Magazinrundschau

Weder Tragödie noch griechisch

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.08.2015. Wer kontrolliert die Meinungsfreiheit im Netz, fragt der New Yorker. Wer will überhaupt noch Meinungsfreiheit, fragt der iranische Blogger Hossein Derakhshan in Medium. Die Kids werden heute eben lieber Social Media Millionäre, vermutet Vanity Fair. Wer ist hier bildungsfern, fragt der Merkur. In HVG bewundert die Übersetzerin Lidia Nadori den Mut deutscher Autoren, wenn auch nicht unbedingt ihren Stil. Hospodarske noviny verabschiedet sich vom Dichter des Klaviers, Ivan Moravec. Der Rolling Stone schmuggelt sich in den Jemen.

New Yorker (USA), 17.08.2015

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker macht sich Kelefa Sanneh Gedanken über das Recht der freien Meinungsäußerung in Zeiten der Politisierung des Alltags in den sozialen Netzwerken: "Betreffend Cyber-Mobbing hat das instinktive Eintreten für Meinungsfreiheit Folgen: die Benachteiligung von Frauen, ethnischen, sexuellen und anderen Minderheiten. Freie Meinungsäußerung kann verletzend sein … Beiträge in den sozialen Medien sind öffentlich, die entsprechenden Foren aber nicht unbedingt. Auseinandersetzungen über Cyber-Mobbing werden nicht vom Staat geführt, sondern von den Administratoren der sozialen Dienste. Damit geben wir einige der wichtigsten Entscheidungen in Sachen freier Meinungsäußerung in die Hände von Unternehmen. Ihnen obliegt es, die Balance herzustellen zwischen dem Wert freier Meinungsäußerung und anderen konkurrierenden Werten … Verglichen mit einer Gefängnisstrafe mag die Aussicht auf den Verlust eines Twitter-Accounts eher mild erscheinen. Doch mit der Bedeutung der sozialen Medien, wächst auch das Schreckgespenst des Ausschlusses. Und Aktivisten der freien Meinungsäußerung könnten zu dem Schluss kommen, dass die CEOs der sozialen Netzwerke sogar die effektiveren Zensoren sind."

Außerdem: Jake Halpern über das stille Leben des Polizisten, der Michael Brown in Ferguson erschoss. Und Peter Hessler über Sprachgrenzen zwischen chinesischen Unterwäschehändlern und ihrer ägyptischen Kundschaft.
Archiv: New Yorker

Medium (USA), 14.07.2015

Auf diesen Text hatten wir zwar schon letzte Woche in 9punkt hingewiesen, aber er sei hier noch einmal zur ergänzenden Lektüre empfohlen: Der iranische Blogger Hossein Derakhshan, der wegen seines Blogs 2008 im Gefängnis landere und erst vergangenes Jahr wieder freigelassen wurde, denkt darüber nach, wie sich das Netz in dieser Zeit verändert hat. Nicht zum Besseren, findet er. Wo früher publizistischer Wildwuchs herrschte und eine rege Debattenkultur, erblickt er heute nur noch die eifersüchtig umzäunten Gärten der großen sozialen Netzwerke. Und Bilder statt Texten: "Dies ist nicht die Zukunft des Netzes. Diese Zukunft ist Fernsehen. Manchmal frage ich mich, ob ich im Alter zu streng werde. Ob all das womöglich die ganz normale Entwicklung einer Technologie ist. Aber ich kann auch nicht die Augen verschließen vor dem, was gerade mit dem Netz passiert: dieser Verlust an intellektueller Macht und Vielfalt, und das Potenzial, das es für unsere geplagte Zeit haben könnte. Früher war das Internet mächtig und ernsthaft genug, um mich ins Gefängnis zu bringen. Heute ist es nur wenig mehr als Unterhaltung." Der Text wurde von Zeit online ins Deutsche übersetzt.
Archiv: Medium

Vanity Fair (USA), 31.07.2015

Richard Lawson fühlt sich alt und verunsichert auf der Videosoiel-Convention VidCon. Hier findet man die Social-Media-Millionäre, niedlich aussehende Teenager, die fluffige Videos über ihr Leben drehen und dabei Produkte wie Pickelcreme oder Nagellack anpreisen. Dafür haben sie echte erwachsene Manager und Geschäftsleute im Hintergrund. Nicht, dass ihre Fans - zumeist noch jüngere Teenager - das stören würde, lernt Lawson: "Junge Millenials (oder die Generation Z, ein Ausdruck, den ich an diesem Wochenende oft gehört habe), scheint Schleichwerbung nicht sehr zu stören. Big-Frame-CEO Steve Raymond erklärt: "Man sieht 13- bis 24-jährige Kids, die kein Problem haben mit der Tatsache, dass diese Leute Geld verdienen und von Werbetreibenden bezahlt werden. Solange sie diese Produkte nicht abstoßend finden und der Inhalt nicht in ihren Augen brennt, klappt das." Ausverkauf ist heute offenbar einfach kein Grund zur Besorgnis mehr, solange die Werbung mit "Authentizität" verkauft wird, ein allgegenwärtiges Schlagwort auf der VidCon. Niemand scheint so recht erklären zu können, was genau Authentizität ist, aber jeder schien sie zu erkennen, wenn er sie sah."
Archiv: Vanity Fair

HVG (Ungarn), 22.07.2015

Die Übersetzerin und Musikerin Lídia Nádori (u.a. überträgt sie Herta Müller und Terézia Mora ins Ungarische) skizziert im Interview mit Zsuzsa Mátraházi die Bedeutung der zeitgenössischen deutschen Literatur für Ungarn. "Meiner Meinung ist sie zwar nicht in bester Form, trotzdem verdient sie mehr Beachtung. Mit ihrem dürren, puristischem Stil kann der auf ungarischem Prosa trainierte Leser kaum etwas anfangen. Doch deutsche Autoren wählen viel couragierter aktuelle Themen als die ungarischen, riskieren damit aber auch, dass die Aktualität verblasst. Sie schreiben über die Honecker-Zeit, über die Wende, den Balkankrieg, aber auch über Gewalt an den Schulen oder Altersheime und hoffen, dass mit dem Vergehen der Zeit die Intensität nicht mit verfliegt. Das finde ich sympathisch."
Archiv: HVG

California Sunday Magazine (USA), 02.08.2015

Amy Qins Reportage über das kommende Napa Valley Chinas, das Jade Valley, ist wunderbarer Lesestoff für eine kurze Reise. Sie erzählt die Geschichte des Architekten Ma Qingyun, der es sich zur Jahrtausendwende in den Kopf setzte, als erster in China Wein zu produzieren. Denn sah es in seinem Heimatdorf nicht genauso aus wie in der Toskana und im Napa Valley? In den ersten Jahren war es einfach learning by doing - oder, wie Manager Sun Dahai es ausdrückt: den Fluss überquerend, während man sich an den Steinen orientiert: "Nach drei Jahren, 2003, produzierte Jade Valley etwa 1500 Flaschen aus seiner ersten Lese. Als der Wein gereift war, veranstaltete Ma eine Weinprobe für sein Team und einige seiner ehemaligen Schulkameraden. Der Wein war schrecklich: ungefiltert, halb fermentiert, ein milchig pinkfarbener Saft, der bitter schmeckte. Aber das machte nichts. "Sobald ich sah, dass die Leute beschwipst wurden, wusste ich, dass der Wein Alkohol enthielt", erzählt Ma. "Das machte mich sehr stolz." Nach der Probe verteilten sie 500 Flaschen an die Angestellten und destillierten den Rest zu Brandy, wie es Weinbauern oft mit einer schlechten Lese machen. Ma und seine Mitarbeiter machten mehr Wein und mehr Wein und wurden immer besser mit jedem neuen Schub..."
Stichwörter: Alkohol, China, Weinanbau, Jade

New York Review of Books (USA), 13.08.2015

Die New York Review of Books bringt einen nachgelassenen Text des jüngst verstorbenen Fliegers und Romanciers James Salter über eine Biografie der Flugpioniere Wright. Fasziniert zeichnet er nach, wie die Brüder Wilbur und Orville in Tausenden von Stunden ihre Maschinen und Flugkünste perfektionierten. Zum Beispiel an jenem eisig kalten Septembertag 1903: "Der erste Versuch zu fliegen, mit Wilbur am Steuer, endete abrupt. Er behandelte das Flugzeug falsch und es hüpfte fast sofort zurück auf die Erde. Es dauerte fast drei Tage, bevor sie ein Bettlaken aus ihrer Hütte hängten, um der nahen Rettungsstation ein SOS für einen neuen Versuch zu signalisieren. Diesmal war Orville dran, und in einem eisigen Wind, stärker als sie ihn sich gewünscht hätten, startete er. Mit einer Geschwindigkeit, kaum größer als die eines Fußgängers, hob er ab und flog - während die Maschine den Propeller drehte - ungleichmäßig 36 Meter weit. Später an dem Tag, bei einem vierten Versuch, flug Wilbur etwas mehr als 259 Meter. Wie war es, das erste Flugzeug zu fliegen? Es gibt eine interaktive Simulation bei firstflight.open.ac.uk, wo man es fliegen - oder es versuchen - kann."

Außerdem: Sue Halpern ist völlig fasziniert von Elon Musk, Mitbegründer des milliardenschwerden Online-Bezahlsystems Paypal, der Elektroautofirma Tesla Motors und der Raumfahrtfirma Space X, dem Ashlee Vance gerade eine Biografie gewidmet hat. Alice Gregory schließlich liest William Finnegans "Barbarian Days", ein autobiografischer Band, in dem der Reporter Finnegan erzählt, wie sehr Surfen seinen Blick geprägt hat (lesenswert auch das Interview mit Finnegan in Guernica).

Merkur (Deutschland), 01.08.2015

In der heutigen Bildungsforschung wird Bildung nicht mehr als Kulturgut verstanden, sondern nur noch als Wissen oder Kompetenz, klagt der Zürcher Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach. Und das Unwort der Bildungsferne zeige, dass auch nicht mehr zwischen allgemeiner, besonderer und Menschenbildung unterschieden werde: "Wer sich zu Hause vor allem um seine jüngeren Geschwister kümmern muss oder um den elterlichen Haushalt oder aber im Laden steht statt die Schulbank zu drücken oder, weil er keine Lehrstelle findet, sein Glück als Hilfsarbeiter im Ausland sucht, ist "bildungsfern". Wer also früh im Leben und ungefragt Verantwortung für sich und andere übernehmen muss, gilt in der Taxonomie der empirischen Bildungsforschung höchstwahrscheinlich als "bildungsfern". Wer hingegen mit 25 oder 30 Jahren noch nicht so recht weiß, was er mit seinem Leben anfangen will, ist wahrscheinlich "bildungsnah"."

Weiteres: Ute Sacksofsky verteidigt feministische Rechtswissenschaft gegen ihre Kritiker. Jan-Werner Müller denkt über Populismus nach und stellt fest: "Die Empirie rangiert in der Vorstellungswelt der Populisten immer hinter der Moral."
Archiv: Merkur

Guardian (UK), 01.08.2015

Im Guardian erinnern sich Autoren an die Zeit, meist in den achtziger Jahren, in der sie von Sozialleistungen lebten. Dabei geht es strikt nach Stereotypen: Während etwa ein unbekümmerter Geoff Dyer das staatlich finanzierte Leben voller Literatur, Musik und Theoriediskussionen als quasi natürliche Fortsetzung seines Oxford-Studiums sah, berichtet Caryl Philips von rassistischen Diskriminierungen. Und A.L. Kennedy schreibt: "Ich erinnere mich vor allem an eine Zeit der Sorgen. Wenn man sehr wenig Geld hat, dann sickern die Sorgen in jeden Lebensbereich wie schmutziges Wasser. Alles ist kompliziert, alles ist schwierig, jede Ausgabe ist ein Risiko und im Notfall würde man untergehen. Für kurze Zeit machte mich das widerstandsfähig (ich musste mich nur um mich selbst kümmern). Über längere Zeit ist der Druck höchst schädlich. Er macht einen nicht abhängig, er macht einen unterlegen - das ist ein Unterschied."

Alice O"Keeffe porträtiert den israelischen Autor Etgar Keret, der einen Boykott israelischer Künstler schon deshalb bescheuert fände, weil er selbst bereits in Israel als vermeintlicher "Verräter" boykottiert werde. Außerdem: "Mit Verve erklärt Keret, dass ein Boykott direkt Israels rechtem Flügel in die Hände spielt: "Das rechte Narrativ besagt unentwegt, dass die Welt uns hasst und keinen Dialog will, weil sie voller verkappter Antisemiten sei. Fragt man die israelischen Rechten, sind die alle für den intellektuellen Boykott.""
Archiv: Guardian

Linkiesta (Italien), 01.08.2015

Andrea Coccia schildert den 2. August 1980 am Bahnhof von Bologna aus der Perspektive einiger Beteiligter, zum Beispiel des Schaffners Roberto Castaldo, der gerade die Abfahrt seines Zuges freigeben will: "Roberto hört die Pfeife und dreht sich um. Das Signal steht auf grün. Er hebt den Arm in Richtung seines Kollegen am Ende des Zugs. Aber er kommt zu spät, denn nun steht die Uhr auf 10 Uhr 25, und was vorher ein Bahnhof war, ist nun ein Schlachtfeld. Im mysteriösen Koffer, den ein Unbekannter hat stehen lassen, befanden sich 23 Kilo Sprengstoff. Die Explosion hat den Wartesaal buchstäblich zerstört, den Sonderzug Ancona-Basilea zerrissen, das Bahnhofsrestaurant zum großen Teil pulverisiert und sogar einige Taxis draußen vor dem Bahnhof umgeworfen." Das von Faschisten begangene Attentat, das schlimmste in der Geschichte Nachkriegsitaliens, riss siebzig Personen in den Tod.
Archiv: Linkiesta
Stichwörter: Bologna, Faschismus, Terrorismus, Riss

Hospodarske noviny (Tschechien), 28.07.2015

Petr Veber würdigt den letzte Woche verstorbenen Pianisten Ivan Moravec, der zu den größten des vergangenen Jahrhunderts zählt: "Er wirkte immer eher introvertiert und bescheiden, und so war auch sein Spiel - was ihm die Bezeichnung "Dichter des Klaviers" einbrachte. Musik, bei der es auf den inneren Ausdruck, die ziselierten Details und feinen Nuancen ankommt, lag Moravec am nächsten - ob von Chopin und Mozart oder Ravel und Debussy, gelegentlich auch Janáček. Wenn Ivan Moravec etwas fernlag, so war es der oberflächliche Effekt. Er war hingegen Perfektionist und bekannt dafür, dass er an die Vorbereitung der Instrumente hohe Anforderungen stellte und ihre Klanglichkeit beeinflussen, Hämmerchen und Saiten in einen Idealzustand bringen wollte. "Ich habe nicht die Möglichkeit, mit meinem Instrument zu reisen", pflegte er zu sagen, "und so bleibt mir nichts anderes übrig, als so viel wie möglich über das Klavier herauszufinden und mit dem Techniker eine möglichst intelligente Arbeit zu machen.""

Hier spielt Moravec Beethovens Klavierkonzert Nr.4:


Stichwörter: Moravec, Ivan, Klavier

New Republic (USA), 02.08.2015

William Wheeler besucht die Freunde Omar El-Husseins, des Attentäters von Kopenhagen, in den Suburbs der Stadt und sucht nach Gründen für seine Radikalisierung - die Zeichnungen Kurt Westergaards sind für ihn ebenso verantwortlich wie die israelische Politik im Gaza-Streifen. Erst der afghanischstämmige Soziologe Aydin Soei macht Wheeler darauf aufmerksam, dass sich die meisten Jugendlichen mit Miigrationshintergrund in Dänemark bestens integrieren: "Viele Gangmitglieder in Kopenhagen weigerten sich allerdings, ihre bevorzugte Lage anzuerkennen. "Einen Teil ihrer Identität" so Soei, "beziehen sie aus der Vorstellung, dass sie in der selben Realität leben wie amerikanische Schwarze in den Ghettos." Diese Vorstellung nähre einen Opferdiskurs, der für jene, die ihre isolierte Community nie verlassen, zu einer self-fulfilling prophecy werde."

In einem zweiten Artikel beschreibt Jacob Mikanowski den chinesischen Autor Yan Lianke als eine zwiespältige, zwischen höchsten Ehren und rabiater Zensur schwankenden Autor, der es in seinem neuesten Roman "Die vier Bücher" allerdings schafft, ein Tabuthema aufzugreifen: "Anders als mit der Kulturrevolution setzen sich sehr wenige chinesische Romane oder Memoiren mit dem Großen Sprung nach vorn auseinander, einen früheren Versuch, die chinesische Gesellschaft von Grund auf umzustülpeln." Die damit verbundenen Hungersnöte sind schwer zu beziffern, so Mikanowski, aber 30 bis 45 Millionen Tote werden"s schon gewesen sein.
Archiv: New Republic

El Pais Semanal (Spanien), 31.07.2015

"Weder Tragödie noch griechisch", ruft Javier Cercas den Europäern zu, sei das Debakel um die Athener Finanzen: "Gibt es bei einem echten transnationalen Verein wie den USA ein Problem in Florida, ist das kein Problem Floridas sondern der USA, und Washington greift ein, um es zu lösen; bei einem Verein wie der EU, für den das Transnationale ein bloßes Lippenbekenntnis ist, ist ein Problem in Griechenland kein Problem der EU, sondern Griechenlands, und weder will die EU das Problem lösen - alles was sie will, ist ihr Geld eintreiben -, noch will Griechenland, dass die EU eingreift - alles, was es will, ist nicht zahlen. Die Lösung springt ins Auge: Die EU nimmt sich endlich selbst ernst, verwandelt sich wirklich in einen einzigen demokratischen Staat, die Nationen lösen sich politisch darin auf und stecken sich ihren stinkenden Nationalstolz, wo er hingehört, und der gemeinsame Staat beschäftigt sich mit jeder Nation wie ein Körper mit seinen Gliedern, also so dass das Besondere bloß noch ein Teil des Allgemeinen ist. Kurz: Dies ist keine wirkliche Tragödie und auch keine griechische Tragödie, dies ist bloß ein Problem, und zwar ein Problem von uns allen. Und wenn wir es nicht lösen, dann bloß, weil wir nicht wollen."
Archiv: El Pais Semanal

Buzzfeed (USA), 30.07.2015

Syrien zählt zu den Regionen mit den meisten archäologischen Schätzen der Welt - ein kulturhistorisches Erbe, das derzeit zerstört wird oder mittels des florierenden Schwarzmarkthandel in die angrenzende Türkei und von dort aus in die Welt verschleudert wird. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem IS zu, der professionelle Ausgrabungsstätten betreibt und Experten unter Androhung von Gewalt zur Arbeit zwingt, wie Mike Giglio und Munzer al-Awad in einer ausführlichen Reportage berichten. Mitunter wird auch die Beute von Schmugglern konfisziert und öffentlich zerstört: "Die einen Fundstücke haben für den IS ihren Wert auf dem Markt, die anderen für Propagandazwecke. Mit wenigen natürlichen Grenzen und einem Gemisch aus religiösen und ethnischen Gruppien, bestand Syriens nationale Identität im wesentlichen aus der langen und einzigartigen Geschichte des Landes. Der IS nimmt einige Mühe auf sich, diese zu zerstören, während er dabei ist, einen eigenen Staat auf Grundlage einer fundamentalistischen Vision eines islamischen Kalifats zu errichten. Der erwischte Plünderer raufte sich die Haare vor Wut, als seine Büsten zerstört wurden. "Diese Statuen gehören in das Haus einer reichen Person oder in ein Museum, aber nicht unter die Stiefel des IS", sagte er."
Archiv: Buzzfeed

Magyar Narancs (Ungarn), 16.07.2015

Im Interview mit Anita Markó denkt die Dichterin und Schriftstellerin Krisztina Tóth u.a. über die Aufgaben und Rolle des Schriftstellers im heutigen Ungarn nach: "Diese Autorenattitüde, wonach ein Schriftsteller die Aufgabe, ja die Pflicht hat, im Namen jener zu sprechen, die sich aufgrund ihrer Situation nicht zu Wort melden können, betrachte ich distanziert. Darüber spricht man heute oft, ich habe jedoch mehrere Probleme damit. Denn damit kehren wir zur Advokatenlyrik zurück, was wir in den achtzigern Jahren angewidert ablehnten. György Petry wollte nur eine Person sein, von Beruf Schriftsteller, und Esterházy sagte, dass der Schriftsteller nicht in Volk und Nation denkt (sondern in Subjekt und Prädikat). Ich verstehe wohl, warum die Literatur und der Autor erneut so wichtig geworden sind, aber ehrlich gesagt freut es mich nicht, dass durch solche Verluste das geschriebene Wort seine Bedeutung zurückgewinnt."
Archiv: Magyar Narancs

Rolling Stone (USA), 30.07.2015

Matthieu Aikins lässt sich in den Jemen schmuggeln, wo Saudis und Iraner ihren Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Ostenausfechten: Die Saudis werfen Bomben, um dem vertriebenen Präsidenten Hadi die Rückkehr zu ermöglichen, während die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen zu Land operieren, jede Opposition unterdrücken und die Bevölkerung terrorisieren. Die USA stehen dazwischen und wissen nur so viel: ihre eigene Strategie ist geplatzt. Die Zukunft des Landes ist deprimierend vorhersehbar, fürchtet Aikins: "Der Krieg wird sich ausweiten. Gegner werden in noch kleinere, noch brutalere Milizen zersplittern. Regionale Kräfte werden für einen kleinen Vorteil gegenüber Rivalen Öl in Feuer gießen, auch wenn der Rückschlag vorprogrammiert ist. Die internationale Gemeinschaft wird hilflos daneben stehen. Eine riesige menschliche Tragödie wird sich entfalten, das Leben von Mllionen zerstören und Flüchtlinge in überquellende Camps und an die Küsten eines abweisenden Westens schicken. Eine Reihe immer nihilistischerer Dschihadistengruppen - die einzigen Gewinner in diesem Krieg - wird wachsen und die Welt gefährden. ... Der Menschenrechtsaktivist Faqih sieht aus dem Fenster. "Ich glaube, ohne ein Wunder wird es zum Schlimmsten kommen", sagt er und lacht bitter. "Aber es gibt keine Wunder.""
Archiv: Rolling Stone