Magazinrundschau

Exil ist wie die Liebe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
22.12.2015. Selbst die Geheimdienste in den USA arbeiten in Syrien gegeneinander, berichtet Seymour Hersh in der London Review. In A2 kritisiert die Kunsthistorikerin Milena Bartlová das kolonialistische Verhältnis der Tschechen zu den Slowaken. In Guernica erklärt der Schriftsteller Dinaw Mengestu, warum sein Vater nie nach Äthiopien zurück konnte. The Nation stellt koreanische monochrome Malerei vor.

London Review of Books (UK), 07.01.2016

Der Krieg in Syrien wächst sich zu einem immer irrsinnigeren Stellvertreterkrieg aus. Seymour Hersh berichtet jetzt, dass auch CIA und Pentagon eher gegeneinander als miteinander agieren. Offenbar waren die Militärs ziemlich sauer auf die CIA, die nicht nur moderate Rebellen ausbildete, sondern auch Extremisten, also die al-Nusra-Front und den Islamischen Staat mit Waffen aus Libyen versorgte. "'Unsere Strategie, Assads Opposition mit Waffen zu versorgen, war nicht nur erfolglos, sondern kontraproduktiv', sagte mir ein früher Berater der Joint Chiefs of Staff: 'Die Joint Chiefs meinten, dass Assad nicht durch Fundamentalisten ersetzt werden dürfte. Die Politik der Regierung entsprach dem Gegenteil. Sie wollte, dass Assad verschwindet, doch die Opposition war von Extremisten beherrscht. Wer also sollte ihn ersetzen? Dass Assad gehen soll, ist schön und gut, aber das hieß auch, dass jeder andere besser wäre. Damit hatten die JCS ein Problem.' Die Joint Chiefs glaubten, dass eine direkte Konfrontation mit Obamas Politik 'null Chance auf Erfolg' hätte. Also entschieden sie 2013, Schritte gegen die Extremisten zu unternehmen, ohne über politische Kanäle zu gehen und gaben Informationen an die Militärs anderer Staaten in der Annahme weiter, dass diese an die syrische Armee gegeben und gegen den gemeinsamen Feind benutzt würden, die al-Nusra-Front und den Islamischen Staat. Als die Quelle zu sprudeln begannen, gaben Deutschland, Israel und Russland Informationen über Stellungen und Absichten der Dschihadisten an die syrische Armee weiter. Im Gegenzug lieferte Syrien Informationen über seine eigenen Kapazitäten und Absichten."

HVG (Ungarn), 20.12.2015

Asztrik Várszegi, Erzabt des Benediktinerklosters Pannonhalma (Martinsberg), skizziert im Gespräch mit János Dobszay die christlichen Wurzeln und die geistige Enge, die Ungarn aus dem Kommunismus geerbt hat: "Unsere Traditionen haben in der Tat gänzlich christliche Wurzeln, doch das bedeutet nicht, dass wir in unseren Taten und in unseren Einstellungen auch christlich wären. Das christliche Europa, das christliche Ungarn sind Utopien, Wunschdenken. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, sollten sich selbst ehrlich fragen, ob wir wirklich unser Christentum verteidigen und nicht eher unseren Wohlstand, unsere Behaglichkeit und Sicherheit? (…) Vor 26 Jahren, als noch junger Bischof aus dem sozialistischen Ungarn kommend, hörte ich bei der europäischen Bischofskonferenz bestürzt, dass dort über den Islam gesprochen wurde. Ich musste begreifen, dass unsere physische Eingeschlossenheit mit einer geistigen einher ging."
Archiv: HVG

The Nation (USA), 04.01.2016

Koreanische Kunst - das ist nicht nur traditionelle Kunst oder Nam June Paik oder die Kunst nach der Globalisierung. Da ist viel mehr, verspricht Barry Schwabsky anlässlich dreier New Yorker Ausstellungen: Chung Chang-sup (1927-2011) in der Galerie Perrotin,  Yun Hyong-keun (1928-2007) in der Galerie Blum & Poe und Ha Chong-hyun (geb. 1935) in der Galerie Tina Kim. Alle drei laufen unter dem Label Tansaekhwa, was koreanische monochrome Malerei bedeutet. "Tansaekhwa verdient die Aufmerksamkeit aller mit einem genuinen Interesse an Malerei - zum Teil, weil es seinen Ursprung in einem zutiefst zwiespältigen Verhältnis zur Malerei hat. In Südkorea läuft die Kunsterziehung auf zwei verschiedenen Gleisen: 'östlich' (Tinte) und 'westlich' (Öl). Die Tansaekhwa-Künstler, in der Nachkriegszeit geboren oder aufgewachsen, mögen nicht in diesem System erzogen worden sein, aber es ist eine Überlegung wert, ob ihre Arbeiten weniger eine Synthese aus diesen vermeintlich getrennten aisatischen und euro-amerikanischen Strängen sind als in Opposition zu beiden stehen - wie auch in Opposition zu der starken Dichotomie zwischen ihnen. Lee spricht über Yuns Arbeiten nicht als Gemälde, sondern als 'Ungemälde'. Und Chung Chang-sup hat erklärt: 'Malen ohne zu malen, kreieren ohne zu kreieren, das ist es, was ich will.'"
Archiv: The Nation

A2 (Tschechien), 16.12.2015

Milena Bartlová, Professorin der Kunstgeschichte, reflektiert über das Verhältnis von Tschechen und Slowaken und konstatiert auf Seiten der Tschechen ein stark kolonialistisches Gehabe, das sich besonders auf kultureller Ebene äußert: Obwohl auch nach der Auflösung der Tschechoslowakei Slowaken in Tschechien wirtschaftlich oder politisch eine wichtige Rolle spielen, obwohl beide Nationalitäten einander sprachlich problemlos verstehen könnten, "werden slowakische Bücher in Tschechien nur in Übersetzung verkauft, und es besteht nicht viel größeres Interesse an ihnen als an Gegenwartsliteratur aus, sagen wir, Rumänien. Die einzige Verkaufsstelle slowakischer Bücher in Prag ist vor ein paar Jahren still eingegangen. Slowakische Filme gelangen bei uns nur ausnahmsweise in den Verleih, und wenn, dann sind sie synchronisiert. Kurz, die Tschechen lesen kein Slowakisch, und die jüngere Generation versteht die Sprache schon kaum mehr. (…) Unser Verhältnis zu den Slowaken erinnert an das Verhältnis der Franzosen zu den Algeriern oder der Briten zu den Indern und unterscheidet sich vor allem dadurch, dass man Slowaken nicht an ihrer Hautfarbe erkennen kann. Das ist vielleicht etwas polemisch, aber einen kolonialistischen Grundzug gibt es: ein in der Vergangenheit ökonomisch und politisch dominiertes Land, dem der Kolonisator 'die höhere Kultur' beibringt. (…) So wird auch die Auflösung der Tschechoslowakei von den Tschechen generell nicht als Verfall oder Versagen des Staates angesehen, sondern als einseitiger Rückzug der Slowaken, nach dem Motto: 'Wenn sie wollen, dann sollen sie doch gehen.' Bis heute wollen wir uns nicht eingestehen, dass dieser friedliche Zerfall nicht nur von slowakischem Nationalismus bewirkt wurde, sondern auch von der machtökonomischen Manipulation der tschechischen Neoliberalismusapostel mit Václav Klaus an der Spitze."
Archiv: A2

Guernica (USA), 15.12.2015

Der äthiopische Schriftsteller Dinaw Mengestu erzählt von seinem Vater, der nach dem Putsch der Kommunisten aus Äthiopien floh und von seiner Rückkehr träumte. Doch je länger der Vater in den USA lebte, umso rigider und irrealer wurden seine politischen Vorstellungen: "Ich begann immer mehr an den Wert und die Notwendigkeit der Fiktion zu glauben. Ich glaube, das gleiche galt für meinen Vater, der, zusammen mit hunderten anderen Männern, Jahr für Jahr darauf beharrte, an einer Version Äthiopiens zu bauen, die sie einschließen würde. Ich hörte wie mein Vater immer wieder davon spracht, er könne nicht zurück nach Äthiopien. Er glaubte, die neue Regierung - immer totalitärer und intoleranter Dissidenten gegenüber - würde es jemandem wie ihm schwer machen. Exil war schon lange keine vorübergehende Angelegenheit mehr, aber ich hatte nicht gewusst, dass es wie die Liebe mit der Zeit an Tiefe gewinnen kann. Es war ein Staat mit eigenen Grenzen, über die hinweg zu blicken immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich wurde."
Archiv: Guernica

Ideas (Argentinien), 20.12.2015

Pablo Avelluto, der frisch ernannte Kulturminister der neuen argentinischen Regierung, hat den Schriftsteller Alberto Manguel zum neuen Direktor der mythischen argentinischen Nationalbibliothek berufen, die u. a. von 1955 bis 1973 von Jorge Luis Borges geleitet wurde. "Die Liste meiner Vorgänger ist einschüchternd und herausfordernd zugleich", bekennt Manguel, der für seine neue Aufgabe von New York nach Argentinien zurückkehrt, und fügt hinzu: "Ich kann mir keine Zukunft ohne Bücher vorstellen, so wenig wie eine Zukunft ohne Verkehrsmittel oder Kleidung, es sei denn, wir verwandeln uns wieder in eine orale Gesellschaft. Das Buch hat im Lauf der Jahrhunderte viele Formen angenommen, und es wird weitere Wandlungen durchmachen. Selbst das digitale Buch wird uns irgendwann altmodisch vorkommen, aber grundlegend anders wird es meiner Ansicht nach dennoch nicht sein."
Archiv: Ideas

The Atlantic (USA), 31.01.2016

Ungeheuer faktenreich, aber sehr gut lesbar erzählt David Epstein von propublica in Atlantic, wie amerikanische Sicherheitskräfte unter Dave Herrod von der Drug Enforcement Administration das mexikanische Drogenkartell AFO nach jahrelangem Kampf vor etwa zehn Jahren besiegt haben - die in dem Artikel zitierten Grausamkeiten der Drogenbosse lassen Tarantino, Scorsese und die "Sons of Anarchy" dabei als Waisenknaben dastehen. Das deprimierende Resümee liefert Epstein schon nach einigen Seiten seiner epischen Reportage: Herrod ist "stolz über Kühnheit und Zähigkeit, die es erlaubten, das Kartell zu zerstören, er weiß, dass er Morde und Entführungen verhinderte. Aber wenn er zurückblickt, hat er nicht das Gefühl des glasklaren Triumphes, das die Presseerklärungen vebreiteten. Herrod und die anderen Beamten sind desillusioniert. Die Neutralisierung der AFO hat nur Joaquin Guzman - alias 'El Chapo' - und seinem heute kaum noch besiegbaren Sinaloa-Kartell das Terrain geebnet... 'Drogenbekämpfung, wie wir sie kennen', sagt mir Herrod, 'funktioniert nicht.'"

Außerdem: Die Republikaner mögen noch so laut schreien, die Amerikaner rücken insgesamt immer weiter nach links, meint Peter Beinart in einem ausführlichen Essay.
Archiv: The Atlantic

La vie des idees (Frankreich), 15.12.2015

Der Rechtshistoriker Bernard Manin geht über viele Seiten zurück bis in die Römische Republik und die Institution der "Diktatur", um die Frage zu klären, ob der Ausnahmezustand eine sinnvolle Reaktion eines Staates auf die Bedrohung durch islamistischen Terror sein kann. Am Ende ist seine Antwort ein klares Nein, weil der Terrorismus ein internationales Phänomen ist und der Ausnahmezustand nur auf nationaler Ebene verfügt werden kann - und das auch nur, wenn ein Ende definierbar ist: "Das Paradigma des Ausnahmezustands ist von Grund auf ungeeignet, um der terroristischen Bedrohung zu begegnen. Das liegt an seiner strukturellen Herleitung aus der Verfassung. Diese Struktur bedingt eine Erlaubnis, sich von den Normen und Werten der Verfassung zu entfernen. Die Konformität mit der Ordnung der Verfassung ist nur gegeben, wenn die Maßnahmen durch Zeit und Notwendigkeit begrenzt sind. Die Befristung ist eine wesentliche Bedingung."

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.12.2015

In einem ausführlichen Interview mit Csaba Károlyi spricht der Historiker und Judaist Géza Komoróczy über die Bedeutung von Migrationsbewegungen in der Geschichte und über die janusköpfige Haltung der ungarischen Regierung zu fremden und eigenen Migranten: "Menschengruppen haben den instinktiven Wunsch, dort, wo sie leben, akzeptiert zu werden. Aber sie wollen auch als Gruppe fortbestehen und ihre Bräuche behalten können. Die ungarische Obrigkeit will, dass der eigene Nationalstaat nicht von Fremden verwässert wird, doch protestiert sie in Siebenbürgen, im Banat, in der Ukraine oder in der Slowakei dagegen, wenn dieselbe Auffassung sich gegen die dortige ungarische Minderheit richtet. (…) Der ungarische Ministerpräsident hetzt gegen Fremde, ich fürchte, dies bedeutet gerade für die Juden eine Gefahr. Denn der entfachte Hass kann sehr schnell diejenigen treffen, die immer wieder, weil stets vorhanden, als Zielscheibe dienen: die Roma und die Juden."

New York Times (USA), 20.12.2015

Im aktuellen Magazin der New York Times fragt Jim Yardley, ob Europa die ihm mit der Griechenlandpleite, dem Terror und der Flüchtlingskrise auferlegte Zerreißprobe bestehen wird: "Vielleicht ist die Vorstellung von einem vereinigten Europa nie realistisch gewesen. Doch die Aussicht auf einen geschwächten Kontinent sollte Washington alarmieren. Europa und die USA sind Handelspartner und in der NATO organisierte militärische Verbündete, und sie teilen das Engagement für die Demokratie. Viele europäische Bürokraten und Offizielle sind der Meinung, dass jede Krise Europa letztlich gestärkt und seine Verbundenheit bekräftigt hat. Aber der Optimismus, der das Projekt voranbrachte, Europa Kriege meistern ließ und Wohlstand brachte, ist gefährdet. Die neue Herausforderung besteht darin, ob es Europa gelingt, einer immer größeren und heterogeneren Gruppe von Bürgern ein gutes und sicheres Leben zu ermöglichen. Hat Europa die Grenzen seines Ideals einer immer engeren Geschlossenheit erreicht? Europas verbindendes Material könnte neuerdings aus Angst beschaffen sein, Angst vor dem Unbekannten, Angst, was geschieht, wenn Griechenland aus der Eurozone herausfällt oder Großbritannien die Union verlässt."

Außerdem: Jim Rutenberg berichtet über neue Attacken auf das Wahlrecht für Minderheiten wie die Hispanos. Und im Medienressort erklärt Nicola Clark, wie sich der Springer Verlag fürs digitale Zeitalter rüstet.
Archiv: New York Times