Magazinrundschau

Hand aufs Knie

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
31.03.2015. In Eurozine denkt der Philosoph Alberto Toscano über Fanatiker nach. Der New Yorker porträtiert den Großen Vorsitzenden Xi Jinping. Vice erklärt, warum die Ugander heute über Gewalt lachen können. Telerama erinnert an das Schweigen über die Schoah in Israel. Im Guardian erklärt Will Self seine Liebe zu Wolkenkratzern. Wired beschreibt den Kampf um Sand. Die LRB versenkt sich in die Akten des MI5 über Eric Hobsbawm. New Criterion lehrt Griechisch in Malawi. Die NYT besucht die britische Künstlerin Sarah Lucas.

New Yorker (USA), 06.04.2015

Im aktuellen Heft des New Yorker porträtiert Evan Osnos Chinas Staatschef Xi Jinping, Vorsitzender von 87 Millionen Mitgliedern der chinesischen KP, Apparatschik mit äußerst bewegter Vergangenheit und Chinas autoritärster Politiker seit Mao, der am historischen Widerspruch von wirtschaftlicher Freiheit und politischer Zwangsjacke nichts ändern will: "Um wirtschaftliches Wachstum zu erhalten, will China Innovationen fördern, aber indem er die Universitäten politisch einfrieren lässt, riskiert Xi genau jenes disruptive Denken zu unterdrücken, dass das Land für seine Zukunft braucht. Manchmal gewinnt Politik die Oberhand über rationales Denken. 2014, nachdem China jahrelang in Wissenschaft und Technologie investiert hatte, übertraf sein Anteil an Forschung und Entwicklung den Europas. Aber als die Regierung die Gewinner der Preise für sozialwissenschaftliche Forschung verkündete, waren sieben von zehn Projekten einer Analyse von Xis Reden (offiziell bekannt als "Serie sehr wichtiger Reden des Generalsekretärs Xi") oder seines charakteristischen Slogans gewidmet: der chinesische Traum."

Jonathan Franzen macht sich Gedanken zum Klimawandel. Vielleicht lohnt es sich ja doch, CO2 einzusparen? "Das Problem ist, dass es keinen Unterschied für das Klima macht, ob ein Einzelner mit dem Auto fährt oder mit dem Rad. Der CO2-Ausstoß ist derart groß, die Mechanismen, die das Klima beeinträchtigen, so nichtlinear und die Effekte zeitlich und räumlich so weit zerstreut, dass mein ganz persönlicher Beitrag dazu nicht ersichtlich ist. Ich kann mich dafür kritisieren, überdurchschnittlich viel an CO2-Gasen zu emittieren. Aber wenn ich den durchschnittlichen jährlichen Verbrauch errechne, der nötig ist, um die globale Erwärmung in diesem Jahrhundert auf zwei Grad zu limitieren, muss ich feststellen, dass die Unterhaltung eines einfachen amerikanischen Einfamilienhaushalts diesen in nur zwei Wochen überschreitet."

Außerdem unterzieht sich Elif Batuman einer transkranialen Gleichstromstimulation, angeblich gut gegen Parkinson und Depression. Und Stephen Rodrick porträtiert die Besetzungschefin Allison Jones und Kelefa Sanneh porträtiert die Musikerin Katie Crutchfield, Gründerin der Indie-Band Waxahatchee. Lesen können wir außerdem Kamel Daouds Short Story "Musa".

Besprochen werden u.a. Susan Butlers Buch über Roosevelt und Stalin sowie zwei neue Bücher über die Konzentrationslager der Nazis - Sarah Helms ""Ravensbrück: Life and Death in Hitler"s Concentration Camp for Women" und Nikolaus Wachsmanns "KL: A History of the Nazi Concentration Camps".
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 31.03.2015

Nehad Selaiha berichtet vom Kemet Festival, einem Theaterfestival in Kairo für "heimatlose" Theatergruppen. Besonders gut gefallen hat ihr Mahmoud Tantawis Inszenierung "Al-Dokan", eine "intelligent komprimierte Version von Mikhail Romans Stück von 1960 über einen Intellektuellen, der von den Zwängen des Lebens und existenzielle Verzweiflung in die Drogensucht getrieben wird. Tantawi benutzt eine Anzahl von Holzblöcken und leeren Rahmen, die alle von den Schauspielern manipuliert werden. Sensible Beleuchtung, ein feingestimmtes Ensemble und beschwörende Musik verwandeln die Bühne in einen quälenden mentalen Raum, in dem fesselnde Bilder schweben, nachklingen, verblassen oder ineinander aufgehen. Obwohl es eine Amateurproduktion war, war es das beste Stück, das ich gesehen habe. Es hat die Preise für beste Darstellung, beste Dramaturgie, bestes Bühnenbild, beste Regie und den Spezialpreis der Jury für Schauspiel wohl verdient."
Archiv: Al Ahram Weekly

Guardian (UK), 27.03.2015

Autor Will Self bekennt seine völlig unerklärliche, wahnsinnige, hingebungsvolle Liebe zu Wolkenkratzern. Selbst Renzo Pianos Londoner Shard findet er gerade wegen ihres geradezu prometheischen Hochmuts einfach grandios: "J.G. Ballard wusste, dass die Wolkenkratzer im kollektiven Unbewusstsein deshalb eine große Rolle spielen, weil sie die traditionellen Proportionen des häuslichen Lebens infrage stellen. Darin folgte er Lévi-Strauss, der beobachtet hatte, dass "alle Verzerrungen im Maßstab das Wahrnehmbare zugunsten des Begreifbaren opfern". Ob klein wie im Architektenmodell eines Wolkenkratzers oder riesig wie der Wolkenkratzer selbst - der entscheidende Faktor ist das Fehlen einer gefühlten Erfahrung. Natürlich sind die aktuellen Mythen, die um die Wolkengipfel der Hochhäuser wehen, im säkularen Großbritannien wie auch in den religiös eher revanchistischen und laut tönenden USA zwangsläufig banal ... Doch auch die britischen Diochtomien sind alle Ableitungen der ursprünglichen: Unser Wille/Seiner und moralisch damit einhergehend: gut/böse."

Weiteres: Giles Tremlett schildert in einer großen Reportage den Aufstieg der spanischen Podemos-Partei, die Pablo Iglesias mit seinen Attacken auf den Finanzmarkt-Totalitarismus an die Spitze der Meinungsumfragen geführt hat. Charlotte Higgins porträtiert den YouTube-Künstler und Turner-Preisträger Mark Leckey, der in seinem Verlangen nach Bewunderung so absolut unprofessionell und gerade deshalb so berührend sei. Und angesichts eines überraschenden Revivals erklärt Charles Nicholl, dass Christopher Marlowes "Jude von Malta" nicht antisemitisch sei, sondern ein Stück über Antisemitismus.
Archiv: Guardian

Telerama (Frankreich), 29.03.2015

Yohav Oremiatzki erinnert an das Schweigen über die Shoah in der Gründungsphase Israels. Damals, so die Überschrift seines Artikels, hätten "Taube zu Stummen gesprochen": "Im unter Verwaltung stehenden Palästina fragt sich die Presse, wie nach dem Genozid die Zukunft zu gestalten sei. Und sie unterstützt die Aufnahme der Überlebenden im Schoße der Jischuw, indem sie sich auf die Zeitzeugen stützt. Dennoch "betrachtete man die Shoah immer aus einem lokalen Blickwinkel, sie machte nie die großen Schlagzeilen", betont der Historiker Tom Segev nach seiner Sichtung der Archive der Tageszeitung Haaretz." Man habe sie Ende 1942, als die ersten Überlebenden ins Land kamen und von den Gräueln berichteten, nicht als "nationale Katastrophe" aufgefasst, meint die Historikerin Hanna Yablonka und beschreibt die unmittelbare Reaktion darauf so: "Schock, Trauer, Ungläubigkeit. Dieser Schock ereignete sich jedoch, als die Bildung eines jüdischen Staats möglich wurde. Die Alternative war simpel: alles wieder aufwärmen und den Unabhängigkeitskampf möglicherweises verlieren oder verdrängen und sich der Zukunft zuwenden.""
Archiv: Telerama
Stichwörter: Israel, Segev, Tom, Shoah, Genozide

Vice (USA), 03.03.2015

Der Schriftsteller und Musiker Sam McPheeters erzählt die abenteuerliche Geschichte des ugandischen Filmemachers Isaac Nabwana, der sich mit günstigen, reißerischen Actionfilmen auf dem heimischen Markt erfolgreich behauptet. Im Ausland stoßen die mit billigen Spezialeffekten gestalteten Filme allerdings auf wenig Gegenliebe. Die Filme zeigen viel Gewalt, sind aber nicht die Spur sozialkritisch, was westliche Zuschauer oft vermuten lässt, Nabwana verherrliche reale Gewalt. Sie könnte nicht falscher liegen, erklärt McPheeters: "Auch wenn fünf benachbarte Staaten eine beträchtliche Menge an Grausamkeiten, Terror und Krieg, inklusiv zwei Völkermorden in zwei Jahrzehnten, erlebt haben, ist Uganda seit 1986 eine stabile, funktionierende Gesellschaft. Selbst die Verwüstungen von Joseph Kony und seinen Kindersoldatn beschränkten sich auf Städte im Norden und im Hinterland. Fast alle Darsteller in Nabwanas Filmen sind in einer sicheren Zivilisation aufgewachsen, in der die Wirtschaft, nicht Gewalt, über ihre Kämpfe im Alltag bestimmt. Vielleicht liegt darin auch der Grund, dass die Filme aus Nabwanas Produktionsgesellschaft RFP Films so populär sind - das Land ist dazu bereit, über Gewalt zu lachen, denn zum ersten Mal in seiner Geschichte ist Gewalt etwas, das im Ausland und in weiter Ferne stattfindet."

Seinen Debütfilm "Who Killed Captain Alex" hat der Regisseur auf Youtube hochgeladen. Zu hören ist dabei auch ein sogenannter "Video Joker", der den Film mit witzelnden Kommentaren aus dem Off versieht - eine Eigenheit des ugandischen Kinos, die den Film zusehends ins Witzige verschiebt, erklärt McPheeters in seiner Reportage.

Archiv: Vice

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.03.2015

Anlässlich der Einstellung des Literaturmagazins Holmi nach fünfundzwanzig Jahren, veranstaltete das literarische Online-Portal litera.hu eine Podiumsdiskussion mit nunmehr ehemaligen Redakteuren und Autoren des Organs. Der Schriftsteller Gábor Németh stellte die Frage ob die Zeitschriftenkultur in Ungarn am Ende sei und daran anknüpfend eine weitere, grundsätzlichere Frage: Warum sollten wir heute zeitgenössische ungarische Literatur lesen? Der Philosophen Gáspár Miklós Tamás hatte kürzlich noch große Aufregung ausgelöst mit seiner Behauptung, verglichen mit der sozialistischen Ära hätten die ungarischen Autoren im vergangenen Vierteljahrhundert nichts Bedeutendes hervorgebracht. Csaba Károlyi berichtet in Élet és Irodalom: "Worin bestand das Besondere, die Eigenartigkeit und die Hoheit von Holmi? Aristokratische Hochnäsigkeit, gewiss, gleichzeitig kennzeichnete das Blatt ein Qualitätsbedürfnis, liberaler Konservatismus und eine stolze Haltung. Literatur ist ihr Leben - ließen die Redakteure, meist selbst Schriftsteller spüren. Sie veröffentlichten keine Texte, sondern Autoren. ... "Es gab kein Anzeichen des Sterbens", sagte Pál Závada, einer der Redakteuren, bemängelte aber, dass die Rezeption der Zeitschrift kaum die Öffentlichkeit erreichte. Sie veröffentlichte Texte der ungarischen Literatur vom weltliterarischem Rang, doch eine Diskussion fand nicht statt."

Wired (USA), 26.03.2015

Man sollte es ja nicht meinen, aber ausgerechnet um Sand wird erbittert gekämpft, in Indien haben sich ganze Mafias gebildet, um an Sand zu kommen, erfahren wir von Vince Beiser. Der Grund: Der in rauen Mengen vorhandene Wüstensand ist ungeeignet, die Zwecke zu erfüllen, derentwegen weltweit enormer Sandbedarf herrscht. Aber wofür bracht man soviel Sand, dass dafür sogar schmutzige Morde in Kauf genommen werden? "Unsere Zivilisation ist buchstäblich auf Sand gebaut. ... Verschiedene Arten Sand sind ein essenzieller Bestandteil von Reinigungsmitteln, Kosmetik, Zahnpasta, Solarzellen, Silikonchips und insbesondere Gebäuden. Jede Betronstruktur besteht im wesentlichen aus Tonnen von mit Zement verklebtem Sand. ... Seit 2005 hat der Sandminenbau zwei Dutzend indonesische Inseln zum Verschwinden gebracht. Das Material landete größtenteils in Singapur, wo ein atemberaubender Bedarf herrscht, um das Bauprogramm fortsetzen zu können, im Zuge dessen dem Meer immer mehr Land abgewonnen wird. Der Stadtstaat hat auf diesen Weise in den vergangenen 40 Jahren 130 Quadratkilometer hinzugewonnen und ist weiterhin im Wachsen begriffen, weshalb er mit Abstand der größte Sandabnehmer der Welt ist. Die kollateralen Umweltschäden sind so immens, dass Indonesien, Malaysia und Vietnam allesamt den Sandexport nach Singapur verboten haben."
Archiv: Wired

Hospodarske noviny (Tschechien), 26.03.2015

Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kommunismus fragt der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček: "Waren damals die Freiheit, die Rückkehr nach Europa der Motor für die Samtene Revolution, oder war es der Wunsch nach Reichtum? Wir haben beides bekommen, und dennoch jammern wir." Die Unzufriedenheit der Tschechen mit dem Ist-Zustand, nachdem man einmal die Ziele der Samtenen Revolution erreicht habe, bezeichnet Sedláček als eine Art "postkoitale Depression". Gleichzeitig konstatiert er einen Wandel in der Wahrnehmung von Politik und Wirtschaft: "In den 90er-Jahren galt man etwas als Politiker, während "Unternehmer" oder "Selbständiger" fast ein Schimpfwort war. Heute ist es anders herum, das Metier des Politikers ist in der Achtung der Menschen gravierend gefallen, während Unternehmertum in der Öffentlichkeit Anerkennung genießt. Dies äußert sich zum einen darin, dass Unternehmer in die Rolle von Politikern rutschen, siehe der Erfolg der Bewegung ANO; zum anderen darin, dass das wirtschaftskritische Phänomen Occupy in der Tschechischen Republik schlicht nicht existiert. Hingegen wird immer wieder der Rücktritt von Politikern gefordert und Unmut über den jeweiligen Präsidenten geäußert, für den sich die Leute auf der Straße lauthals schämen. Es sieht so aus, als sei die Wirtschaft bei uns in einem wesentlich besseren Zustand als die Politik."

London Review of Books (UK), 09.04.2015

Zwei Jahre nach dem Tod des Historikers und ewigen Marxisten Eric Hobsbawms hat Frances Stonor Saunders die Akten des MI5 gelesen. Dort legt man Wert darauf, dass Hobsbawn ab 1942 wegen seines Kontakts zum sowjetischen Spion Hans Kahle überwacht wurde, nicht wegen seiner Überzeugung, und schon gar nicht während der frühen dreißiger Jahren in Berlin: "Seine Freundschaft zu Kahle hatte beim MI5 den Verdacht genährt, dass ihn ein Agent des Kremls "berührt" haben könnte, "die Hand aufs Knie gelegt", dass er ein sowjetischer Kurier sein könnte, ein Spion sogar, einer von diesen Typen, die unter Marx" Bart einschlafen und in Stalins Tasche aufwachen. Es wird aus den ersten Teilen seiner Akte deutlich, dass er nicht nur von jeglicher Beeinflussung anderer Soldaten abgehalten wurde, sondern von allen militärischen Operationen. Das war eine ungewöhnliche Maßnahme, selbst für die Kommunisten in der Armee. So gern er gegen die Nazis kämpfen wollte, wurde Hobsbawm selbst zu einem militärischen Ziel, eingekreist und neutralisiert durch die dem MI5 eigenen Methoden."

Michel Houellebecqs "Unterwerfung" ist jetzt auch auf English erschienen. Adam Shatz kann Entwarnung geben: Der Roman sei nicht islamfeindlich, er ist nur reaktionär. "Célines Schreiben hatte etwas Wildes, Aufrührerisches. Houellebecq aalt sich in Ressentiment, Hilflosigkeit und Niederlage. "Unterwerfung" ist das Werk eines Nihilisten, nicht eines Hassenden - das Gedankenspiels eines Mannes ohne Überzeugung."

Weiteres: Alexander Clapp rekapituliert die Geschichte von Syriza und hält bei aller Sympathie die politische Unerfahrenheit und überhaupt die Weltfremdheit ihrer linken Akademiker für etwas problematisch. James Meek stellt fest, dass die Serie Mad Men doch nicht so subversiv ist wie er zunächst dachte.

Linkiesta (Italien), 25.03.2015

Vor einer Woche ist auf Sky Italien und parallel dazu in Deutschland, UK, Irland und anderen Ländern die italienische Serie "1992" gestartet, die auf der Berlinale viel Lob bekommen hat. Raffaele Asquer beugt sich auf Linkiesta nochmal über die Aktion Mani Pulite, die Italien damals - leider wohl nicht nachhaltig genug - aufrüttelte: "In der elften Legislaturperiode wurde gegen 222 Abgeordnete und Senatoren wegen Korruptionsverdacht ermittelt, das entspricht 23 Prozent der Gesamtheit. Und ich betone, dass wir hier nur von einer Periode von 19 Monaten sprechen. Innerhalb von anderthalb Jahren war ein Abgeordneter von vier in die Ermittlungen verwickelt. Auch wenn es in den vorherigen Legislaturperioden eine gewisse Dosis an Ermittlungen gab, brachte die kurze elfte Periode einen Rekord... Mani Pulite wird in der politikwissenschaftlichen Literatur als einzigartiges Beispiel eines Korruptionsskandals zitiert, der eine ganze politische Klasse diskreditierte."
Archiv: Linkiesta

Jewish Review of Books, 30.03.2015

Leidenschaftlich, aber auch argumentativ präzise kommt Mitchell Cohen in der Jewish Review of Books auf die Diskussion über John Adams" Oper "Klinghoffer" zurück, die von der Entführung der Achille Lauro handelt. Die palästinensischen Entführer ermordeten den Passagier Leon Klinghoffer, weil er Jude war. Der Oper, die im Herbst von Peter Sellars an der Met inszeniert wurde, wurde vorgeworfen, diesen Umstand zu verharmlosen. Zurecht, findet Cohen, der meint, dass es keinen Kunstvorbehalt für politische Dummheiten gibt: "Adams sagt, dass er sich "nicht bewusst angestrengt habe, neutral zu bleiben" und dass es nach dem Studium der Hintergründe unmöglich gewesen sei, "keine starken Gefühle zu haben". Und doch fragt er sich, warum Klinghoffer ermordet wurde. "Ob dies eine Art nietzscheanischer Entscheidung von den Terroristen war, weiß ich nicht. Es sieht mehr nach einem hektischen, raschen Schritt aus." Tut es das? Und die sieben vorherigen Aktionen der Palästinensischen Befreiungsfront (PLF), die alle mit Geiselnahmen verbunden waren - ging ihnen die Lektüre von Nietzsches "Jenseits von gut und Böse" voraus? Adams sagt, dass "keine Seite" frei von Schuld ist. Keine Seite? Welchen Vorwurf kann man Leon Klinghoffer denn genau machen?"

Rue89 (Frankreich), 28.03.2015

In einem totalitären System weiß man wenigstens, womit man es zu tun hat, erklärt die Juristin Antoinette Rouvroy in einem Gespräch über das Gesetz zum Einsatz von Algorithmen zur Aufspürung verdächtiger Verhaltensweisen. Sie sieht dahinter eine Big-Data-Ideologie walten, die uns möglicherweise zur Selbstzensur treibe, dabei jedoch mehr als deutliche Grenzen habe: "Ich habe Slavoj Zizek sagen hören: "Ich habe mit der Überwachung nichts zu schaffen, weil Algorithmen dumm sind." Dem stimme ich zu. Für ihn ist das, als lese man einer Kuh Hegels "Ethik" vor. Er fühlt sich durch die Überwachung nicht bedroht, weil das, was in seinem Kopf vorgeht, nie im gleichen Moment in eine digitale Fährte übertragbar ist. Und das glaube ich auch. Man will uns in dieser Big-Data-Ideologie glauben machen, alles wäre digitalisierbar, einschließlich unserer Absichten, die wir noch gar nicht formuliert haben. Ich denke, es ist eine Form von Renitenz, sich wirklich bewusst zu machen, dass keineswegs alles in der Maschine ist. Und dass es sehr wohl immer noch einen radikalen Unterschied zwischen der wirklichen und der digitalen Welt gibt."
Archiv: Rue89

New Criterion (USA), 10.03.2015

Sehr amüsant und lehrreich erzählt Alexander Suebsaeng von seiner Zeit als Latein- und Griechischlehrer an der Kamuzu Academy in Malawi, die einst inklusive einer Kopie der Library of Congress vom klassisch gebildeten Diktator Dr. Hastings Kamuzu Banda für die Elite des Landes gegründet worden war. Die Schule ist inzwischen heruntergekommen. Aber die Elite und ein paar ärmliche Staatsstipendiaten lernen dort immer noch, wenn auch immer weniger Griechisch und immer mehr Mandarin: "Der Besuch des chinesischen Boschafters ist erinnerungswürdig. Er gab in einem grauen Nadelstreifenanzug mit erstaunlichem Veilchen-Strauß im Knopfloch eine vorteilhafte Figur ab. Er sprach lang, und zunächst waren die Schüler unruhig. Aber seine Rede war unterhaltsam, charismatisch, ja bedeutsam, und es war erstaunlich, wie es ihm gelang, sein Publikum gefangen zu nehmen: "China ist groß und klein, jung und alt, modern und antik, reich und arm..." Nach einer halben Stunde belohnte er ihre Aufmerksamkeit mit reichen Gaben. Die Türen sprangen auf und einheimische Träger brachten Laptops und Stereoanlagen, Tastaturen und Rekorder." Der Besuch des britischen Botschafters hat dann sehr viel weniger Eindruck gemacht.
Archiv: New Criterion

Eurozine (Österreich), 20.03.2015

Ganz anregend liest sich Gisle Selnes" bei einem Kolloquium an der Uni Bergen geführtes Gespräch mit dem Philosophen und Badiou-Freund Alberto Toscano über sein Buch "Fanaticism - The Uses of an Idea", wenn er nicht auf linke Platitüden zurückfällt, wie etwa die, dass der Islamismus eine bloße Reaktion auf Kapitalismus und amerikanische Intervention sei. An manchen Stellen gräbt er tiefer, etwa wenn er von der "kuriosen Obsession" spricht, Fanatiker als "Subjekte von perfekter - geradezu exzessiver - Kohärenz anzusehen. Ein wirklich interessanter europäischer Text, eine der wenigen wirklichen Anleitungen, ein Fanatiker zu werden, ist Sergei Netschajews "Revolutionärer Katechismus": Du musst dich zu etwas Ganzem und zu etwas Kaltem machen." Allerdings entsprächen moderne Fanatiker wie Anders Breivik mit ihrem "cut-and-paste-Fanatismus" nicht mehr diesem Bild: Lächerlich schon die Art, wie Breivik während seiner Tat "versuchte, all seine moralischen Reflexe abzuschneiden, indem er mit seinem Ipod die pseudoklassische und kitschige Musik von Clint Mansell hörte - Musik, die man aus der Werbung und dem Kino kennt". Das Gespräch ist ursprünglich in der norwegischen Zeitschrift Vagant erschienen.
Archiv: Eurozine

Nepszabadsag (Ungarn), 28.03.2015

Am 27. März wurde auch in Ungarn der Welttheatertag gefeiert. Der Kritiker, Dramaturg und Hochschullehrer Tamás Koltai sieht jedoch kaum Anlass zum Feiern. Einige unabhängige Theatergruppen (Szputnyik, Bárka, KoMa) gaben vor kurzem ihr Ende bekannt. Bekannte Regisseure (Viktor Bodó, Kornél Mundruczó, Balázs Kovalik in Leipzig und München, Róbert Alföldi in Wien) kommen lediglich für Gastauftritte nach Ungarn zurück, andere (Árpád Schilling, Béla Pintér) stehen auf einer schwarzen Liste. Nach einer aktuellen Statistik bevorzugten neun Zehntel der 4,5 Millionen Theaterzuschauer im vergangenen Jahr das Boulevardtheater. Wie kann man sie für geistige und künstlerische Werte gewinnen? "Das Ziel des Theaters muss sein, staatsbürgerliche Verantwortung zu erwecken, die jungen (oder nicht jungen) Zuschauer zur spielerischen Beteiligung an lebensnahen moralischen, gesellschaftlichen und öffentlich Entscheidungen zu motivieren. Das ist es - das eigenständige Denken, die Meinungsbildung, die Konfrontation mit der Realität - was die gegenwärtige Regierungspolitik und damit das Nationaltheater verhindern will."
Archiv: Nepszabadsag

New York Times (USA), 29.03.2015

Im Kulturblog der New York Times porträtiert Olivia Laing die Künstlerin Sarah Lucas, einst rude girl der britischen Kunstszene, 2015 offizieller Beitrag der Briten auf der 56. Biennale in Venedig, und versucht, ihrem Erfolgsrezept auf die Spur zu kommen: "Charakteristisch für Lucas ist das Bedürfnis nach und das Selbstbewusstsein zu periodischen Rückzügen von der großen Bühne, um sich ihr ganz persönliches Glück an der Kunst zu erhalten und nicht von Zwängen bestimmt zu werden. Etwas, das sie nach eigener Aussage bald nach ihrem Goldsmith-Abschluss 1987 begriffen hat, als ihre männlichen Kollegen, Hirst und Hume vor allen anderen, steil Karriere machten, während sie sich am Rand wiederfand, verärgert und verbittert. "Es war, als wären alle Idioten plötzlich zu Londons Lieblingen geworden", erinnert sie sich. Als Reaktion darauf hörte sie mit der Kunst erst einmal auf und gewann so ein Gefühl der Freiheit zurück. Nach ein paar Monaten fing sie dann wieder an, Sachen zu machen, diesmal zu ihrem eigenen Vergnügen … Im Kern ist ihre Kunst eine Suche nach etwas Unbekanntem. Ihre Objekte sind stets in Verwandlung begriffen oder kurz davor, weder vulgär oder mystisch, alltäglich oder drastisch, sondern irgendwie alles zugleich. Immer geht es darum, ein Ventil zu suchen, das macht die Auseinandersetzung mit ihr so elektrisierend."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Lucas, Sarah, Venedig, Idiot