Magazinrundschau

Hermeneutik ist heilbar

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.01.2016. In Nepszabadsag besteht László Végel auf seinem ungarischen Anderssein. In der New York Times beobachtet Karl Ove Knausgård eine Hirn-OP. Demokratie braucht keinen Nationalstaat, erklärt Robert Menasse in Eurozine. Sexuelle Befreiung kann nicht das A und O des Feminismus sein, meint Rafia Zakaria im New Republic. Der Merkur seziert russische Propagandamethoden. Filmcomment erklärt, warum immer größere Teile der Filmgeschichte unwiderruflich verloren gehen. Die New York Review of Books schildert die Angst vor dem IS in Gaza.

Eurozine (Österreich), 04.01.2016

Robert Menasse begründet in einem Essay, der zuerst auf Englisch in Eurozine erscheint (und auf Deutsch in den Akzenten kommen wird), warum er nicht an die These glaubt, dass Demokratie allein im Rahmen von Nationalsstaaten funktionieren könne - allzu oft habe der Nationalismus gerade zerstörerisch gewirkt: "Denken Sie an Österreich: Das alte Österreich, das Habsburgerreich war ein multiethnisches vielsprachiges Konstrukt, ein transnationales Gebilde, das weder eine nationale Idee noch Ambition hatte. Die verschiedenen als Kronländer zusammenlebenden Regionen genossen Schutz durch die angehäufte Größe, die Geltung der Gesetze und eine gemeinsame Verwaltung und Infrastruktur, ohne zu versuchen, die verschiedenen Kulturen und Mentalitäten zu homogenisieren. Die Ideologie des Nationalismus war es, die dieses Konstukt zerstörte. Und die Völker in den dann unabhängigen Nationen verbrachten nicht einen glücklicheren, freieren oder autonomeren Tag als zuvor, im Gegenteil, sie lebten elende Leben in totalitären Regimes. Besser wurden die Dinge erst, als diese Länder in die transnationale Gemeinsschaft der EU eintraten."

Außerdem in Eurozine: Pham Van Quangs leider staubtrockener, zuerst in der Nouvelle Revue publizierter Überblick über frankophone vietnamesische Literatur.
Archiv: Eurozine

New Republic (USA), 13.11.2015

Die pakistanisch-amerikanische Anwältin und Autorin Rafia Zakaria hatte als frisch geschiedene, alleinerziehende Mutter in den 90er Jahren keinen leichten Stand - weder bei ihrer pakistanischen Familie noch bei amerikanischen Feministinnen. In der New Republic erklärt sie, warum das so war (und vermutlich heute noch so ist): An der Uni sei Feminismus vor allem als sexuelle Befreiung definiert worden - eine Definition, die Zakaria missfiel, ohne dass sie das offen zugeben mochte: "Die Annahmen meines Professors und der Kommilitonen zurückzuweisen, würde mich als prüde abstempeln, als unfrei. Widersprechen würde Einkreisung nach sich ziehen: durch Mitleid, durch wissende Blicke, die für jene reserviert sind, die unter noch unverstandener Unterdrückung leiden. Wenn ich spräche, dann würde ich ihnen geben, was sie wollen: Eine muslimische Frau, die gerettet werden muss, die von den Vorteilen der sexuellen Befreiung unterrichtet werden muss. Es wäre unmöglich, in der Eile und Hitze dieser Rettungsversuche zu erklären, dass meine Opposition sich überhaupt nicht gegen den Sex oder sexuelles Vergnügen richtet, sondern gegen die Konstruktion als unproblematisch, un-kolonisiert durch das Patriarchat, einzigen Maßstab der Befreiung. Eine muslimische Feministin, da war ich sicher, konnte diese Art nuancierter Unterscheidung nicht treffen."
Archiv: New Republic

Merkur (Deutschland), 01.01.2016

Russische Propaganda setzt heute nicht mehr auf Indoktrination, sondern auf Verwirrung durch pseudoliberalen Relativismus, meint Helmut König: "Der Effekt dieser Praktiken ist nicht die Ersetzung der Wahrheit durch die Lüge, sondern die generelle Aufhebung des Unterschieds zwischen beiden. Die gezielte Desinformation wird zum Element eines kaleidoskopartigen Verwirrspiels, in dem es gesicherte Fakten und Orientierungspunkte nicht mehr gibt. Am Ende weiß niemand mehr, was stimmt und was nicht, alles löst sich in Mutmaßungen und Halbwissen auf, zuverlässige und überprüfbare Informationen gibt es nicht, nichts und niemand soll sicher sein, niemand soll wissen, woran er ist. Vorherrschend wird der gezielt geförderte Zynismus, der sich weigert, überhaupt noch irgendetwas als sicher und wahr anzuerkennen."

Holger Schulze besingt den Frohmann Verlag, der das instantane Schreiben zum Programm seiner E-Books gemacht hat, das Schreiben im Augenblick, das wir uns Schulze zufolge als "eine Art Selfie-Publishing" vorstellen müssen, reich an Bildern und aufgenötigten Pointen: "Und dann telefoniert eine Frau neben dir dreimal hintereinander und erzählt dieselbe Geschichte jedesmal anders", zitiert er aus dem Band "Sitze im Bus" und schreibt selbst: "Was vierzig oder sechzig Jahre zuvor noch als vorsätzlich destruktive Lyrik gelesen worden wäre, bereitet in Zeiten von Spampoetry, Listicles und Chatbots dagegen fast schon ein wohltuendes Schmökervergnügen. Instantanes Schreiben durch instantanes Lesen. 'Hermeneutik ist heilbar.'"
Archiv: Merkur

Film Comment (USA), 29.12.2015

Filmgeschichte ist fragil - insbesondere in Hongkong scheint das zu gelten, wie Grady Hendrix berichtet. Sogar Klassiker aus den 90er Jahren sind heute - trotz damals großem Kassenerfolg und bis heute attraktiver Starbesetzung - mitunter kaum mehr auf historischem Filmmaterial aufzutreiben. Reger Handlungsbedarf für Archivare und Restauratoren also, die sich allerdings nicht nur etwa mit den Fragen nach der korrekten Farbwiedergabe herumquälen müssen, sondern insbesondere auch mit einer kniffligen Rechtelage, die von einem zeitlich fast uferlos ausgedehnten Urheberrecht verursacht wird, dass nicht nur Kultur zerstört, sondern selbst die Rechteverwerter paralysiert: "'Vor allem, was Filme aus den Achtzigern betrifft, ist die Rechtelage völlig undurchsichtig', sagt [Restaurator] Bede. 'Den Leuten damals war nie bewusst, dass sie einen Film drehen und noch in dreißig, vierzig Jahren damit Geld verdienen könnten. Also haben sie die Rechte für Übersee einfach verkauft und jetzt sind sie kaum mehr nachvollziehbar. Es ist sehr schwierig, sie zu recherchieren.' ... Wer sich die Mühe macht, um einen Film zu restaurieren, will sicher sein, dass er diese restaurierte Fassung in so vielen Märkten wie möglich zu Geld machen kann. Besitzt man nur die Rechte für den chinesischen Markt, verliert eine Restaurierung deutlich an Reiz. Wer aber besitzt die Rechte an den Bruce-Lee-Filmen, die Fortune Star derzeit restauriert? Fortune Star gehört der chinesische Markt, doch die nordamerikanischen Rechte sind schwieriger zu ermitteln. 'The Big Boss' lief in Nordamerika ursprünglich in der mittlerweile aufgelösten Chinatown-Auswertung, später brachte Columbia den Film nochmals heraus. 20th Century Fox brachte ihn auf Homevideo. Und die Streaming- und Fernsehrechte liegen bei Miramax. Die meisten Verleiher meiden einen solchen Rechte-Dschungel. Was wiederum bedeutet, dass es weniger Anreiz gibt, Hongkong-Filme zu restaurieren." Was wiederum eine echte Katastrophe für die Filmkultur ist.
Archiv: Film Comment

La vie des idees (Frankreich), 04.01.2016

Um die Logik des Ausnahmerechts - beispielsweise im Kampf gegen den Terror - geht es in einem Gespräch mit der Soziologin Vanessa Codaccioni, die auch ein Buch zum Thema vorgelegt hat ("Justice d'exception - L' Etat face aux crimes politiques et terroristes"). Ausnahmerecht, führt sie aus, "erklärt sich natürlich durch die mörderische Gefahr der Anschläge, aber es hat auch mit politischer Konkurrenz in Sicherheitsfragen zu tun. Die Linke an der Regierung hat stets gemeinrechtliche Prinzipien verfochten, um radikale Gewalt zu bekämpfen, hat sich am Ende aber doch der These der notwendigen Abweichung von den Regeln und Normen des normalen Rechts angeschlossen, um dem Terror zu begegnen."

New Yorker (USA), 11.01.2016

Im ersten Heft des neuen Jahres erkundet Katherine Zoepf den Stand der Frauenrechte in Saudi-Arabien und stellt fest, dass immer mehr weibliche Anwälte dort zumindest für mehr Aufmerksamkeit für das sensible Thema sorgen: "2008 gab es die ersten Juraabsolventinnen, aber bis 2013 durften sie nicht vor Gericht erscheinen. Von den Dutzenden Anwältinnen, mit denen ich sprach, zeigten nur zwei Interesse am Thema Frauenrechte. Der größte Effekt der Reformen ist ein größeres Bewusstsein der Frauen für ihre Rechte und der wachsende Wunsch, diese vor Gericht durchzusetzen. Im internationalen Vergleich sind diese Rechte minimal. Im saudischen Recht, das auf der Scharia basiert, ist die Aussage einer Frau vor Gericht nur halb so viel wert wie die eines Mannes. Ein Mordfall erfordert die Aussage von zwei männlichen Zeugen oder eines männlichen und zwei weiblichen. Das Vormundschaftssytem, das eine erwachsene Frau dazu verpflichtet, für Reisen oder eine medizinische Behandlung die Erlaubnis ihres Vormunds einzuholen, degradiert saudische Frauen zu Kindern. Unter Umständen ist der männliche Vormund einer Frau ihr eigener minderjähriger Sohn."

Außerdem: Nick Paumgarten porträtiert die 14-jährige Wunder-Kletterin Ashima Shiraishi. Und Tad Friend trifft Adam Fogelson, Boss des aufstrebenden Hollywood-Studios STX Entertainment, das auf Storys mit menschlichem Maßstab statt auf Superhelden setzt.
Archiv: New Yorker

Commentary (USA), 14.12.2015

Zugegeben: Jonathan Foremans Artikel ist so polemisch, wie man es vom Commentary Magazine erwarten darf. Aber er ist ausführlich und trägt eine Menge Informationen zu Jeremy Corbyns Herkunft aus der Betonfraktion der britischen Linken zusammen. Foremans Ausblick ist nicht so optimistisch: "Es ist noch nicht so klar, ob Corbyn ein solches Gift für Wahlen ist, wie es Mainstreammedien und -politiker glauben. Beobachter innerhalb der Labour-Partei fürchten, dass Corbyn Premierminister wird, nachdem er die Partei verwandelt und die britische Politik nach links gerückt hat. Auch sie glauben, dass Corbyn nur geringe Chancen hat, die Wechselwähler 'Mittelenglands' zu gewinnen. Aber sie fürchten, dass Corbyn etwa eine Million Jungwähler gewinnen könnte, die keine Erinnerung an den Kalten Krieg oder gar das Versagen von Labour in den Siebzigern haben und die glauben, dass Corbyn etwas Frisches und Neues anzubieten hat."
Archiv: Commentary

Telerama (Frankreich), 03.01.2016

Wegen Bildern wurde in Paris 2015 gemordet. Darum stoßen die Forschungen des Bildwissenschaftlers Horst Bredekamp in Frankreich auf großes Interesse. Im Gespräch mit Juliette Cerf erklärt er, was unter "Bildaktivität" zu verstehen ist: "Schon Aristoteles sprach von der in der Form enthaltenen Energie. Nehmen wir als Beispiel die Pläne für den Petersdom in Rom, die von Bramante gezeichnet wurden. Sie trafen die Vorstellungen des Papstes Julius II. so genau, dass er die alte Basilika des Konstantin abreißen ließ, um die Pläne Bramantes zu verwirklichen. Seine Zeichnungen hatten eine verschwindende Materialität, und doch haben sie Geschichte gemacht. Und der Bau der neuen Basilika, der vom Ablasshandel finanziert wurde, hat die protestantische Reformation ausgelöst."
Archiv: Telerama

Aeon (UK), 05.01.2016

Psychische Erkrankungen werden heute viel sensibler behandelt als vor hundert Jahren, aber sie werden auch noch benutzt, jedes aufmüpfige Verhalten als "krank" zu charakterisieren. Das hat eine Tradition, nicht nur in Ländern wie Russland oder China, sondern auch im Westen, erklärt Carrie Arnold. Gezeigt hat ihr das eine Auswertung der Akten der Psychatrie 1885-1973 im Ionia State Hospital in Michigan durch den Psychiater und Soziologe Jonathan Metzl. Bis in die 1950er hinein wurden vor allem weiße Hausfrauen als schizophren eingewiesen, die an Depressionen litten und "ihren Haushalt nicht in Ordnung halten konnten", stellte dieser fest. Als die Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern an Fahrt gewann, änderte sich das: "Als 1968 die zweite Ausgabe des psychiatrischen Handbuchs (DSM) erschien, hatten Psychiater die Kennzeichen für Schizophrenie verändert: von Symptomen wie Stimmungsschwankungen, leichte Bereitschaft zu weinen oder Verwirrtheit hin zu Zeichen von Größenwahn, Feindseligkeit und Aggression - oder anders gesagt: von weißen Ehefrauen aus der Vorstadt hin zu schwarzen Männern aus der Großstadt. Die Forscher dachten womöglich, dass die neue Terminologie ihnen helfen würden, wissenschaftlicher in ihrer Diagnose zu werden. Aber als sie in den Kliniken und in der Gesellschaft angewandt wurde, zeigte sich plötzlich, dass sie benutzt wurde, überproportional viele schwarze Männer als schizophren zu behandeln, besonders, wenn sie Teil der politischen Protestbewegung waren, sagt Metzl."
Archiv: Aeon

New York Review of Books (USA), 14.01.2016

Bisher wollten die Palästinenser einen Staat, kein Kalifat, doch jetzt macht sich der "Islamische Staat" im Gaza-Streifen breit, als Abspaltung der salafistischen Dschihadisten, die sich zuvor von der Hamas abgespalten hatte. Wie Sarah Helm berichtet, kann man allerdings nicht einmal Trost daraus ziehen, dass sich Extremisten zuverlässig gegenseitig zerlegen: "Ende 2015 sind die Aussichten für Gaza trübe, doch wie finster sie werden, hängt davon ab, wieviel Unterstützung der IS noch gewinnen wird. Keiner weiß, wie erfolgreich die Hamas ihn bekämpfen wird. Noch vor einem Jahr glaubte niemand, dass der IS überhaupt in Gaza auftauchen würde. Als er es tat, war die Hamas so überrascht wie die Bevölkerung. Wenn der IS an Stärke gewinnt, könnte sich die verzweifelte Schlange derjenigen, die auf Visa und Ausreise-Erlaubnisse warten, zu einer Stampede gegen die verschlossenen Tore von Gaza auswachsen. Noch schlimmer als die Albträume, denen die Menschen in Gaza bisher ausgesetzt waren, ist, in Gaza mit den IS-Monstern gefangen zu sein."

Michel Massing erkundet weiter, wie sich der digitale Journalismus mit Recherchen über die oberen ein Prozent verdient machen könnte. Untersuchen könnten investigative Webseiten, wie Milliardäre mit Hilfe von Stiftungen ihre Agenda durchsetzen (in Ansätzen tut dies Inside Philanthropy), oder was Finanzholdings wie BlackRock treiben, die über mehr Geld verfügen als das deutsche BIP: "Dem Silicon Valley würden solche Untersuchungen ebenfall gut tun. Derzeit beschränken sich Berichte über die Tech-Welt auf Produkte, Startups und Persönlichkeiten. Eine Webseite über Geld und Macht würde sich stattdessen auf den wachsenden politischen Einfluss konzentrieren. Vor zehn Jahren bestand Googles Lobbying zum Beispiel aus einem Ein-Mann-Betrieb in Washington. Heute arbeiten dort 100 Lobbyisten in einem Bürogebäude, das ungefähr so groß ist wie das Weiße Haus. Neben diesem traditionellen Lobbying finanziert Google Forschung an den Universitäten, Think Tanks und Interessensgruppen oder es 'schießt Geld in Geschäftskoalitionen, die als Projekte von öffentlichem Interesse ausgegeben werden', wie Tom Hamburger und Matea Gold 2014 in der Washington Post berichteten."

Außerdem bespricht Cass R. Sunstein Gabriel Zucmans Buch über Steueroasen "The Hidden Wealth of Nations". Joan Acocella sieht in Riga elektrisiert Alvis Hermanis' Stück über Brodsky und Baryschnikow.

Nepszabadsag (Ungarn), 03.01.2016

Der im serbischen Novi Sad lebende ungarische Schriftsteller László Végel verbrachte die Zeit um den Jahreswechsel in Budapest. Er beschreibt die spürbar schwindende Offenheit gegenüber Fremden, so auch gegenüber Minderheitenungarn auf und sucht nach möglichen Erklärungen jenseits der Flüchtlingskrise: "Ein Ungar, der in einem der umliegenden Staaten lebt, muss gleichzeitig an mindestens zwei Welten teilnehmen, zweierlei Erfahrungen vereinen. Dadurch entsteht etwas Neues, was als ungarisches Anderssein bezeichnet werden kann. Doch genau die emphatisch verfochtene Idee eines homogenen Magyarentums kann dieses Anderssein nicht verkraften! (…) Wie kann jemand die europäischen Verschiedenheiten, jedoch nicht die Verschiedenheiten der Minderheiten anerkennen? Die erste Stufe der Erkennung und Anerkennung des Andersseins liegt nicht in Berlin oder in Paris, sondern in Novi Sad, Klausenburg und Bratislava. Diese Punkte zu umgehen, ist ein mindestens so großer Fehler, wie darin stecken zu bleiben."
Archiv: Nepszabadsag

Wired (USA), 29.12.2015

Chinas Tech-Szene ist beträchtlich im Kommen, berichtet Clive Thompson. Nicht nur das Risikokapital sitzt lockerer, auch ein Gesinnungswandel ist in der nachrückenden Generation festzustellen, schreibt er: "Vor zehn Jahren beschwerten sich High-Tech-Beobachter noch über den Mangel an kühnen Innovatoren im Land. Sicher gab es enorm erfolgreiche Unternehmen, doch nahmen sie selten kreative Risiken auf sich und kopierten im wesentlichen Erfolge aus dem Silicon Valley. Das Westküsten-Mantra - scheitere schnell, scheitere oft, um das Hitprodukt besser zu finden - klang für Jugendliche aus einem Bildungssystem, das auf Auswendiglernen fokussiert und Fehler hart bestraft, fremdartig, sogar gefährlich. Die Absolventen suchten Jobs in großen, soliden Firmen. Das Ziel war Stabilität: Das urbane China war gerade erst aus Jahrzehnten der Armut hervorgegangen und weite Teile der Provinz hatten das noch vor sich. Da duckte man sich lieber und ging auf Nummer Sicher. Doch diese Einstellung ist im Verschwinden begriffen, weggeschwemmt von einem steigenden Wohlstand, der ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Kühnheit unter den jungen, urbanen Techies des Landes mit sich bringt. ... Sie wollen nicht mehr für Google und Apple arbeiten. Wie ihre Kollegen in San Francisco wollen sie das nächste Google und Apple bauen."
Archiv: Wired

New York Times (USA), 02.01.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times ist Karl Ove Knausgård wieder unterwegs. Diesmal in Tirana, wo der Schriftsteller dem Neurochirurgen Henry Marsh bei einer Hirn-OP in Teilnarkose zusieht. Durch die Prozedur wird der Umfang der Zerstörungen durch einen Tumor anhand unmittelbarer Reaktionen des Patienten festgestellt: "Marsh trat zurück und ich sah durchs Mikroskop. Ich schaute in eine riesige Grotte, an deren Grund sich ein Becken mit roter Flüssigkeit befand, die Wände der Grotte waren lebendig. Unmittelbar über dem Becken waren die Wände zerklüftet. Hinter der innersten Wand, leicht geschwollen, wie ein Ballon kurz vor dem Platzen, war etwas Purpurnes zu erkennen. Als ich wieder zur Seite trat, hatte ich Schwierigkeiten, die beiden Perspektiven miteinander zu vereinen. Es war, als befände ich mich auf zwei verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit, als würde ich schlafwandeln und Traum und Wirklichkeit kämpften um die Vorherrschaft. Ich hatte in einen Raum geschaut, wie in einen beliebigen Raum, und als ich aufsah, da befand sich dieser Raum im Gehirn eines Menschen, der mit offenen Augen in einem anderen Raum lag, zusammen mit Ärzten und Schwestern und Maschinen, und jenseits davon war ein noch größerer Raum, warm und staubig, aus Asphalt und Beton, unterhalb einer grünen Bergkette und einem blauen Himmel. All diese Räume zusammen befanden sich in meinem eigenen Gehirn, das ebenso aussah, feucht schimmernd, walnussgleich, zusammengesetzt aus 100 Milliarden winziger Zellen, die Sternen in einer Galaxie glichen. Sie aber formten zusammen Fleisch, und die Prozesse, die sie beherbergten waren primitiv, reguliert durch chemische Substanzen, befeuert durch Elektrizität. Wie war es möglich, dass sie diese Bilder von der Welt enthielten? Wie konnten Gedanken aus diesem Stück Fleisch entstehen?"
Archiv: New York Times