Magazinrundschau

Der elementare Code des Lebens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.11.2015. Die NYRB erzählt, wie sehr die Debatte über das Massaker von Jedwabne Polen geprägt hat. Im Guardian erklärt Elif Shafak, warum sie von Länderboykotten nichts hält. Respekt analysiert die demokratische Gegenrevolutionen in Mitteleuropa. MicroMega wirft einen Blick auf den atemberaubenden Reichtum des Vatikans. New York Times, New Yorker und Boston Review stellen Crispr vor, einen molekularen Werkzeugkasten, mit dem man Gene verändern kann, und der die Universität, die das Patent daran erlangt, sehr reich machen wird.

New York Review of Books (USA), 19.11.2015

Die Enthüllungen und die Debatte über das Massaker in Jedwabne haben Polen verändert. In ihrem Buch "The Crime and the Silence" rekonstruiert Anna Bikont, wie schwer sich das Land mit dem Eingeständnis tat, dass es Polen waren, die mehrere hundert Juden in dem Ort ermordet hatten. Julian Barnes hebt das Buch, das seit seinem Erscheinen 2004 in etliche Sprachen übersetzt wurde (nicht ins Deutsche), in den Rang von Lanzmanns "Shoah": Es erzählt mit derselben eindrücklichen Ruhe von den grausamen Taten, dem Verdrängen und der hämischen Rechtfertigung. "Jedwabne leugnet weiterhin. Das Hinweisschild zur Stätte des Martyriums wurde entfernt, das neue Denkmal für die Opfer wurde mit Hakenkreuzen beschmiert und dem Spruch: 'Sie waren leicht entflammbar.' Auf dem Marktplatz, den die Juden damals mit Teelöffeln jäten mussten, steht ein Gegendenkmal für ethnische Polen, die während des Krieges deportiert wurden. Zwei der überlebende Zeugen der Stadt sind in die USA ausgewandert (einer von ihnen, Bürgermeister Godlewski, sagt allerdings, dass in Sachen Antisemitismus Jedwabne mit Chicago nicht mithalten könne). Bikonts Buch ist mehr als ein Buch der Erinnerung. Es ist auch ein Buch über das Vergessen, über die Verunreinigung von Erinnerung, über den Kampf zwischen einer leichten, erträglichen Wahrheit und einer harten, unangenehmen Wahrheit."

Marcia Angell blickt auf die Geschichte medizinischer Forschung. Wie ethisch verwerflich pharmazeutische Test sein können, zeigt Angell etwa mit dem Einsatz von Plazebos: "1994 zeigten Studien, dass eine intensive Behandlung von schwangeren, HIV-positive Frauen mit Zidovudine (AZT) eine Übertragung der Infektion auf den Fötus verhindern würde. Diese Behandlung wurde in den USA und anderen entwickelten Ländern bald gängig. Die nicht ganz unbegründete Frage war, ob eine weniger intensive (also günstigere) Behandlung mit Zidovudine nicht den gleichen Effekt hätte. Das NIH und das CDC sponsorten eine Serie von klinischen Studien in Entwicklungsländern, vor allem im subsaharischen Afrika, mit einer weniger intensiven Behandlung. Doch anstatt diese mit den intensiveren Behandlungen zu vergleichen, setzte sie für diese Studien bei den Kontrollgruppen Plazebos ein." Seit 2002 untersagt die Deklaration von Helsinki Palzebo-Kontrollen.

Magyar Narancs (Ungarn), 10.11.2015

Die Galeristin Erika Deák spricht im Interview mit Krisztina Dékei über die Stellung der zeitgenössischen Kunst in Ungarn: "Es hilft keine Schönrederei, die zeitgenössische Kunst ist in Ungarn beinahe unsichtbar. ... Ob das überhaupt wichtig ist? Historisch rückblickend nahm die zeitgenössische Kunst in unserer Gesellschaft wahrlich nie eine zentrale Position ein. In einem Land, in dem die meisten Menschen lediglich einen winzigen Bruchteil von der Welt sehen, ist es eine widersinnige Erwartung, dass sie etwas - ohne Angst vor dem Unbekannten - offen betrachten sollen, sie verstehen nicht, was sie sehen." Auch aus diesem Grund ist Dékei eine große Verfechterin von Gruppenausstellungen, "in denen ungarische Künstler zusammen mit ausländischen gezeigt werden. Daraus können Wanderausstellungen entstehen, die unsere ungarischen Künstler in einen Kontext setzen."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Ungarn, Ungarische Kunst

Guardian (UK), 09.11.2015

U2 boykottieren Israel, aber nicht Tayyip Erdogans Türkei, türkische Autoren wiederum boykottieren V.S. Naipaul. Elif Shafak hält absolut nichts von künstlerischen oder akademischen Boykotten: "Wenn Schriftsteller aus dem Westen kulturelle Boykotte unterstützen, verstehen sie oft nicht, dass es in 'wackligen Demokratien' wie der Türkei rassistische, chauvinistische und fremdenfeindliche Kräfte gibt, denen sie mit ihrer Haltung in die Hände spielen. Diese Leute wollen nicht, dass kritische Westler ihre Länder besuchen. Für sie ist es einfacher, ihre Vormachtstellung zu rechtfertigen und auszubauen, wenn keine anderen Stimmen gehört werden. Paradoxerweise profitieren also von den Boykotten nationalistische und religiöse Extremisten mit ihren Vorstellungen einer nach innen gerichteten Gesellschaft. Isolation macht sie stärker, Verbindung nach außen schwächer."

Weiteres: Philip Hensher würdigt die britische Kurzgeschichte als besonders experimentierfreudige Gattung. Robert Hanks bewundert, wieviel Witz und Vitalität Jenny Diski selbst noch in ihrem Krebstagebuch aufbringt.
Archiv: Guardian

Respekt (Tschechien), 09.11.2015

Martin M. Šimečka glaubt in Mitteleuropa eine "demokratische Gegenrevolution" zu beobachten: "Demokratisch ist sie deshalb, weil die Leute sich frei entschließen, in Ungarn Orbán zu wählen, in Polen Kaczynski, in der Slowakei Fico, und nach jüngsten Umfragen in Tschechien Andrej Babiš wählen würden. Eine Gegenrevolution ist es, weil diese Politiker das genaue Gegenteil dessen repräsentieren, wofür das Jahr 1989 stand. Ihre Wurzeln müssen sehr tief reichen, da sie die vermeintlich unüberwindlichen Gegensätze zwischen diesen vier Männern aufheben: Babiš und Fico sind ehemalige Kommunisten, Kaczynski und Orbán waren einst Antikommunisten. Heute gleichen sie einander wie ein Ei dem andern. Es verbindet sie der Nationalismus - der sich in ihrem Widerstand gegen Flüchtlinge und die Europäische Union sowie ihrer Verachtung liberaldemokratischer Werte ausdrückt."
Archiv: Respekt

New Yorker (USA), 16.11.2015

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker erklärt Michael Specter, welchen Fortschritt die künstliche Immunisierung von Mensch, Tier und Pflanze mittels CRISPR (clustered regularly interspaced short palindromic repeats) bedeutet: "Mit Crispr lassen sich tierische und menschliche Gene verändern, ausschalten oder ersetzen. Bei Mäusen ist es bereits gelungen, die für Sichelzellenanämie, Muskeldystrophie und zystische Fibrose verantwortlichen genetischen Deffekte zu korrigieren. Man konnte eine Mutation, die zu Katarakt führt, ersetzen und die von H.I.V. verwendeten Rezeptoren zur Infiltration unseres Immunsystems unschädlich machen. ... Erkrankungen wie Diabetes, Autismus, Alzheimer und Krebs, die durch eine komplexe, Hunderte Gene mit einbeziehende Dynamik verursacht werden, könnten durch Crispr leichter, schneller und genauer untersucht und verstanden werden als mit den bisher üblichen Trial-and-Error-Methoden der Tierversuche." Aber natürlich gibt es auch eine Schattenseite: "Die Technologie erlaubt es Wissenschaftlern zwangsläufig auch, genetische Fehler in menschlichen Embryonen zu korrigieren. Und jede derartige Veränderung würde das ganze Genom infiltrieren und schließlich an die Kinder, Enkel und Urenkel weitergegeben werden. Das schafft die Möglichkeit - und sie ist realistischer als jemals zuvor - dass Wissenschaftler den elementaren Code des Lebens umschreiben, mit Konsequenzen für künftige Generationen, die wir uns wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können." (Im Deutschlandfunk hat Michael Lange Crispr Anfang September eine ausführliche Reportage gewidmet.)

Außerdem im New Yorker: John Seabrook berichtet, wie Multispektralanalyse die 2000 Jahre alten Papyrusrollen aus Herculaneum lesbar machen könnte. Und Louis Menand fragt, wer den Rock 'n' Roll erfunden hat.
Archiv: New Yorker

Boston Review (USA), 10.11.2015

Yarden Katz beschreibt den Kampf um das Patent auf Crispr zwischen der Universität von Kalifornien, Berkeley, dem Broad Institute des MIT und Harvard: Alle waren an der Entdeckung beteiligt, alle haben dafür öffentliche Gelder bekommen, alle haben Firmen gegründet, die Crispr kommerziell verwerten. Katz wünscht sich eine Bewegung für freie Biologie ähnlich der für freie Software. "Yochai Benkler, der darüber nachgedacht hat, wie man die Verletzung der Commons durch das Patentsystem verhindern könnte, hat vorgeschlagen, dass Wissenschaftler offene Lizensierungen wie auf dem Gebiet der Software benutzen. Dies würde es ihnen gestatten, die Verwendung ihrer Forschungsergebnisse selbst zu bestimmen, ohne auf Gesetzesänderungen warten zu müssen. Diese Commons-basierten Lizenzen könnten ausdrücklich humanitäre Verwendungen erlauben, die sonst durch private Eigentum unmöglich gemacht werden. Wenn Forscher solche Mechanismen anwenden, so Benkler, würden die Universitäten erhebliche Verhandlungsmacht gegenüber der Bio- und Pharmaindustrie erhalten."
Archiv: Boston Review

MicroMega (Italien), 09.11.2015

In diesen Tagen erscheint Emiliano Fittipaldis Buch "Avarizia" über das Finanzgebaren des Vatikans. Etwas großsprecherisch, als sei er Bernstein und Woodward in einer Person, erzählt er in Micromega, wie er in römischen Restaurants seine "Deep throats" traf, unter anderem einen hohen Würdenträger, der ihm von einem jungen Priesteranwärter aus seiner Bekanntschaft präsentiert wird. Er solle mit dem Auto kommen, nicht mit der Vespa, wird ihm vor dem Treffen gesagt: "Als die beiden den Kofferraum ihrer weißen Limousine öffnen, verstehe ich, dass das ein guter Rat war. Darin stecken große schwere Ordner voller Geheimdokumente aus der Güterverwaltung des Apostolischen Stuhls, aus der Vatikanbank, aus Katasterämtern und Unterlagen von Wirtschaftsprüfern, die für die internen Untersuchungen im Vatikans gearbeitet haben: 'Ich gebe dir das, weil Franziskus Bescheid wissen soll. Er soll wissen, dass der Vatikan in Rom Immobilien im Wert von 4 Milliarden Euro besitzt und dass dort keine Flüchtlinge wohnen, sondern ein Sack voll VIPs und Begünstigte, die lächerliche Mieten zahlen. Er soll wissen, dass die Stiftungen für Ratzinger und Wojtyla so viel Geld einkassiert haben, dass sie heute 15 Millionen Euro zu verwalten haben. Er soll wissen, dass eine Menge Kardinäle in Wohnungen von 400, 500, 600 Quadratmetern leben. Plus Penthouse und Dachterrasse."
Archiv: MicroMega

La vie des idees (Frankreich), 06.11.2015

Die Historikerin Ekaterina Pravilova bestreitet den dritten Teil des Dossiers über das heutige Russland. In ihrem Text geht es um den Propagandapparat der Regierung, der sich nicht nur auf die politische Sphäre beschränke und nun bei der Neuschreibung der Geschichte des Landes eine Rationalitätskrise in der Intelligentsia und der wissenschaflichen Gemeinschaft verursache. Dafür sei vor allen Dingen die vom Staat lancierte Paranoia bezüglich eines "totalen Kriegs gegen Russland" verantwortlich. Die Absurdität der jüngsten politischen Ereignisse vermittle den Eindruck, "dass wir, die russischen Bürger, in einer alptraumhaften Gegen-Utopie lebten ... Die starke Zunahme pseudowissenschaftlicher Gedanken in den Populärmedien und die Verbreitung einer mystifizierten Version der Geschichte durch die Regierung haben zahlreiche Wissenschaftler und Forscher dazu gebracht, einen 'Niedergang der Rationalität' zu diagnostizieren, der 'zu einem Desinteresse an einer wissenschaftlichen Version der Welt' führe. Für manche stellt die gegenwärtige Krise des Wissens eine erstzunehmende Katastrophe dar, die Russland allmählich in einen mittelalterlichen Obskurantismus versetzt."

New Statesman (UK), 09.11.2015

Die Europäische Union steht vor dem Kollaps. Und man hat fast den Eindruck, dass sich der Historiker Brendan Simms und Timothy Less über die von ihnen entwickelte Diagnose ( sie nennen es eine "apokalyptische, aber am Ende völlig triftige Folge der Ereignisse") die Hände reiben. Und zwar wird Britannien aus der Union austreten, und die kleineren Nationen der Union Deutschland ausliefern. "Deutschland bliebe als der letzte übrig, nachdem alle anderen die Union verlassen haben oder herausgedrängt wurden. Die einzige Ausnhame könnte Österreich sein, das an Deutschland hängt wie Weißrussland an Russland oder Montenegro an Serbien." Und das tollste ist: Die Schotten verzichten nach diesem Szenario auf einen Austritt aus Großbritannien, weil sie sich vor den Trümmern der Union in den englischen Mutterschoß flüchten. Und "mit dem Vergehen der europäische Union bliebe Großbritannien als einziges erfolgreiches Modell einer multinationalen parlamentarischen Union". Timothy Less, Brendan Simms Koautor, ist ein "Krisenberater" und hat mit diesem Text jetzt bestimmt eine Menge Kunden akquiriert.
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 10.11.2015

Pál Tamás, ehemaliger Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, sieht die Ursachen für die ablehnende Haltung der mitteleuropäischen Gesellschaften gegenüber der Flüchtlingen weniger in der gängigen Erklärung der abgeschirmten sozialistischen Vergangenheit als im vermeintlichen Scheitern (zumindest wird das von vielen so empfunden) des Systemwechsels seit 1989: "In den Neunzigern hoffte die Region grundsätzlich, dass sich ihr Schicksal zum Besseren wenden würde. Es galt: Auch wenn es sich etwas verzögerte, würde früher oder später jeder Erfolgserlebnisse haben. Wäre dies eingetreten, würden die Flüchtlinge heute leichteren Herzens empfangen werden. Übrigens kamen schon direkt nach der Wende nicht wenige: Minderheitenungarn aus den Nachbarländern, Kriegsflüchtlinge vom Balkan, aber auch Chinesen nach Ungarn, Ukrainer und Weißrussen nach Polen. Nach der Jahrtausendwende begriffen jedoch bereits viele Menschen, dass sie trotz großer Umverteilungen, am Ende leer dastehen würden. Sie wurden unfreundlich, doch Wut war nicht bestimmend. Heute fühlen sie sich - obwohl sich ihre Lebensqualität auch in der messbaren Breite verbessert hat - grundsätzlich betrogen und gescheitert. Sie achten zunehmend nur auf sich selbst und werden wütend. Kaum jemand ist hier ausgebrannt. Vielmehr brodelt es und eine neue Abrechnung wird vorbereitet. Mit wem abgerechnet werden wird, ist aber noch unklar."

New York Times (USA), 08.11.2015

Das Magazin der New York Times ist den Flüchtlingen gewidmet. Allein 30 Millionen Kinder sind derzeit kriegsbedingt auf der Flucht, erklärt Jake Silverstein im Editorial. Unter anderem der neunjährige Sudanese Choul (mehr), der mutterseelenallein in Kenia festsitzt, der elfjährige Ostukrainer Oleg (mehr), und Hana, zwölf Jahre alt, aus Syrien, die in den Libanon geflüchtet ist und der Susan Dominus einen längeren Artikel widmet: "Die meisten Kinder aus Syrien harren mit ihren Familien im Libanon, in der Türkei oder Jordanien in einem zermürbenden Schwebezustand aus. Während die Türkei und Jordanien Camps errichtet haben, weigert sich der Libanon aus Angst, die Syrer könnten sich im Land dauerhaft niederlassen. Die betroffenen Familien bauen Behelfsunterkünfte auf Feldern, an Straßen oder in verlassenen Gebäuden. In den Städten verkaufen die Kinder Papierblumen oder betteln … Anders als die Kinder, die nach Europa unterwegs sind, müssen Hana und ihre Leidensgenossen warten. Hanas Hoffnung, irgendwann nach Hause zurückzukehren und all das Aufgegebene wiederzufinden, schwindet. Sie ahnt, wie viel von ihrem jungen Leben bereits für immer verloren ist."

Auch die NYT widmet sich dem molekularen Werkzeugkasten Crispr: Jennifer Kahn porträtiert eine der Entdeckerinnen, die Biochemikerin Jennifer Doudna.
Archiv: New York Times