Magazinrundschau

Kurzform für erotische Intrige

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.11.2013. Reuters untersucht, wie der Ayatollah Khamenei zu 95 Milliarden Dollar kam. Die Bretonen sind keine Linken, sie mögen nur Paris nicht, erklärt Le Monde. In London gilt Karl Ove Knausgards Werk als Kathedrale der Langeweile, erzählt Zadie Smith in der NYRB. Auch die Mittelschicht wählt Jobbik, weiß Magyar Narancs. Der New Yorker verliebt sich in das Google-Auto. Vanity Fair besucht die Schwulensaunas des Vatikan.

Reuters (USA), 11.11.2013

In einer sehr detaillierten Recherche beschreiben Steve Stecklow, Babak Dehghanpisheh und Yeganeh Torbati das iranische Firmengeflecht Setad, mit dem sich Ayatollah Khamenei ein gigantisches Imperium aufgebaut hat und das Reuters auf einen Wert von 95 Milliarden Dollar schätzt. Setad besitzt Immobilien und Anteile an allen wichtigen iranischen Branchen, an Ölindustrie, Telekommunikation, aber auch Straußenfarmen und der Produktion von Anti-Baby-Pillen. "Reuters hat keinen Hinweis gefunden, dass Khamenei Setad benutzt, um sich selbst zu bereichern. Aber Setad verleiht ihm Macht. Über Setad stehen Khamenei finanzielle Mittel zur Verfügung, deren Wert die Besitztümer des Schahs übertrifft. Wie Setad an dieses Vermögen kam, spiegelt wider, wie der 1979 gestürtzte Monarch an einen Großteil seines Besitzes kam - durch das Beschlagnahmen von Immobilien. Reuters sechsmonatige Recherche hat ergeben, dass Setad sein Reich auf der systematischen Enteignung von tausenden Häusern gewöhnlicher Iraner aufgebaut hat: Von Mitgliedern religiöser Minderheiten wie den Bahai und den Schiiten, von Geschäftsleuten und Iranern im Ausland."
Archiv: Reuters
Stichwörter: Pille, Reue, Enteignungen, Schiiten

Le Monde (Frankreich), 14.11.2013

"Arbeitgeber und Kirche schicken die Dummköpfe auf die Straße", so hat der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon die Proteste der "Bonnets rouges" in der Bretagne kommentiert. "So hat seit Jahrzehnten niemand mehr über die Bretonen gesprochen", schreibt empört der bretonische Autor Yannick Le Bourdonnec an die Adresse der "linken Zentralisten" in Frankreich. Die Bretagne hatte zu sechzig Prozent für François Hollande gestimmt, und doch sei sie für die klassische Linke in Frankreich schwer zu verstehen: "Was manche Beobachter am meisten irritiert sind diese sichtbare Gemeinschaftlichkeit jenseits sozialer Kategorien und die Bezüge zu einer Geschichte, die oft gegen Paris gemacht wurde. Nicht Klassenkampf liegt in diesen Protesten, sondern Entschlossenheit, eine Heimat zu verteidigen."
Archiv: Le Monde

New York Review of Books (USA), 05.12.2013

Zadie Smith denkt über die italienische Renaissance, das Menschsein und den toten Körper nach und kommt schließlich auf Karl Ove Knausgards megalomane Lebensbeschreibung zu sprechen, die im Original und in allen Sprachen "Mein Kampf" heißt und das Leben des Autors en detail festhält. In New York, erzählt Smith, vergeht keine Literati-Party, ohne dass über Knausgard diskutiert werde: "Wenn wir beim Essen über ihn reden - wie Groupies über ihre Lieblingsband - erscheinen mir die meisten Leute genauso wie ich überwältigt von der Zeit, die sie in Karl Oves Haut gesteckt hatten. Doch es gibt immer einen Einspruch. Einspruch gegen die Langeweile, die wahrscheinlich nicht einmal Knausgard selbst leugnen würde. Wie Warhol versucht er nicht mal, interessant zu sein. Aber es ist nicht die gleiche Langeweile, wie Warhol sie feierte, diese reine Form der Sinnlosigkeit, die einen "besser und leerer" macht. Knausgards Langeweile ist barock. Sie kommt in vielen Ausprägungen: die Langeweile Kindergeburtstag zu feiern, Bier zu kaufen, verheiratet zu sein, eine Familie zu haben, zu schreiben, man selbst zu sein. Es ist eine Kathedrale der Langeweile. Und wenn man sie betritt, sieht sie fast genauso aus wie diejenige, in der man selber lebt."

(In n+1 preist Sophie Pinkhams Knausgards Opus als überwältigend kunstloses und wahrhaft skandinavisches Meisterwerk, das in Norwegen auch sehr konkret eingeschlagen hat: "Viele seiner Verwandten waren empört, einige haben jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Seine Frau verfiel in manische Depressionen, als sie das erste Manuskript las.")

Weiteres: Michael Tomasky staunt, dass die Republikaner nach ihrem großen Debakel schon wieder Oberwasser in Washington haben. Graham Robb vergnügt sich mit Richard Holmes' Geschichte der Ballonfahrt "Falling Up".

Magyar Narancs (Ungarn), 31.10.2013

Vor kurzem wurde in Budapest mit Hilfe und Teilnahme der rechtsextremen Partei Jobbik eine Büste des Reichsverwesers Miklós Horthy eingeweiht. Gleichzeitig versucht die rechtsextreme Partei mit einer ganz neuen Werbestrategie - hübsche junge Menschen und neutrale Aussagen - ihre Zukunft zu sichern. Den Zweck dieser Wohlfühlkampagne erklärt im Interview Péter Krekó, Direktor des Institutes Political Capital: "Der Grund für die Wende ist die sinkende Unterstützung der Partei seit Ende 2011. Die Führung hat erkannt, dass sich ihr Bewegungsraum verengt hat. Kein Wunder: Mit ihren Themen unterscheidet sie sich nicht mehr von der regierenden Fidesz." Die neue Imagekampagne soll vor allem mehr jüngere Wähler anziehen: "Nach unseren Untersuchungen kommen die Stammwähler der Jobbik aus den jungen, städtischen, gut situierten, intellektuellen Milieus. Denn Jobbik ist entgegen aller Stereotype auch eine Partei des Mittelstandes und nicht nur eine der Verlierer."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Fidesz

New Yorker (USA), 25.11.2013

Burkhard Bilger schildert den steinigen Weg einiger Google-Ingenieure und ihrer Erfindungen zum selbstfahrenden Auto. Google ist bedenklich nah dran. Seine erste Fahrt mit einem dieser Autos beschreibt Bilger so: "Worüber ich überhaupt nicht nachdachte, war meine Sicherheit. Anfangs war es ein bisschen seltsam zu sehen, wie sich das Lenkrad von selbst bewegte, aber das ging schnell vorbei. Das Auto wusste ganz offensichtlich, was es tat. Wenn der Fahrer vor uns in die Bremse trat, hatte der Lexus schon verlangsamt. Wenn der Fahrer neben uns in unsere Spur einbog, wich der Lexus aus. Seine Sensoren konnten so weit in jede Richtung blicken, dass der Wagen neue Verkehrssituationen lange vor uns wahrnahm. Es hatte etwas Vornehmes: Der Wagen zog sich zurück, um andere vorbeizulassen, er glitt in Lücken, hielt ohne Hektik Schritt, wie ein Tänzer in eine Quadrille."
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Selbstfahrendes Auto

Economist (UK), 16.11.2013

Der Economist wagt einen Blick in die Zukunft, in der spätestens mit GoogleGlass Kameras allgegenwärtig sein werden. Noch ist die Technik ohne automatisierte Gesichtserkennung angelegt, insbesondere auch wegen der Datenschutzbestimmungen in einigen Ländern. "Bei der Gesichtserkennung handelt es sich um eine Technologie, die, genau wie im Fall der Drohnen, alle möglichen Formen von Überwachung weltweit begünstigen könnte. Unvermummte Demonstrationen in repressiven Staaten könnten sich damit erledigt haben. Auch liegt das Potenzial zum Missbrauch durch Privatmenschen offensichtlich auf der Hand. ... Auch wenn Privatenmenschen sich die Gesichtserkennung nicht zunutze machen, kann man davon ausgehen, dass Regierungen es tun werden - vielleicht nur unter besonderen Umständen, vielleicht aber auch nicht. In den USA verlangen richterliche Anordnungen, um Daten von Facebook zu erhalten, häufig auch alle hinterlegten Fotos, auf denen der Verdächtige von Freunden markiert wurde (auch wenn das Unternehmen dem nicht immer Folge leistet)."
Archiv: Economist

Philadelphia (USA), 01.11.2013

Religiöser Wahn tötet auch in westlichen Gesellschaften noch Menschen. Das Ehepaar Herbert und Catherine Shaible steht in Philadelphia wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht, weil zwei ihrer Söhne an unbehandelten Krankheiten gestorben sind. Sie sind Mitglieder des First Century Gospel, einer strengen christlichen Gemeinde, die die Einnahme von Medikamenten verbietet und sogar Sicherheitsgurte und Brillen als Vertrauensbruch gegenüber Gott ablehnt. Robert Huber gewährt einen Einblick in die Weltanschauung der First Century, nach der Gott die alleinige Macht hat - und die Schuld doch immer beim Menschen liegt, wie Pastor Clark erklärt: "'Gottes Heilungskräfte waren wegen eines spirituellen Mangels bei Herb und Catherine beeinträchtigt. Das könnte an allem Möglichen gelegen haben, von einer falschen Einstellung bis zu ehebrecherischen Gedanken, irgendetwas erlaubte es Satan, das Leben der Kinder zu nehmen. Dessen sind sich Herb und Catherine sehr wohl bewusst.' Mit anderen Worten: die Shaibles sind selbst schuld am Tod ihrer Kinder - aber nicht, weil sie nicht mit ihnen zum Arzt gegangen sind, sondern weil in ihrer Beziehung zu Gott etwas fehlte."
Archiv: Philadelphia
Stichwörter: Gospel, Medikamente

New Republic (USA), 25.11.2013

Als sehr viel weniger konsequent in ihrem Glauben erweist sich die Familie von Sun Myung Moon. Das ist bemerkenswert, weil Moon als Religionsstifter die Glaubensregeln - pro arrangierte Ehen, contra außerehelichen Geschlechtsverkehr - selbst definiert hat. Mariah Blake erzählt die spannende Geschichte der Familie Moon und ihrer Sekte, die seit den sechziger Jahren in Korea und den USA zu beträchtlichem Reichtum und Einfluss gelangt ist, als "eine komplizierte Saga, in der es um uneheliche Kinder, geheime Sexrituale, ausländische Spionagedienste und die Familie des US-Vizepräsidenten Joe Biden geht. Selbst nach Moons bekanntermaßen exzentrischen Standards war der Zusammenbruch seines amerikanischen Projekts äußerst spektakulär und seltsam."

Außerdem: Jed Perl nutzt die Nachricht vom 142 Millionen Dollar teuren Verkauf der "Three Studies of Lucian Freud" von Francis Bacon, um den Maler postum hinzurichten.
Archiv: New Republic

Rue89 (Frankreich), 17.11.2013

Französische TV-Serien sind in Hollywood ganz schön angesagt, berichtet Noémie Taylor stolz in Rue89. Allerdings handelt es sich nicht um die verschnarchten Produkte des Staatsfernsehens, sondern eher um Produktionen von Canal Plus, die in Los Angeles auf einer eigenen Messe präsentiert wurden: "Vor einigen Jahren wäre ein derartiges Ereignis in L.A. völlig undenkbar gewesen. Die Hollywoodgiganten haben nie ein großes Aufhebens um unsere bescheidenen Serien made in France gemacht. Aber seit einigen Monaten hat sich die Situation gedreht: Mit Serien wie 'Braquo', 'Engrenages' oder 'Les Revenants' hat Frankreich einen hübschen Erfolg erzielt - vor allem über Plattformen wie Hulu oder Netflix." Besonders erfolgreich, so Taylor, war sowohl in UK also auch in den USA die Serie "Les Revenants", die das Thema der Zombies modernisiert.
Archiv: Rue89
Stichwörter: Netflix, Rue89, Zombies, Zombie

American Prospect (USA), 13.11.2013

Jetzt wo China und Japan einen Literaturnobelpreis haben, möchte Südkorea auch einen. Dazu aber muss die koreanische Literatur international bekannter werden. Dafür soll das LTI (Literature Translation Institute) nun sorgen. Craig Fehrman trifft dessen Leiter Kim Seong-kon im angesagten, von Psy besungenen Seouler Viertel Gangnam: "'Wir haben glänzende Autoren', sagt Kim. Aber viele haben ihre Techniken oder Themen seit dem postkolonialen Zeitalter nicht modernisiert." Der Raum ihrer literarischen Welt ist so beschränkt", kritisiert er. Kim möchte, dass sie die Gründe, weshalb sie schreiben, neu denken - nicht für ein lokales, sondern für ein internationales Publikum. 'Sie sollten regelmäßig ausländische Schriftsteller lesen', sagt er, 'damit sie lernen, was die Hauptthemen und Belange international erfolgreicher Autoren sind.' Koreanische Literatur braucht mehr Ironie, Ambiguität und Experimentierfreude."

Harold Meyerson schildert in einer großen Reportage, wie stark Einkommen und Macht des amerikanischen Arbeiters in den letzten vierzig Jahren abgenommen haben. "In den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebten die Vereinigten Staaten großes Wachstum wie auch steigende Gleichheit, eine Kombination, die zur Verwechslung einer historischen Einmaligkeit mit den Theorien konservativer Ökonomen führte. 1973 lag der Anteil der Amerikaner, die in Armut lebten, bei 11,1 Prozent. So tief sollte er nie wieder sein."

New York Magazine (USA), 18.11.2013

Kathryn Schulz gesteht ihre absolut verstörende Abhängigkeit von dem kleinen blauen Vogel. Wie schafft Twitter es nur, dass man derart süchtig wird nach diesen Kurznachrichten? Gerade für Schriftsteller ist die Gefahr ihrer Ansicht nach besonders hoch. "Twitter ist eben auch eine literarische Ausdrucksform, was in Ansätzen erklärt, warum ich es so verführerisch finde. Ein Tweet ist im Grunde ein Genre, bei dem man eine Information auf interessante Weise mitteilen will und dabei dessen Bedingungen einhalten (jene berühmten 140 Zeichen) und die sonderbare Geheimsprache benutzen muss (@, RT, MT, HT). Auf Leute, die diese Art von Herausforderung lieben - und es ist offenkundig, warum besonders viele Schriftsteller dazu gehören - übt Twitter denselben Reiz aus wie Spielen. Im Prinzip ist es Sentences With Friends."

Für die Titelgeschichte gewährt Taylor Swift dem Reporter Jody Rosen Zugang zu ihrem "Shabby-Chic Alice in Wonderland"- Reich in Nashville. Dort ergründet er das Mysterium, wie eine heute 23-Jährige, die gerne über unglückliche Highschool-Liebe singt, zum berühmtesten Popstar der Welt werden konnte. Ein Grund ist, dass sie Millionen junger Frauen als Projektionsfläche dient: "Eine Erklärung für Swifts enorme Popularität mag ihr Festhalten an der Rolle des unbeliebten Mädchens sein - 36,7 Million Twitter-Follower seien mal dahingestellt. Andere Diven verkörpern Unverwundbarkeit und schreiten wie Superheldinnen mit Kampfstiefeln durch ihre Videos. Swift entwirft ein anderes Image. (...) Im wahren Leben ist Swift zweifelsfrei der 'Cheerleader-Kapitän' - blond, langbeinig, selbstsicher, talentiert und, oh ja, weltberühmt. Aber in ihren Liedern wird sie zu einer Anderen: Der zweiten Geige, dem Mauerblümchen, der Außenseiterin."

Hier singt sie "I Knew You Were Trouble" bei den Brit Awards 2013:


Elet es Irodalom (Ungarn), 19.11.2013

Der erste Spielfilm von Mátyás Prikler aus Bratislava mit dem Titel "Köszönöm, jól" ("Danke, gut", mehr hier) läuft seit kurzem in den Kinos. Kritiker vergleichen die Filmsprache des talentierten jungen Regisseurs bereits mit der Filmkunst von Béla Tarr und John Cassavetes. György Báron gerät ins Schwärmen: "Nach langer Entbehrung gibt es wieder einen starken, ernsthaften, ungarischen Erstlingsfilm. Auch wenn er slowakisch ist. (...) Es sind keine fröhlichen Geschichten, doch Selbstmitleid sucht man hier vergebens. Kühl aus der Ferne, mit feiner Ironie folgt Prikler den Lebensstationen seiner Helden. Ein so natürliches Dasein kennen wir ansonsten von den jungen rumänischen Filmemachern, doch das Weltbild des jungen Priklers ist weniger katastrophisch."

Bloomberg Businessweek (USA), 07.11.2013

Paul Ford beschreibt anschaulich, welch komplexe Technologie in einem Tweet mit nur 140 Zeichen versteckt ist. Sie macht möglich, dass er für sich stehen und so in andere Websites eingebettet werden kann. "Einmal geboren, sind Tweets auf sich gestellt und müssen ihren Weg in die Welt finden, wie frisch geschlüpfte Wasserschildkröten, die gegen die Brandung ankraulen. Zum Glück besitzen sie alle Information, die sie brauchen, um zu überleben: Ein Tweet kennt die Identität seines Schöpfers, egal ob Mensch oder Maschine, sowie Entstehungsort, -datum und -uhrzeit und Dutzende anderer kleiner Dinge - sodass der Tweet wiederhergestellt werden kann, egal wo er sich befindet. In tausenden von Jahren könnte ein intelligentes Wesen, das sich über einen einzigen Tweet beugt, Rückschlüsse auf eine ganze Kultur ziehen, wie ein Archäologe aus einem alten Totenschädel."

London Review of Books (UK), 21.11.2013

Adam Shatz rekonstruiert die Hintergründe des 2011 in Jenin ermordeten Aktivisten und Theatermachers Juliano Mer-Khamis, der das Freedom Theatre im Flüchtlingslager von Jenin gegründet hatte und davor erschossen wurde. Als Sohn eines palästinensischen Vaters und einer jüdischen Mutter galt er gemäß den Statuten Israels als Jude und israelischer Staatsbürger, engagierte sich aber nicht nur für die palästinensische Sache, sondern auch ganz allgemein für die Befreiung von dogmatischem Zwang. Letzteres könnte ihm zum Verhängnis geworden sein: "Auch wenn er sein Leben der palästinensischen Sache verschrieben hatte, starb er nicht durch eine israelische Kugel. Der Mann, der ihn erschoss, war Palästinenser, wahrscheinlich aus dem Flüchtlingslager: niemand sonst hätte gewusst, wie man sich hier durch die Straßen bewegen und so schnell verschwinden konnte. Bei dem Mord dürfte es sich um eine Botschaft von den Kräften innerhalb des Lagers handeln. Ganz offen hatte Juliano die erdrückenden Auswirkungen des Patriarchats, der Geschlechterungleichheit und des religiösen Dogmatismus angesprochen. ... Unter den Fürsprechern der 'Tradition' machte ihn das genauso wenig beliebt wie die Theaterproduktionen, bei denen jugendliche Mädchen und Jungen gemeinsam auf der Bühne standen. ... Für einige sah es so aus, als wäre Juliano mit der Absicht gekommen, eine Jugendrevolte anzuzetteln. Es sei alles Teil eines israelischen Plans, um den Widerstand zu schwächen."

Außerdem: John Lanchester verfeinert seine Kochkünste mittels kostenfreien Uni-Online-Seminaren aufs mathematischste. Anne Diebel liest eine neue Henry-James-Monografie. Und Julian Bell besucht eine Daumier-Ausstellung in London.

La vie des idees (Frankreich), 18.11.2013

Jean-Marc Dreyfus liest die französische Übersetzung des Buchs "Soldaten - Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" von Sönke Neitzel und Harald Welzer, das die Gewalt deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg aus der Gruppendynamik unter Soldaten erklärt - und ist irritiert: "Die Schlussfolgerungen des Werks sind weithin unerwartet (obwohl der Leser schon in der Einführung darauf vorbereitet wird). Demnach kann die Gewalt der deutschen Soldaten nicht als anders definiert werden als die Gewalt anderer Soldaten - und tatsächlich wird mit amerikanischen Soldaten in Vietnam oder dem Irak verglichen... Dieser Schluss der Autoren ist angesichts des Reichtums ihrer Analysen enttäuschend. Beunruhigend gar, weil er durch Verallgemeinerung womöglich das Risiko einer Relativierung der Naziverbrechen eingeht."

Vanity Fair (USA), 01.12.2013

Michael Joseph Gross glaubt nicht an eine "schwule Lobby" im Vatikan, wohl aber daran, dass es eine Menge schwuler Priester gibt - etwa 20 bis 60 Prozent schätzt er. Fröhlich trägt er allen Klatsch weiter, den er aufgeschnappt hat (zum Beispiel über "La Maledetta"), aber stellt auch klar: "Der Vatikan hütet seine Geheimnisse so streng, dass die NSA dagegen wie ein Haufen schludriger Trunkenbolde aussieht. Doch Dutzende Interviews mit gegenwärtigen und früheren schwulen Priestern, schwulen Mönchen, alten Vatikanjournalisten, italienischen Aristokraten und schwulen Männern in Sportclubs, Bars, Nachtclubs, Sexclubs und Restaurants legen nahe, dass die saftigen Geschichten, so spannend sie auch sein mögen, nur einen Teil der schwulen Wirklichkeit im klerikalen Leben Roms ausmachen. Schwul zu sein, ist im Vatikan keine Garantie für einen Aufstieg, kein Zeichen von Dazugehörigkeit und keine Kurzform für erotische Intrige. Vor allem ist es eine Verurteilung zur Isolation. Schwule im Vatikan sind Geschöpfe einer mörderischen Bürokratie, deren dogmatische Weltsicht ihre eigene Existenz leugnet oder verleumdet."
Archiv: Vanity Fair