Magazinrundschau

Land des Schweins und Honigs

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.07.2015. Der Guardian staunt, wie viele britische Sklavenhalter es gab. In Literarni noviny erklärt Katja Petrowskaja: Ich bin viel russischer als Putin. Wer glaubt noch an Europa, fragt Timothy Garton Ash in Hospodarske noviny. Roads & Kingdoms bestellt Schweinswürstchen in Tel Aviv. Der New Yorker bebt vor dem Andreasgraben.

Guardian (UK), 13.07.2015

Die Briten sehen in der Sklaverei gern eine Unmenschlichkeit, die in Georgia oder Alabama begangen wurde, und vergessen dabei, dass Tausende von britischen Dynastien ihren Reichtum dem Sklavenhandel oder ihren Sklaven-Plantagen in der Karibik verdanken. Jetzt sind jedoch die Akten der Kommission online zugänglich gemacht worden, die nach Abschaffung der Sklaverei 1833 die Sklavenhalter entschädigen sollte. David Olusoga hat sie ungläubig gesichtet: "Die Kommission war von der Regierung eingesetzt, um die Ansprüche der Sklavenhalter zu bewerten und die Verteilung der 20 Millionen Pfund zu organisieren, mit denen die Regierung sie entschädigen wollte. Diese Summe entsprach 40 Prozent der gesamten Regierungsausgaben von 1834. Sie entspricht einem heutigen Wert zwischen 16 und 17 Milliarden Pfund. Die Entschädigung für Großbritanniens 46.000 Sklavenhalter war der größte Bailout in der britischen Geschichte bis zur Rettung der Banken 2009. Die Sklaven haben dabei nicht nur nichts bekommen, sie waren durch eine weitere Klausel des Gesetzes auch gezwungen, nach ihrer vermeintlichen Befreiung vier Jahre lang 45 Stunden pro Woche unbezahlt für ihre früheren Herren zu arbeiten. Tatsächlich zahlten die Versklavten damit einen Teil der Rechnung für ihre eigene Freilassung."

Weitere Artikel: Jeannette Winterson berichtet emphatisch von ihrer 11-tägigen Fastenkur. Fast schon peinlich findet Steven Poole Sudhir Hazareesinghs abfällige Geschichte des französischen Denkens "How the French Think".
Archiv: Guardian

Magyar Narancs (Ungarn), 13.07.2015

Die Theaterspielsaison ging vor kurzem mit dem Festival in Pécs (POSzT, Fünfkirchen) zu Ende. Wie hat sich die Spaltung der Theaterszene in rechts und links ausgewirkt? Ging es dabei wirklich um Politik? Der Theaterkritiker Péter Urfi bezweifelt es: "Alle reden von Spaltung, von den Gegensätzen zweier unversöhnlicher Seiten, von der in den Hintergrund gedrängten Expertise, der Landnahme der Politik, vom Kampf der Rechten und Linken. Alles nur eine Ablenkung. (…) Die ungarischen Theaterkünste bestehen nicht aus zwei Lagern, sondern aus einem Netz von mehreren hundert Theaterschaffenden - Regisseuren, Technikern, Schauspielern, und Dramaturgen, Autoren und Ensembles, die gemeinsam Inszenierungen erschaffen. Es gibt keine zwei Seiten, keine zwei Fahnen, sondern Zuschauer und Bühnen. Man braucht fürs Theater Organisationen und Geld, wobei persönliche Gegensätze und Machtkämpfe nicht auszuschließen sind. Kriegslogik braucht dagegen nur, wer kämpfen und erobern will, wer wegnehmen will, was anderen gehört. (…) In den vergangenen Jahren gab es keine ästhetischen, strukturellen oder ideologischen Debatten, sondern macht- und geldgierige Aktionen."
Archiv: Magyar Narancs

Roads & Kingdoms (USA), 13.07.2015

Israel - Land des Schweins und Honigs! Zumindest in Tel Aviv trifft das inzwischen zu, erzählt Shira Rubin. Schwein gilt dort nicht nur als lecker, sein Verzehr ist zugleich eine Form des Widerstands gegen ein immer dominanter auftretendes religiöses Establishment. Man bekommt es in fast jeder Form zum Beispiel in Ori Marmorsteins Barbecue Truck de Luxe. "Als unerschütterlicher Atheist betrachtet er das Truck als Teil einer größeren Bewegung in Israel. Ihm ist klar, dass die demonstrativen Bilder auf der Speisekarte potentielle Kunden, die Schwein immer noch als Tabu betrachten, abstoßen. Aber er hofft, dass sich dies bald ändert. Er gibt dem Judaismus, der den Verzehr von Schweinefleisch verbietet, die Schuld für die Kluft zwischen dem säkularen Tel Aviv und dem Rest des Landes. "Religion ruiniert alles", sagt er ohne große Emotion. Viele Israelis mockieren sich über die kulturelle Hauptstadt, die sie zu modern, zu liberal, zu global gesinnt finden und - absurderweise, bedenkt man die winzige Größe des Landes - zu abgekoppelt von den lokalen Gegebenheiten. Aber im Truck ist die Belegschaft typisch Tel Aviv: schöne, hedonistische, blasierte, sexy junge Dinger, die gutes Essen und Alkohol nicht als Belohnung betrachten, sondern als Way of life. Die immer deprimierendere und angespanntere politische Lage zu ignorieren, ist genau der Punkt und Schweinefleisch ein Mittel zur Flucht."

Literarni noviny (Tschechien), 13.07.2015

Im Gespräch mit Jakub Ehrenberger erzählt die Autorin Katja Petrowskaja, deren Buch "Vielleicht Esther" auch auf Tschechisch erschienen ist: "Ich bin auch deshalb nach Deutschland gezogen, weil mich die deutsche Normalität, sich mit dem Krieg zu konfrontieren, so fasziniert hat. Ich habe 1999 ein kampflustiges Russland verlassen - und damit meine ich die gesamtgesellschaftliche Stimmung, die verwendete Rhetorik und so weiter - und habe mich sofort in Berlin verliebt. Damals war ich noch überzeugt davon, ich wüsste alles über Krieg und Frieden. Nichts hatte ich gewusst. Ich befand mich in Berlin und dachte: Mein Gott, das hier ist der Frieden." Nach dem aktuellen Krieg in ihrem Herkunftsland Ukraine befragt, antwortet Petrowskaja: "Wissen Sie, ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Ich habe in Estland studiert und in Moskau promoviert. Ich bin viel russischer als Putin, der die eigenen Jungs aus Pskow oder sonstwo in die Ukraine schickt, als ginge es nur um ein Übungsmanöver. (…) Wie kann noch jemand Putin verteidigen? Was bedeutet überhaupt "prorussisch"? Putin ist der letzte Mensch, der diese Bezeichnung verdient. Schließlich geht es hier ums Töten von Menschen, der eigenen und derjenigen, die sie angeblich schützen wollen."

The Verge (USA), 10.07.2015

In Zeiten, in denen große Medienhäuser in Erwägung ziehen, direkt auf Facebook zu veröffentlichen, und Clickbait-Portale wie Buzzfeed auf maximale Shareability setzen, überrascht es, wenn ein Netzwerk zwar einerseits täglich zahlreiche Updates und Artikel veröffentlicht, aber dennoch im bewussten Verzicht auf Reichweite um jeden Preis einen Kompromiss zwischen Rentabilität und überschaubarem Publikum in Kauf nimmt. Und doch entspricht dies der Strategie von The Awl, wie Josh Dzieza in einer Home Story berichtet: Getreu nach dem Motto "Be Less Stupid" setzt das Onlinemagazin auf ein überdurchschnittlich gebildetes Publikum. Die weitsichtige Perspektive von Chefredakteur John Herrman "ist beunruhigend: Publikationen werden sich zunehmend sonderbar ähnlich, nebulöse Firmen buhlen um einen Platz in den Feeds der sozialen Medien. Portale wie Upworthy oder deren noch spammigere Klone wachsen rapide, indem sie auf Formate zurückgreifen, die maßgerechnet auf Facebooks Newsfeed zugeschneidert sind, nur um nach jeder undurchsichtigen Neujustierung der Plattformalgorithmen abzustürzen. ... Indem sie sich vom Content-Karussell ferngehalten haben, ist es The Awl gelungen, eine ganze Reihe von Publikation mit in sich stimmigen Identitäten und distinkten Sensibilitäten zu entwickeln."
Archiv: The Verge

La vie des idees (Frankreich), 13.07.2015

Ilsen About legt eine Sammelbesprechung von neueren Publikationen zur Geschichte von Sinti und Roma in Europa vor. Sie zeigten, wie seit dem Mittelalter die Auslöschung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Zigeunervölkern zur Ursache für ihre zunehmende Ausgrenzung wurden. "Das Hauptthema dieser Studien besteht darin, auf Abstand zur Perspektive einer hypothetischen Herkunft zu gehen, um den Mythos einer homogenen Wanderbewegung aufzulösen ... Diese Frage bleibt notwendig, da sie die Grundlage für die Vorstellung bildet, Zigeunervölker gehörten nicht wirklich der europäischen Welt und der europäischen Lebensweise an und ihr bürgerlicher Status bleibe fragwürdig." Die Studien zur Situation in jüngerer Zeit hingegen "heben die Gemeinsamkeit der öffentlichen politischen Anstrengungen hervor, die darauf abzielen, die Völker und ihre Mobilität zu überwachen und zu steuern sowie die Namen von Familien und Einzelindividuen zu ermitteln, die je nach Land als Nomaden, Zigeuner, Zingari oder Gypsies bezeichnet werden."

Hospodarske noviny (Tschechien), 10.07.2015

"Wir leben immer in der Vorstellung, Brüssel wird es schon richten", konstatiert der britische Historiker Timothy Garton Ash im Gespräch mit Martin Ehl und fragt sich: Warum reagieren die Europäer nicht auf die Krise? "Die Frage lautet folglich, ob die Menschen die Krise gar nicht so stark spüren? Oder liegt es daran, dass die Hauptbeweggründe, die früher zu jenen Reaktionen geführt haben, nicht mehr existieren bzw. schwächer geworden sind? Ich fürchte, es ist Letzteres. Wichtige Beweggründe, die etwas mit persönlichen Erfahrungen zu hatten, mit Krieg, Niederlage, Okkupation, Gulag, Holocaust, faschistischen Regimen in Portugal und Spanien, kommunistischen Diktaturen in Osteuropa, all diese Erfahrungen, die drei Generationen von Europäern geprägt haben, von Adenauer, Schuman, Monnet bis zu meiner Generation, haben uns gesagt, dass wir alles dafür tun müssen, um Europa zu erhalten. Diese Art von Reaktion auf eine Krise gibt es nicht mehr. (…) Als Historiker müssen wir versuchen, diese individuelle Erinnerung durch ein kollektives Gedächtnis zu ersetzen, das wir Geschichte nennen. Und ich fürchte, wir leisten da sehr schlechte Arbeit. Nicht nur in den Schulen, auch im Film, den Medien, in der Literatur. Wir müssen zwei Botschaften weitergeben: Die erste lautet, dass Europa früher ein viel schlimmerer Ort war, als es jetzt ist. Und die zweite - dass es wieder viel schlimmer werden kann."

New Yorker (USA), 20.07.2015

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker wagt Kathryn Schulz den Blick auf ein finsteres Zukunftsszenario: das große Beben über dem St. Andreasgraben. Es wird sicher kommen - irgendwann. Die Frage ist nur, warum so wenig Vorkehrungen dagegen getroffen werden: "Das große Beben ist so gefährlich, weil wir es versäumt haben, an die Zukunft zu denken. Das ist kein Informationsproblem, wir verstehen genau, was das Beben anrichten wird. Es ist auch kein Problem der Fantasie. Brad Peytons "San Andreas" läuft gerade im Kino. Doch alle apokalyptischen Visionen sind eskapistischer Natur, keine moralischen Plädoyers oder Handlungsanweisungen. Solche Szenarien zu entwerfen, um besser mit ihnen zurechtzukommen, ist nicht unser Ding. Das ist kein auf Erdbeben beschränktes Problem. Es handelt sich um eine Parabel auf das Zeitalter der ökologischen Abrechnung. Die Fragen, die es aufwirft, gehen uns alle an. Wie soll eine Gesellschaft mit der Aussicht auf eine Katastrophe umgehen, deren Zeitpunkt nicht feststeht, deren Folgen aber gigantisch sein werden? Wie kann sie sich selbst rechtfertigen, wenn ihre gesamte Infrastruktur und Kultur derartig verwundbar ist durch eine Naturkatastrophe?"

Außerdem: Ian Buruma kommt hinter das Geheimnis von "The Tale of Genji" aus dem 11. Jahrhundert. Das Buch gilt als erster Roman der Geschichte und behandelt die Kunst der Verführung. Jon Lee Anderson schickt einen Brief aus Havanna. Und Dexter Filkins untersucht den weiterhin ungeklärten Tod des Staatsanwalts Alberto Nisman, der die argentinische Präsidentin Kirchner der Vertuschung im Fall des Bombenanschlags auf das AMIA-Gebäude von 1994 beschuldigte.
Archiv: New Yorker