Magazinrundschau

Denken in Systemen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.12.2014. Die Zukunft der Medien schreiben die 13-Jährigen, ahnt der New Yorker. In Linkiesta beschreibt der Übersetzer Paolo Attivissimo die Geburt der Verschwörungstheorie aus dem Stammesdenken. Gedichte schreiben ist heute eine Heimarbeitsindustrie, fürchtet der Lyriker Jaswinder Bolina bei der Poetry Foundation. Das Brooklyn Magazine betrauert den Niedergang der Musikblogs. Der Rolling Stone zieht nach 13 Jahren Afghanistankrieg bittere Bilanz. Der Guardian kritisiert die neuen britischen Porno-Regeln: kein Vergnügen mehr für Frauen, Schwule und Lesben.

New Yorker (USA), 15.12.2014

Sind Youtube und Vine heute, was Kabel 1992 fürs Radio war? Vor allem Teenager nutzen die Video-Plattformen für Unterhaltungsformate, die sie mit unglaublicher Professionalität erstellen. Das im Schnitt zwei- bis siebenminütige Ergebnis kann wohl auch nur Teenagern gefallen. Und so erlebte Tad Friend in diesem Sommer auf der You-Tube-Konferenz VidCon so etwas wie eine Mai-Dezember-Romanze, die die mittelalte Generation völlig außen vor ließ: Hier die jungen Videostars und ihre Fans, die "nicht verdienen wollen, sondern anbeten". Dort Jeffrey Katzenberg, 63-jähriger CEO von Dream Works, das im letzten Jahr für 33 Millionen Dollar AwesomenessTV gekauft hat, eine Firma, die YouTube Stars managed. ""In fünf Jahren wird YouTube die mit Abstand größte Medienplattform in der ganzen Welt sein", sagte mir Katzenberg. Aber der digitale Reich ist kein Land für alte Männer. Jüngere, leichtfüßigere Formen und Stars, die kaum jemand über 13 Jahre versteht, tauchen immer schneller auf. Youtube ist bereits dabei, seine Vorrangstellung bei Teenagern an Vine abzugeben, eine im letzten Jahr gestartete App, die Sechs-Sekunden-Videos im Loop zeigt. Die größten Stars bei AwesomenessTV sind die Teenage Viners Cam und Nash: Cameron Dallas und sein Nash Grier, ein Bengel mit babyblauen Augen, der mit 16 Jahren zehn Millionen Follower hat. Rob Fishman, Mitbegründer von Niche, einer Agentur, die Viners mit Anzeigenkunden in Kontakt bringt, stellt fest, dass ein unrasierter Kundenbetreuer seiner Firma nach wenigen Monaten mehr Besucher hat als die gedruckte Auflage der New York Times."
Archiv: New Yorker

Linkiesta (Italien), 05.12.2014

Dario Ronzoni unterhält sich in Linkiesta.it mit dem Journalisten und Übersetzer Paolo Attivissimo, der in seinem populären Blog Il Disinformatico gegen Verschwörungstheorien kämpft. Zwei psychologische Ursachen nennt er für diese grassierende Symptomatik: "Die erste ist die Furcht, vor allem, was anders ist. Im anderen sehe ich den Grund meiner Probleme, und der andere ist diese oder jene Gruppe, die von der Mehrheit getrennt ist. Die Schuld liegt dann bei den Juden, den Freimaurern, den Einwanderern, den Rom und so weiter. Es ist ein Stammesdenken, das einen selbst zugleich von Verantwortung entlastet und einen Feind schafft." Die zweite Ursache liegt darin, "dass man anfängt, nur noch mit Personen zu verkehren, die genauso denken. Es werden nur noch Bestätigungen gesucht und Widerlegungen gemieden. Es kommt zu einem Prozess der Selbstbestätigung und der gemeinschaftlichen Isolation."
Archiv: Linkiesta

Poetry Foundation (USA), 01.12.2014

Der Dichter Jaswinder Bolina legt einen glänzenden Essay über Lyrik in Zeiten der Creative Writing-Studiengänge und einer insiderhaften Szene von Literaten und Literaturfunktionären vor, die in der Association of Writer und Writing Programs (AWP) organisiert sind. Er skizziert, wie Autoren aus weniger begünstigten Schichten durch diese Programme ihre Sprache verlieren, und er fürchtet, dass die Lyrikszene in den USA insgesamt steril wird: "Was über Jahrhunderte meist nur begüterten weißen Männern zugänglich war, ist zu einer regelrechten Heimarbeitsindustrie geworden, in der sich Tausende etablierter und ehrgeiziger Autoren tummeln. Trotz ihrer Größe war diese Industrie unfähig, den Massen Lyrik näher zu bringen. Statt dessen wird sie zur Ressource für uns, zum Material für Lebensläufe und Bewerbungsmappen. Wir schreiben nur noch für uns selbst." Bolinas Essay ist auch lesenswert, weil er viele Links zu aktuellen Debatten über Lyrik in den USA setzt.

El Pais Semanal (Spanien), 09.12.2014

"Die Gesellschaft muss bereit für die Wahrheit sein, die sie einfordert." Rebeca Grynspan, die erste Frau an der Spitze der Iberoamerikanischen Gemeinschaft, also der Organisation der Staaten Lateinamerikas wie auch Spaniens und Portugals, spricht im Interview mit Jesús Ruiz Mantilla über die aktuelle Situation in Spanien und Lateinamerika: "Eine der schwierigsten Aufgaben für eine Demokratie ist es, bestimmte heikle Themen in Angriff zu nehmen. Transparenz bringt genau das mit sich, und wir befinden uns jetzt im Zeitalter der Transparenz. Mit den Folgen, die sich aus dieser - durchaus erwünschten - neuen Situation ergeben, muss man allerdings auch umgehen können. So hart die damit verbundenen Prozesse sein mögen, es lohnt sich, sie in Gang zu setzen und die Botschaft auszusenden, dass es Verhaltensweisen gibt, die heute einfach nicht mehr hingenommen werden können. In jedem Fall hat mich die Erfahrung gelehrt, falsche Gegensätze wie "Staat" und "Markt", "Zivilgesellschaft" und "Regierung" zurückzuweisen - beide müssen gemeinsam handeln, davon bin ich als waschechte Sozialdemokratin überzeugt."
Archiv: El Pais Semanal

Brooklyn Magazine (USA), 08.12.2014

Chris Chafin erzählt im Brooklyn Magazine vom Niedergang der Musikblogs, die noch vor ein paar Jahren zu einer Hoffnung für die Musikszene im Medienwandel geworden waren und dann zusehends konventionell wurden oder in die Hände fantasieloser Medienkonzerne fielen. Ein neues Modell versucht The Wild Honey Pie, eine Website, in der Eric Weiner mit Hilfe von Sponsoren Videos produziert und präsentiert und versucht, eine Community zu schaffen. Das hat seinen Preis: " The Wild Honey Pie hat keine Werbung. Aber andersherum gesehen ist The Wild Honey Pie nichts als ein einziger Werbespot... Wenn er seine Sponsorenliste zitiert, setzt Weiner auf jeden Namen einen enthusistischen Akzent. "Squarespace! MailChimp! Baked by Melissa! Newcastle!" Noch nie habe ich jemanden den Namen einer Cupcake-Bäckerei mit mehr Staunen und Bewunderung aussprechen hören."

Time (USA), 15.12.2014

Lev Grossmans Riesenporträt über Mark Zuckerberg in Time hat vor allem wegen der Interviewäußerungen, in denen Zuckerberg Apple angreift, viel von sich reden gemacht. Sicher nicht ohne Erinnerung an Steve Jobs charakterisiert Grossmann den Facebook-Gründer so: "Er ist extrem intelligent, aber er hat nichts von jenem übertriebenen Selbstbild oder Selbstzweifel, die eine solche Intelligenz häufig begleiten. Seine Seele ist, wie sein Jungengesicht, ganz ohne Falten. Seine Bewegungen sind zielgerichtet: Wenn er etwas will, dann hetzt er seinen mächtigen und gefräßigen Verstand darauf und kommt dann in der Regel mit der Beute, die er sanft zwischen den Kiefern hält und allenfalls ein bisschen gezaust hat, zurück."
Archiv: Time

Guardian (UK), 05.12.2014

Nach einer Ergänzung des Communication Act sieht sich die britische Pornoindustrie mit einer ganzen Reihe neuer Zensurauflagen konfrontiert: Zahlreiche Praktiken sind nun untersagt, die, wie dem Kommentar dieser Auflistung zu entnehmen ist, insbesondere auf die Darstellung des Vergnügens der Frau zielen. Für den Guardian hat Zoe Williams, die erst im November eine große Reportage über ethische Pornografie geschrieben hat, bei Sexarbeiterinnen und sexpositiven Feministinnen nachgefragt und ist dabei auf blankes Entsetzen gestoßen: "Die Liste der untersagten sexuellen Aktivitäten ergeben überhaupt keinen Sinn", hat ihr etwa die Domina Itziko Urrutia erklärt, "außer man liest sie als misogyne Vision weiblicher Sexualität, verfasst von Schuljungs, die noch immer Angst vor Mädchen haben. Die chaotische, dämonische weibliche sexuelle Energie muss unter allen Umständen gestoppt werden!" Und eine Bloggerin namens "Girl on the Net" berichtet: "Wirklich sonderbar ist diese eine Sache mit dem Spanking, das verboten ist, sofern es nicht moderat ist und dazu eingewilligt wurde. Naja nun, wer entscheidet denn jetzt, was moderat ist? Als lustvoll perverse Person bin ja wohl ich diejenige, die darüber entscheidet - so wurde mir das jedenfalls mal beigebracht. Eine dritte Partei kann nicht für mich bestimmen, in was ich einwillige."

Auch Suzanne Moore hat in ihrem Kommentar nichts als Unverständnis für diese Gesetzgebung: "Die Art von Pornos, die jeder verdammt, also solche, zu der auch Kinder leichten Zugang haben, wird von Mainstreamkonglomeraten hergestellt. Hier geht es völlig in Ordnung, dass Frauen sich als Schulmädchen verkleiden, den Penis bis zum Anschlag in den Rachen geschoben bekommen und vollejakuliert werden. Was in diesem Land nun aber nicht mehr in Ordnung geht, sind jene Fetischfilme, in denen Frauen sich Stadtjungs schnappen, bestrafen und sie dazu zwingen, dabei feministische Texte zu rezitieren."

Dazu passend: ein aktueller TedX-Vortrag der feministischen Pornofilmemacherin Erika Lust darüber, dass Pornos sich ändern müssen:



Soziale Mobilität hat die britische Klassengesellschaft nie gern gesehen, und nach einem kurzen Aufschwung offenbar seit den achtziger Jahren auch wieder erfolgreich untergraben. Für den Historiker David Kynaston sind dafür ganz klar die Privatschulen verantwortlich, wie er auch dem Bericht von Alan Milburns Kommission zu Social Mobility and Child Poverty entnimmt: "Von hundert Top-Journalisten gingen 54 auf Privatschulen, das sind sieben Mal mehr als in den achtziger Jahren. Anderswo sieht es genauso aus: 71 Prozent der oberen Richter, 62 Prozent der höheren Offiziersränge in der Armee, 55 Prozent der Regierungsbeamten, 53 Prozent der höheren Diplomaten, 50 Prozent des Oberhauses. Als Zeichen einer "zutiefst elitären" und "geschlossene Gesellschaft" bewertete die Kommission diese Zahlen, die alle jene sieben Prozent der Bevölkerung übertrafen, die insgesamt Privatschulen besuchten. Milburns Worten ist schwerlich zu widersprechen: "Der Ausschluss von so vielen Talenten und Hoffnungen macht Großbritanniens führende Institutionen weniger informiert, weniger repräsentativ und schließlich weniger glaubwürdig, als sie sein sollten."

Außerdem zeichnen Ed Vulliamy und Helena Smith en détail jene Dekemvriana-Ereignisse von 1944 in Athen nach, die zu einem Massaker an linken Demonstranten durch die griechische Polizisten und britische Soldaten führten und den Auftakt zum griechischen Bürgerkrieg gaben.
Archiv: Guardian

Rolling Stone (USA), 04.12.2014

Nach dreizehn Jahren Afghanistankrieg zieht Matthieu Aikins eine bittere Bilanz: das Land wird beherrscht von Drogenbossen, die soviel Opium exportieren wie nie. Mitverantwortlich dafür ist - neben korrupten afghanischen Politiker - ausgerechnet Obamas Wunsch, die US-Truppen so schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen: "Obama hat dem Militär nur vier Jahre Zeit gegeben, mit 100.000 Mann in das Land rein- und rauszugehen, die Taliban zu besiegen und eine stabile afghanische Armee und Polizei aufzubauen. Am Boden siegten die kurzfristigen Erfordernisse für Kampfhandlungen und Logistik jederzeit über langfristige Anliegen wie Bekämpfung der Korruption, des Drogenhandels und der Menschenrechtsverletzungen. Notorische Figuren wie der Bruder des Präsidenten, Ahmed Wali galten als zu wichtig für den Krieg, um sie zur Verantwortung zu ziehen oder zu ersetzen."
Archiv: Rolling Stone

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.12.2014

Wer Thomas Pikettys Berliner Democracy Lecture vor einem Monat verpasst hat, kann sie nun auf der Website der Blätter nachhören. Piketty erklärt darin noch einmal, warum die Vermögen immer schneller anwachsen als die Wirtschaft insgesamt, wenn nicht staatlich gegengesteuert wird. Und er ruft zu einer allseitigen intellektuellen Kraftanstrengung auf, um die Ökonomie nicht den Ökonomen zu überlassen: "Es ist ja sehr bequem zu sagen: Ich weiß und verstehe nichts von Ökonomie. Denn es erlaubt, sich mit diesen Fragen nicht zu befassen, sich nicht zu engagieren und keine Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube und hoffe daher, dass der Erfolg des Buches zu der Einsicht beiträgt, dass die ökonomischen und finanziellen Fragen, die Fragen nach der Geschichte von Einkommen, Vermögen und Vermögensvererbung viel zu wichtig sind, um sie den Ökonomen zu überlassen, den Statistikern oder auch den Politikern. Diese Fragen stehen im Zentrum der Demokratie."

Außerdem: Wolf-Dieter Vogel beschreibt, wie Mexiko zu einem Mafiastaat verkommt und sich die Regierung vor allem um diplomatische Schadensbegrenzung bemüht. Albert Scharenberg versucht, die Flutwelle negativer Berichte zu überblicken, unter der die Regierung Obama zu versinken droht.

New York Times (USA), 07.12.2014

Das Ausmaß des Klimawandels muss als panoramatisches Ganzes erfasst werden, meint Rebecca Solnit in einem Essay: "Um den Klimawandel zu verstehen, muss man auf die Arten und ihre Zukunft schauen. Um zu begreifen, was sich alles verändert hat, muss man sich erinnern, wie es einmal war, damals, ohne Vögel, die einfach vom Himmel verschwinden, ohne Hitzewellen, Stürme und Waldbrände. Es gilt, über die einzelne Art hinaus das ganze System zu erfassen, das es den Arten zuallererst ermöglicht hat, sich zu entwickeln: Schwalben, Lachsen, Schildkröten, Mäusen und uns. Das Klima zu betrachten heißt, unsere Energiegewinnung zu überdenken. Aber vielleicht bedeutet es auch, die Geschichten anders zu erzählen. Befürworter fossiler Energien und die Leugner des Klimawandels lieben Geschichten von durch Solar- und Windanlagen getöteten Vögeln, die erneuerbare Energien kontraproduktiv erscheinen lassen. Die viel größeren Gefahren von Kohle, Gas und Kernenergie lassen sich hingegen nicht so gut erzählen."

Weitere Artikel: Von anderen tödlichen Zusammenhängen erzählt Veronique Greenwood, deren Urgroßtante in Marie Curies Laboratorium einst das radioaktive chemische Element Francium entdeckte und daran starb. Und Eliza Griswold stellt den syrischen Radioaktivisten Raed Fares vor, der wegen seiner Kritik am Assad-Regime um sein Leben fürchten muss.
Archiv: New York Times