Magazinrundschau

Atonale Geschichtsschreibung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag
30.05.2014. Der New Yorker begibt sich unter die israelischen Expats in Berlin. Rue 89 denkt über Open Source in der Medizin nach. Bloomberg Businessweek hört "Stairway to Heaven" von Randy California. Der spanischsprachige Buchmarkt gehört den Deutschen, meldet die Revista Anfibia. Elet es Irodalom sucht nach der Zwölftontechnik der Geschichtsschreibung. Die New York Times sorgt sich um unseren von Hackern bedrohten Vagusnerv. Im Guardian erklärt der Juraprof Eben Moglen: Der Kampf gegen Massenüberwachung ist so legitim wie der Kampf gegen die Sklaverei.

Guardian (UK), 27.05.2014

In einem so inspirierten wie informativen 17-seitigen Artikel erklärt der amerikanische Juraprofessor Eben Moglen, wie sehr global spionierende Geheimdienste inzwischen unsere Demokratie bedrohen und was wir dagegen tun können. Moglen stellt dabei mehrere interessante Vergleiche an, darunter den der Überwachung mit der Sklaverei. Gegen beide war und ist Widerstand erlaubt, selbst wenn Gesetze diesen Widerstand verbieten: "Ein Teil unserer Tradition besagt, dass die Freiheit von unterdrückerischer Kontrolle allen Menschen überall zusteht, als Recht. Er besagt, dass Sklaverei einfach falsch ist, dass sie nicht toleriert oder gerechtfertigt werden kann, weil der Sklavenhalter Angst oder ein Sicherheitsbedürfnis hat. ... Wir sollten gegen die Methoden des Totalitarismus kämpfen, weil Sklaverei falsch ist. Weil die Überwachung der gesamten Menschheit durch Sklavenhalter falsch ist. Weil das Bereitstellen von Energie, Geld, Technologie und eines Systems, das die Privatsphäre aller Menschen auf der Welt kontrolliert, falsch ist." Dies aber, der Kampf gegen die Überwachung, sei - wie der Umweltschutz - nicht nur die Aufgabe einer Nation, sondern könnte nur gemeinsam in Angriff genommen werden. Und das bedeute auch: "Die deutsche Kanzlerin muss aufhören, über ihr Mobiltelefon zu reden und statt dessen darüber reden, ob es okay ist, die Telefonanrufe und Textnachrichten aller Deutschen an die USA zu liefern."

Auch in Indien rast die Zeit, aber niemand weiß wohin. Pankaj Mishra wütet im Guardian gegen Narendra Modi, der mit seiner BJP die Wahlen so eindeutig gewonnen hat. Und er schreibt: "Modis Image als ein Exponent von Disziplin und Ordnung baut auf die Erfolge wie auf die Versäumnisse des alten Regimes. Er bietet, von oben nach unten, Modernisierung ohne Moderne: Hochgeschwindigkeitszüge ohne jede Kultur von Kritik, die Effizienz des Managements ohne die Garantie gleicher Rechte. Und dieses stromlinienförmige Design für ein neues Indien ist verlockend für die wohlhabenden, von den bettelarmen Massen abgestoßenen Inder, denen die Demokratie schon lange ein Ärgernis ist, und für die technokratischen, leicht despotischen "Macher", wie Lee Kuan Yew, den ersten Premierminister von Singapur."

Weitere Artikel: Bemerkenswert findet es der Jurist Philippe Sands bei der Lektüre von Glenn Greenwalds "No Place to Hide", wie skrupulös Greenwald, Edward Snowden und Laura Poitras über die Legitimation ihrer Enthüllungen nachgedacht haben - im Gegensatz zu den britischen Medien: "Großbritannien braucht eine echte Debatte über die Macht des Staates, Information in dem Maße zu sammeln, wie Snowden berichtet, inklusive der Ziele und Grenzen." David Runciman denkt darüber nach, ob man Politiker durch Informatiker ersetzen sollte. Mehr als nur eine Steampunk-Mode sieht der Komponist Christopher Fox in dem Revival alter Aufnahmentechniken, gerade weil heute alle Musik der Welt jederzeit verfügbar und endlos ist.
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.05.2014

Seit Monaten wird in Ungarn heftig über das in Budapest entstehende Denkmal für die NS-Besatzungszeit debattiert. Ungarn, so lautet die Kritik, werde auf dem von der Orbán-Regierung geplanten Monument als reines Opfer dargestellt, obwohl die damalige Regierung um Miklós Horthy eng mit den Nazis kollaborierte. Auf der kürzlich von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) veranstalteten Konferenz "Historische Erinnerung und Geschichtswissenschaft" hielt der Kunsthistoriker Ernö Marosi einen Vortrag über das Denkmal, den Élet és Irodalom abdruckt: "Hier, bei der Sitzung der Abteilung für Philosophie und Geschichte, wäre die logische und zu klärende Frage, ob es eine atonale Geschichtsschreibung gibt, etwas, das in der Kunstgeschichte der Zwölftontechnik oder der Serialität gleichkommt. Es ist ersichtlich, dass wir erst bei der Festlegung der Ausgangsfragen sind, von deren Stellung und Diskussion uns nicht zuletzt die von Adorno als Barbarei bezeichnete Verdinglichung abhält. Der Historikerstreit ist bei uns ausgeblieben. Wenn er stattgefunden hätte, müssten wir heute nicht mit ernster Miene eine an sich banale und kleinliche Angelegenheit verhandeln, sondern wussten diese an ihrem natürlichen Platz: in der Reihe der schamhaften, weil unkultivierten Hässlichkeiten."

New Yorker (USA), 19.05.2014

"Bitte schreib nicht noch so einen Gay-Israeli-Disco-Artikel", hat ein in Berlin lebender Israeli der New Yorker-Autorin Sally McGrane gesagt, als sie ihm sagte, dass sie einen Artikel über Israelis in Berlin schreiben wolle. Über zehntausend junge Israelis leben inzwischen in Berlin, schätzt sie. Sie lassen sich von der Berliner Schluffigkeit inspirieren - und dann werden sie wieder gehen, meint sie und zitiert Rotem Malach, der in Berlin für eine zionistische Organisation arbeitet: "Berlin zwingt einen zu einem bescheidenen Lebensstil. Die Leute werden aus Berlin mitnehmen, was sie über sich selbst verstanden haben. Sie haben gelernt, mit weniger Arbeit zufrieden zu sein, ohne vier Besuche in schicken Restaurants pro Woche auszukommen und ohne permanent am kapitalistischen Rattenrennen teilzunehmen."

Außerdem: James Wood singt eine Lobeshymne auf Zia Haider Rahmans Debütroman "In the Light of What We Know". David Denby sah im Kino James Grays "The Immigrant" mit Marion Cotillard und Amma Asantes "Belle".
Archiv: New Yorker

Rue89 (Frankreich), 28.05.2014

Greift der Open-Source-Gedanke am Ende noch in der Medizin um sich? Thierry Crouzet erzählt in Rue89 die erbauliche Geschichte des Schweizer Arztes Didier Pittet, der ein innovatives Mittel zur Desinfizierung der Hände entwickelte, das seitdem in Abertausenden Krankenhäusern rund um die Welt benutzt wird. Rechnungsweise acht Millionen Leben hat er durch die verbesserte Hygiene gerettet. Als er in Kenia sah, das die Afrikaner für das Mittel doppelt so viel Geld ausgeben müssen wie die Europäer, "entscheidet sich Doktor Pittet, die Formel zu veröffentlichen und daraus ein Gemeingut zu machen. Und damit all den Firmen, die sich auf dem Rücken der Kranken bereichern, das Geschäft zu vermiesen. Wie die meisten Wissenschaftler hätte Pittet ein Patent anmelden und eine wohlhabende Firma gründen können. Er hat sich entschlossen, seine Erfindung zu teilen."
Archiv: Rue89

Bloomberg Businessweek (USA), 26.05.2014

Muss die Musikgeschichte umgeschrieben werden? Das vielleicht nicht, aber einige Songs von Led Zeppelin brauchen neue Credits, schreibt Vernon Silver in Bloomberg Businessweek. Das Intro von "Stairway to Heaven" etwa hat unüberhörbar Ähnlichkeit mit dem Anfang des drei Jahre früher komponierten Stücks "Taurus" der LA-Band Spirit. "Zeppelin-Biografien legen solche Übereinstimmungen zugunsten von Jimmy Page aus. Sie nennen ihn einen Verwandler. Mick Wall, Autor des Buchs "When Giants Walked the Earth: A Biography of Led Zeppelin", meinte, wenn Page von "Taurus" beeinflusst war, "dann tat er damit dasselbe wie jemand, der ein Stück Holz im Garten aufsammelt und daraus eine Kathedrale baut". Aber Songwriter, von denen Led Zeppelin sich haben inspirieren lassen, waren in den letzten Jahrzehnten öfter erfolgreich mit ihren Klagen. Seit ihrem Debütalbum 1969 hat die Band Credits und Tantiemen für einige ihrer größten Songs teilen müssen, darunter "Whole Lotta Love" und "Babe I"m Gonna Leave You". Eine Klage wegen Urheberrechtsverletzung wegen "Dazed and Confused", ein grundlegender Song, der das Herzstück ihrer Live Shows war, wurde 2012 beigelegt. Das Internet hat den Vergleich durch Amateur-Plagiatsjäger einfacher werden lassen." Hier kann man die Intros von "Stairway to Heaven" und "Taurus" im Vergleich hören.

Die Titelgeschichte befasst sich mit dem schleichenden Niedergang von IBM. Und Joshua Brustein schreibt über Spotify, das 2012 nicht mehr ganz so viel Verlust machte wie 2011: "In der Streaming Musikindustrie ist das Fortschritt."

Revista Anfibia (Argentinien), 18.05.2014

Die Konzentration auf dem Buchmarkt schreitet brachial voran, der neue Medienriese Penguin Random House hat gleich auch noch die Buchverlage der spanischen Prisa-Gruppe geschluckt, zu der ansonsten etwa El País gehört. Unter dem Titel "Zentralmarkt" zeigt Daniela Szpilbarg in der argentinischen Revista Anfibia, was die Übernahme bedeutet: "Der deutsche Konzern Bertelsmann - Mehrheitseigner von Penguin Random House - hat damit in Spanien wie auch in ganz Lateinamerika, Brasilien eingeschlossen, nur noch einen einzigen Konkurrenten, die Verlagsgruppe Planeta. Und die Werke von Isabel Allende, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Gabriel García Márquez, José Saramago, Mario Vargas Llosa, Carlos Ruiz Zafón und hunderter weiterer spanisch- und portugiesischsprachiger Autoren erscheinen künftig bereits im Original allesamt unter ein und demselben - mehrheitlich deutschen - Dach."
Archiv: Revista Anfibia

New York Times (USA), 25.05.2014

Das Magazin der New York Times hat einen Themenschwerpunkt Gesundheit. Ein spannender Beitrag von Michael Behar behandelt das Feld Bioelektronik und die Hypothese, dass zwischen Nerven- und Immunsystem eine Verbindung besteht. Kann die elektrische Stimulation des Vagusnervs Entzündungskrankheiten wie Arthritis abwenden? Und wenn ja, wie geht die Sprache dieser Krankheit? "Eine Herausforderung besteht darin, Krankheitssignale aus der Fülle "gesunder", neuronaler Signale herauszufiltern und zu verstehen, wie die Krankheit mit dem Nervensystem kommuniziert. So wie Computer sprechen auch Neuronen eine binäre Sprache, ihr Vokabular funktioniert nach dem Prinzip an/aus. Abfolge, Intervall und Intensität des An/Aus bestimmen die Informationsübertragung. Da jede Krankheit jedoch ihre eigene Sprache spricht, braucht es einen Übersetzer. Der Harvard-Physiker Adam E. Cohen und seine Kollegen setzen auf Optogenetik. Anstatt mittels Licht Neuronen zu aktivieren, verwenden sie Licht, um Neuronen-Aktivität aufzuzeichnen." Bleibt die Frage der Sicherheit. Auch wenn Bioeletronik weniger Nebenwirkungen verspricht als konventionelle Medizin, arbeitet sie doch mit Mitteln, die heikel sind. "Bioelektrische Implantate arbeiten mit kabelloser Justierung und Updates, so wie die Software auf einem iPhone. Kabellos aber bedeutet "hackable", manipulierbar. Eine beunruhigende Tatsache."

Außerdem: Jeneen Interlandi berichtet von einer neuen revolutionären Behandlungsmethode für posttraumatische Belastungsstörungen. Und Gretchen Reynolds berichtet von einer Studie mit neuen Erkenntnissen zum Abnehmen. Auf den Technologieseiten warnt Danny Hakim, dass es mehr als ein Gerichtsurteil braucht, um im Netz "vergessen" zu werden. Und John Markoff berichtet von Fortschritten bei der Teleportation von Daten, was Einsteins Diktum zur Quantenmechanik endgültig widerlegen könnte.

In der Sunday Book Review besprach Michael Lewis die Erinnerungen des vorletzten Finanzministers der USA, Timothy Geithner. Und Anne Enright besprach Edward St. Aubyns Roman "Lost for Words".
Archiv: New York Times