Magazinrundschau

Inder sind sehr coole Leute

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.01.2016. Guernica unterhält sich mit dem Regisseur Lav Diaz, dessen achtstündiger Film "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" im Berlinale-Wettbewerb läuft, über die Traumata der Philippiner. Der Guardian setzt auf die Kinder und Enkel des arabischen Frühlings. Der Theaterregisseur Dániel D. Kovács erklärt in HVG, warum Schillers "Räuber" perfekt in diese Zeit passt. National Geographic feiert unsere Augen als Wunder der Evolution. Daniel Kehlmann sieht das in Sinn und Form ähnlich. Der chilenische Autor Rafael Gumucio legt in Letras Libras die Katalanen auf die Couch. Die Financial Times untersucht die Große Britische Currykrise.

Guernica (USA), 15.01.2016

Zu den größeren Überraschungen der jüngsten Berlinale-Nachrichten gehört die Meldung, dass das Festival den neuen, achtstündigen Film "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" (Bild) von Lav Diaz in den Wettbewerb geholt hat: Üblicherweise findet die spröde Ästhetik des philippinischen Regisseurs (der auch ein Liebling unserer Filmkritiker ist) eher bei anderen, ästhetisch wagemutigeren Festivals ihren Raum. Für Guernica hat Nadin Mai den Regisseur zu seinem Schaffen befragt. Unter anderem erfahren wir, dass seine Filme sich minutiös an der Geschichte seines Heimatlandes abarbeiten und der Regisseur dabei aus seinen eigenen biografischen Erfahrungen schöpft. "Die Geschichten umkreisen diese Aspekte - das Trauma meiner Landsleute, deren Kampf. Man kann dem nicht entkommen. Es handelt sich dabei um große Epochen unserer Geschichte. Man gräbt tief in der Vergangenheit, man untersucht sie. Das sind zwar fiktionale Figuren, aber gleichzeitig ist die Erzählung von diesen historischen Dingen beeinflusst. Es ist Gedächtnis, Kultur, Geschichte. ... Das Trauma, die Qual - das ist chronisch. Die ständige Folter - da geht es um Kolonialismus, Imperialismus, die Vergewaltigung durch die Japaner und dann schlussendlich die Marcos-Periode. Das ist CTE [chronische traumatische Enzephalopathie, ein progressiv-degenerative Gehirnerkrankung]. Ständige Prügel, vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. ... Ich bin nicht wirklich enttäuscht, dass meine Filme nur im Westen gesehen werden. Dieses Bewusstsein schafft eine Dynamik. Wissen Sie, die Filme werden auch bei uns an Land geschwemmt werden. Das ist alles Teil des Kampfs. Ich drehe Filme und Festivals, Museen und Forscher feiern sie. Sie werden gehört werden. Es wird passieren, denn das Kino ist universell. Man erschafft es, Leute nehmen davon Notiz und einige werden es sehen."

Auch sehenswert sind die Videointerviews, die Cargo vor einigen Jahren mit Diaz geführt hat.
Archiv: Guernica

Guardian (UK), 18.01.2016

Jack Shenker gibt die ägyptische Revolution noch nicht verloren: Immerhin spielen Kinder auf dem Pausenhof nicht Räuber und Gendarm, sondern Demonstranten und Feldmarschall! Vor allem würden auch unter der autoritären Herrschaft Abdel Fattah al-Sisis immer mehr Menschen oder Gruppen ihre Rechte geltend machen: "Die historische Paralle ist nicht die zu Gamal Abdel Nassers Putsch 1952, der die meisten Ägypter den staatlichen Institutionen und Entscheidungsprozessen entfremdete, sondern die Kette von Revolutionen in Europa um 1848, bei denen verschiedene Teile der Gesellschaft überhaupt erst die Politik betreten haben - bis dahin die Domäne von Armeen, Monarchien, Adligen und Kirche. Diese Aufstände erschienen zuerst gescheitert, da die alte Ordnung sich an ihre formale Herrschaft klammerte. Doch der von ihnen erzeugte Malstrom blieb über Jahrzehnte in Bewegung und führte schließlich zu dem modernen Staat wie wir ihn kennen. Genauso hat die ägyptische Revolution lange vernachlässigte Teile der Gesellschaft kopfüber in die politische Arena gestoßen."

Weiteres: Charlotte Higgins porträtiert Katie Mitchell, die mit ihrem Regietheater tatsächlich noch britische Kritiker vor den Kopf zu stoßen vermag. Von Melissa Davey lernen wir, dass im Rennen um den ersten Quantencomputer der Welt die Australierin Michelle Simmons vorn liegt.
Archiv: Guardian

HVG (Ungarn), 06.01.2016

Der junge Regisseur Dániel D. Kovács, Schüler von Viktor Bodó und ehemaliges Mitglied der aufgelösten unabhängigen Theatergruppe "Sputnik", hat in Budapest das Schiller-Stück "Die Räuber" neu inszeniert und fokussiert dabei insbesondere auf Jugendliche mit Migrationshintergrund. Im Gespräch mit der Theaterkritikerin Erna Sághy erklärt er, warum ihm gerade dieses Stück so zeitgenössisch vorkommt: "Seit den Terroranschlägen in Paris im vergangenen November sprechen Analysten immer öfter über die Motivationen und Wege junger Einwanderer der zweiten und dritten Generation zum Fanatismus. Die makabere Erfahrung der Inszenierung ist, dass das Schiller-Stück ohne substantiellen Veränderungen eine zeitgenössische Folie liefert für das heute massenhaft verbreitete Gefühl des Steckenbleibens, für die Frustration, die aus der unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen Wünschen und Möglichkeiten erwächst, für das Gefühl, dass alles gleichgültig ist, das in der extremen Variante im Terrorismus münden kann. Schiller selbst stellte im Stück die Robin-Hood-Geschichte in Frage indem er zeigte, dass das Leben eines Räubers weder glorreich noch romantisch ist. In der heutigen Interpretation liefert selbst das Scheitern des tragischen Helden keine kathartische Erfahrung."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 19.01.2016

Voller Sympathie porträtiert David Remnick im New Yorker den arabisch-israelischen Politiker Ayman Odeh, der sich gegen Widerstände von beiden Seiten wacker für Frieden und eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt. Die Umstände für ihn sind immer wieder schwierig: "Ein palästinensischer Abgeordneter in der Knesset zu sein, ist unendlich viel komplizierter als, sagen wir, Mitglied im 'Congressional Black Caucus' zu sein (wo sich schwarze Abgeordnete beider Parteien für die Belange ihrer Minderheit einsetzen, d. Red.). Da palästinensische Bürger praktisch nie in der Armee dienen, wird kein palästinensisches Mitglied der Knesset in die Aussschüsse für Verteidigung, Geheimdienste oder auswärtige Angelegenheiten eingeladen. Auch bei der 'Absorption' jüdischer Immigranten dürfen sie nicht mitreden. Es gibt eine Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens in diesem Arrangement."

Außerdem: Alex Ross schreibt den Nachruf auf Pierre Boulez. Alexis Okeowo stellt den New Yorker Modedesigner LaQuan Smith vor, der bei Rihanna und seinen lokalen hasidischen Kundinnen gleichermaßen beliebt ist. Lesen dürfen wir außerdem Tatjana Tolstajas Erzählung "Aspic".
Archiv: New Yorker

MicroMega (Italien), 11.01.2016

Giona A. Nazzaro erzählt die Geschichte des iranisch-kurdischen Filmregisseurs Keywan Karimi, der trotz einer Abmilderung seines Urteils immer noch von Gefängnis bedroht ist: "Alles begann für den Regisseur mit dem Filmprojekt 'Writing on the City': ein Film, der die zahlreichen Wandlungen der Islamischen Republik von der Revolution im Jahr 1979 bis zur Wiederwahl des Präsidenten Achmadinedschad im Jahr 2009 über abgefilmte Graffiti auf den Mauern von Teheran erzählt. Am 14. Dezember 2013 taucht die Polizei in seinem Haus auf und beschlagnahmt Karimis elektronische Ausrüstung. Er verbringt zwei Wochen in absoluter Isolation im Gefängnis..." Nach acht Gerichtsterminen "wird er zu zwei Jahren Gefängnis und neunzig Peitschenhieben wegen 'Beleidigung des Islams' verurteilt. Später wird dieses Urteil auf sechs Jahre Gefängnis und 223 Peitschenhiebe erhöht." Durch internationalen Druck, so Nazzaro, beläuft sich das Urteil nur mehr auf zwei Jahre Gefängnis - nun seien die Kräfte bündeln, um auch diese Strafe noch abzuwenden.
Archiv: MicroMega

National Geographic (USA), 14.01.2016

In einem phantastisch bebilderten Artikel erklärt uns Ed Yong, was das Besondere an Augen ist: Sie sind immer perfekt. Sie können bei jeder Spezies genau das, was sie sollen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. "Wenn Sehen keinen Vorteil mehr bringt, verlieren manche Tiere ihre Augen sogar ganz. Der mexikanische Tetra ist exzellent darin. Im Pleistozän schwammen einige dieser kleinen Süßwasserfische in verschiedene tiefe Höhlen. Ihre Augen waren so unnütz in der pechschwarzen Finsternis, dass ihre Nachfahren sich in verschiedene Populationen zu blinden höhlenfisch-rosa-weißen Kreaturen entwickelten. Diese Degeneration setzte ein, weil Augen viel Energie verbrauchen. Besonders die Nervenzellen, die die Signale vom Fotorezeptor zum Gehirn senden, müssen jederzeit bereit sein zu feuern. Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Sehne eines Bogens spannen und für Minuten, vielleicht sogar Stunden halten. Das erklärt, warum die Augen von Tieren gerade so gut sind, wie sie sein müssen, und warum sie ihre Augen so leicht verlieren, wenn sie sie nicht mehr brauchen. Die Verschwendung von Energie ist ein Garant fürs Aussterben. Augen mögen aus alten Teilen zusammengesetzt sein, von antiken Insekten geplagt und leicht zu zerstören sein, aber sie sind auch hervorragend an die Bedürfnisse ihrer Eigentümer angepasst. Sie bezeugen sowohl die unendliche Kreativität der Evolution als auch ihre erbarmungslose Wirtschaftlichkeit."

Sinn und Form (Deutschland), 18.01.2016

Daniel Kehlmann denkt über Bilder und Wirklichkeit nach, über Schönheit und Schein und Eskapismus, und kommt auch auf das menschliche Auge zu sprechen. Sinn und Form hat einen Auszug online gestellt: "Strecken Sie den Arm aus und blicken Sie auf Ihren Daumennagel, so klein ist der Fleck, den Sie scharf und farbig sehen können, größer nicht. Alles darum herum glauben Sie nur zu sehen, aber Sie sehen es nicht, sondern erinnern sich nur daran, dass Sie es soeben oder vorhin oder irgendwann gesehen haben oder meinen es gesehen zu haben, und setzen es aus vagen und oft nicht korrekten Erinnerungen zusammen, und das, was dabei herauskommt, ist löchriger, als wir meinen... Unsere Augen bewegen sich unablässig, unser Gehirn ist dauernd damit beschäftigt, aus dem Nacheinander der Eindrücke ein Nebeneinander zu machen, ein stabiles Modell von Dingen in einem in drei Dimensionen ausgespannten Raum. Die Welt, wie sie uns wirklich entgegentritt, sieht einem Braque ähnlicher als einem Watteau."
Archiv: Sinn und Form

Letras Libres (Spanien / Mexiko), 16.01.2016

"Wieder Kind sein." Der chilenische Schriftsteller Rafael Gumucio beschreibt katalanische Befindlichkeiten aus lateinamerikanisch-psychoanalytischer Perspektive: "Der katalanische und baskische Nationalismus begann Ende des 19. Jarhundert, als man fürchtete, von den billigen Arbeitskräften aus dem Süden aufgesogen zu werden. Heute fragen sich viele Katalanen angesichts von Euro, Touristenschwemme und Hochgeschwindigkeitszügen: Was ist aus unserer Welt geworden? Madrid gibt Merkel, soll heißen: der Mutter, die Schuld an der gegenwärtigen Krise, Barcelona macht Rajoy verantwortlich, soll heißen: den Vater. Nur wenigen spanischen Politikern will es in den Kopf, dass sowohl die EU wie auch die spanischen Autonomiestatute freiwillig eingegangene Vereinbarungen waren. In gewisser Hinsicht haben sie recht - vor 25 Jahren war das aus Franco, dem kastrierenden Vater par excellence, hervorgegangene Spanien noch ein Kind. Vor fünfzehn Jahren auch. Die Krise des Jahres 2008 mit all ihren Widersprüchen zeigte dann, dass auch die Eltern Kinder waren. Erwachsen wird man, wie jeder Psychiater weiß, wenn man begreift, dass die eigenen Eltern genauso falsch liegen können wie man selbst, wenn nicht noch mehr. Das Gestrampel und Gezeter, mit dem die Nationalisten auf diese Entdeckung reagieren, hat durchaus etwas Rationales: Der Körper des jungen Menschen fordert verzweifelt einen neuen festen Rahmen für den fremden Körper, als der sich der eigene plötzlich erweist. Er kann die Veränderung annehmen - oder sich in sein Zimmer einsperren und wieder Kind werden."
Archiv: Letras Libres

Financial Times (UK), 08.01.2016

Ist es bald vorbei mit dem scharfen Essen in England? Immer mehr indische Restaurants schließen. Malcolm Moore sucht nach Gründen für die Große Britische Currykrise, die in der Schließung zahlreicher Curry-Häuser gipfelt. Einer der Gründe ist das Image: indisches Essen gilt vielen jungen Leuten als zu schwer, zu fett. Mehr was für Biertrinker. Die Brüder Thakrar wollen dem mit ihrer neuen Restaurantkette gern entgegenwirken: "'Wir stehen auf den Schultern der Curry Häuser. Ein Curry Haus ist ein hübsches britisches Phänomen, so britisch wie ein Pub in den 80ern oder 90ern. Wir haben alle Erinnerungen daran, wie wir ins Curry House gingen und Sachen wie Hühnchen Vindaloo bestellten. Es ist einfach ein Teil der Kultur und ich wäre traurig, wenn der verschwinden würde', sagt Shamil Thakrar. 'Eine unserer kulturellen Missionen war: Inder sind sehr coole Leute. Es gibt haufenweise coole Inder hier, aber wir haben anscheinend nicht La Dolce Vita und Fellini wie die Italiener oder Gauloises und Baskenmützen wie die Franzosen. Und doch ist die indische Kultur sehr cool, denke ich. Und darum will ich die indische Kultur quasi neu bestimmen und sie rekontextualisieren, damit sie cool ist."
Archiv: Financial Times

Literarni noviny (Tschechien), 16.01.2016

Der Literaturwissenschaftler Petr Bílek sinniert über das Wesen des Jahreswechsels, diese seltsame Mischung aus Morbidität (die rasant vergehende Zeit bringt uns dem Tode näher) und unbedingter Happiness und entdeckt unerwartete europäische Einmütigkeit: "Dieses Sylvester hatte ich die Gelegenheit, mit der Fernbedienung in der Hand durch Hunderte von Fernsehkanälen zu wandern, von der Türkei über Rumänien, Ungarn, Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland und Schweiz bis zu Tschechien. (…) Wenn es ginge, würde ich alle wegen unerlaubter Kartellabsprache verklagen. Bayerische Blasmusik, Dirndl, Lederhosen, balkanische Blasmusik, Volkstrachten, Gassenhauer über die Liebe, türkischer Pop aus roten Lippen dargeboten, Ziehharmoniken in Schweizer Händen, wie Puppen angemalte Menschen, entfesselte Senioren, Dauerlächeln in gebräunten Gesichtern, als würden alle bis zu den Knien in klebrigem, süßen Honig versinken (…) Und man konnte es nicht einmal als Parodie ertragen, denn das war alles Ernst, denn genauso muss das sein. So etwas lieben wir, so feiern wir, das ist unsere Ode an die Freude. Europa in den Klauen einer Verschwörung. Einer Verschwörung der Geschmacklosigkeit. Eine mächtige menschliche Hymne. Ich behaupte mit Entschiedenheit, es existieren gemeinsame europäische Werte - aber ja!"

New York Times (USA), 17.01.2016

Im neuen Magazin der New York Times trifft Gideon Lewis-Kraus die Soziologin Alice Goffman, die mit ihrem - auch schon auf Deutsch veröffentlichten - Buch "On the Run" über die Diskriminierung junger schwarzer Männer durch das amerikanische Rechtssystem Furore machte, aber auch ihre eigene Zunft entzweite. Lewis-Kraus gibt sich größte Mühe, seine Hingerissenheit von Goffman ebenso sachlich darzustellen wie die Kritik, die ihr Buch auslöste: "Die Kritiker störte, dass hier eine privilegierte weiße Frau über arme Schwarze schrieb, ohne sich groß um ihren eigenen Standpunkt zu scheren. Goffman sieht sich da in der Tradition einer selbstbewussten, frontalen Soziologie … Sie wurde zum Streitfall alter, ungelöster Auseinandersetzungen über enthnografische Forschung. Welche Rolle spielt Qualität in der Datenära? Wenn die Repräsentationsfrage so dringlich ist, wer darf eigentlich über wen schreiben?"

Außerdem: Jonathan M. Katz berichtet von Diskriminierung und Gewalt gegen Haitianer in der Dominikanischen Republik, wo ihnen als ethnischer Minderheit sogar die Staatsbürgerschaft abgesprochen wird. Und Jennifer Kahn besucht einen Workshop des Zentrums für angewandte Rationalität in Berkeley und stellt fest: Kognitive Vorurteile hindern uns am Glücklichsein! In der Book Review werden u.a. Ben Rawlences Buch "City of Thorns über das größte Flüchtlingslager der Welt an der kenianisch-somalischen Grenze und Wladimir Sorokins Roman "Der Schneesturm" besprochen.
Archiv: New York Times