das Snowden veröffentlicht hat, wird dieses Abfangen der durch Kabel fließenden Kommunikation
Upstream genannt und es wird beschrieben als 'eine Sammlung von Datenströmen in Glasfaserkabeln und anderen Infrastrukturen'. Dieses Programm scheint sowohl sehr viel geheimer als auch sehr viel eingreifender zu sein als das von Snowden enthüllte
Prism-Programm. Obwohl
Prism der NSA Zugang zu Daten individueller Internetfirmen wie
Yahoo,
Google und
Microsoft verschafft, behaupten die Firmen, der NSA keinen direkten Zugang zu ihren Servern zu geben. Mit
Upstream dagegen hat die NSA direkten Zugang zur den Glasfaserkabeln und der sie unterstützenden Infrastruktur, die nahezu den
gesamten Internet- und Telefonverkehr des Landes trägt."
Außerdem: Was der NSA doch noch durch die Lappen geht, beschafft dann der
britische Geheimdienst GCHQ mit seinem
Tempora-Programm. So gesehen ist es ziemlich absurd, wie Timothy Garton Ash in den einleitenden Absätzen zu einem
Artikel über die Rolle
Deutschlands in Europa ausgerechnet Ängste vor den Deutschen beschwichtigen will. Nathan Thrall
denkt über die
Zukunft Israels nach. William Luers, Thomas R. Pickering, Jim Walsh
machen Vorschläge, wie sich die Beziehung der
USA zum Iran verbessern ließe. Auf
Martin Scoreses Artikel über die
Sprache des Films haben wir schon letzte Woche hingewiesen.