Magazinrundschau

Warum meine Vorfahren Haydn beschäftigten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.03.2016. Atlantic erklärt die Obama-Doktrin: Willkommen Asien! Adieu Naher Osten, um euch kümmert sich künftig Europa. In der LRB erklärt Hilary Mantel, was einen Tudor ausmacht. In Aktualne erklärt der Liedermacher Jiří Dědeček, warum er weniger Angst vor Fremden hat als vor fremden Regimes. In Eurozine rät Adam Balcer den Europäern, mit den Zentralasiaten Piroggen zu essen. Bald spionieren uns auch die Nachbarn aus, warnt Wired. Der Literarische Monat analysiert den Literaturbetrieb. Péter Eötvös und Péter Esterházy arbeiten an einem Oratorium aus lautern Zitaten, erzählt Nepszabadsag.

The Atlantic (USA), 01.04.2016

Für einen monumentalen, wirklich alle wichtigen Aspekte und auch die Kritik abdeckenden Artikel über Barack Obamas Außenpolitik jettet Jeffrey Goldberg mit dem Präsidenten in der Air Force One mal hierhin mal dorthin, unterhält sich mit ihm im Weißen Haus oder in der Präsidentensuite auf Staatsbesuch in Malaysia. Der Nahe Osten, um es gleich zu sagen, ist nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings für Obama uninteressant geworden. Die Konflikte dort kann Amerika nicht lösen, sagt er. Europa nervt, weil es gern den Moralapostel spielt, aber selten Taten folgen lässt (die Tatsache, dass Libyen ein solches Desaster ist, schreibt Obama vor allem dem mangelnden Engagement der Europäer zu). Kurz: der Nahe Osten ist jetzt unser Problem. Obama interessiert sich für Lateinamerika, für Afrika und vor allem für Asien - denn dort liegt für ihn die Zukunft. Verglichen damit schneidet der Nahe Osten schlecht ab: "'Es gibt Länder, die unfähig sind, Wohlstand und Chancen für ihre Bevölkerung zu schaffen. Es gibt gewalttätige, extremistische Ideologien, die durch die sozialen Medien befeuert werden. Es gibt Länder, die kaum zivile Traditionen haben, so dass, wenn autokratische Regime zerbrechen, die einzigen Ordnungsprinzipien sektiererische sind. Südostasien dagegen', fährt er fort, 'ist trotz aller Probleme - der enormen Armut und Korruption - voller wetteifernder, ambitionierter, tatkräftiger Menschen, die sich jeden einzelnen Tag abstrampeln, um ein Geschäft aufzubauen, eine Erziehung zu bekommen, einen Job zu finden und eine Infrastruktur aufzubauen. Der Kontrast ist ganz schön groß.' ... Dann machte er eine Beobachtung, die, wie ich bald verstand, typisch ist für seine düstere, viszerale heutige Auffassung vom Nahen Osten - nicht die Art, die ein Weißes Haus, das immer noch auf Hoffnung und Wandel setzt, würde bekanntmachen wollen. 'Wenn wir nicht mit ihnen reden', sagt er, sich auf die jungen Asiaten, Afrikaner und Lateinamerikaner beziehend, 'weil wir zu beschäftigt damit sind herauszufinden, wie wir den bösartigsten, nihilistischsten, gewalttätigsten Teil der Menschheit zerstören, abriegeln oder kontrollieren können, dann verpassen wir den Anschluss.'"
Archiv: The Atlantic

Eurozine (Österreich), 09.03.2016

Nur wenn sich Europa in der riesigen zentralasiatischen Region engagiert, wird es seine globale Postion behaupten können, meint Adam Balcer in einem Artikel für New Eastern Europe, den Eurozine auf Englisch publiziert. Nun wirken derartige geopolitische Betrachtungen zwar oft wie Schachspiele mit riesengroßen Figuren - aber Balcer hat etwas durchaus Zwingendes. Er rät, den Begriff des "postsowjetischen Raumes" aufzugeben, weil in ihm Russland als das organisierende Prinzip erscheint. Inzwischen sind aber auch China, Europa, die Türkei und der Iran wichtige Kräfte. Ein wenig ironisch bezeichnet Balcer diesen Raum auch als die Region, in der man Piroggen isst, die offenbar ursprünglich aus Asien kommen: "In diesem Raum ist Russland ein Newcomer. Seine Eroberungen liegen nicht weit zurück. Weißrussland und den größten Teil der Ukraine eroberte es am Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts kam Moldawien hinzu. Die Eroberung des Kaukasus endete 1864 und die Zentralasiens in den 1880ern. In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts verlor China riesige Gebiete in Zentralasien, Sibirien und dem Fernen Osten an Russland."
Archiv: Eurozine

Aktualne (Tschechien), 11.03.2016

Jiří Leschtina unterhält sich mit dem Liedermacher und Vorsitzenden des tschechischen P.E.N.-Clubs Jiří Dědeček über die diversen Einflüsse aus dem Osten, den politischen aus Russland, den wirtschaftlichen aus China. Letzterer lasse sich nicht aufhalten, so Dědeček. "China ist ein dichtbevölkertes Land, und vielleicht wird in hundert Jahren jeder Tscheche ein bisschen chinesisches Blut in den Adern haben. Ich habe keine Angst vor den Rassen, die uns überrollen könnten. Aber ich habe Angst vor diesen Regimes. Bei weitem das gefährlichste ist das von Putin. China hat in dieser Region rein ökonomische Interessen. Putin rasselt mit dem Säbel, weil es seinem Land schlecht geht. Das ist ein in die Ecke gedrängtes Raubtier. Den Chinesen darf man wenigstens ab und zu etwas glauben, Putin kein einziges Wort." Die angespannte Situation zeigt sich offenbar auch unter den Literaten: "Der russische P.E.N.-Club ist stark zerrissen. Eine kleine Gruppe lehnt Putin ab, aber ein viel größerer Teil akzeptiert oder verehrt ihn sogar. Der Vorsitzende Andrej Bitow, der übrigens ein großartiger Schriftsteller ist, schlägt auf den Sitzungen regelmäßig vor, Russisch als weitere Verhandlungssprache einzuführen, da man Russisch doch in allen ehemaligen Ostblockstaaten, einschließlich der ehemaligen DDR spreche. Seiner Meinung nach spielt es keine Rolle, dass das Russische diesen Ländern aufgezwungen wurde. Die britische Kolonialmacht habe die englische Sprache doch auch gewaltsam eingeführt, etwa in Indien." Und die tschechische Politik? Regt das Geklüngel zwischen Babiš und Zeman den Liedermacher Dědeček so wie früher zu Protestsongs an? "Kein bisschen. Während des Kommunismus war das die einzige Möglichkeit, sich auszudrücken. Heute kann ich meine Meinung in diesem Gespräch hier äußern, ich schreibe Zeitungskolumnen, kann dem Präsidenten einen Brief schreiben oder mit einem Transparent zum Parlament ziehen. Mein poetisches Schaffen muss ich damit nicht beschmutzen."
Archiv: Aktualne

Nepszabadsag (Ungarn), 08.03.2016

Der Komponist Péter Eötvös und der Schriftsteller Péter Esterházy schreiben gemeinsam an einem Oratorium für die Wiener Philharmoniker, mit dem Titel "Hallelujah - Oratorium balbulum" und es soll beim diesjährigen Salzburger Festspiele Premiere feiern. Hauptakteure sind ein Engel und der Benediktiner Mönch aus St. Gallen, Notker Balbulus, "der Stammler". Adrienn Csepelyi sprach mit Eötvös und Esterházy in einem Doppelinterview. Péter Eötvös: "Ich sammelte aus den bestehenden Hallelujahs, diese Fragmente werden durch den Chor ertönen. Eines der ältesten ist das Halleluja von Monteverdi, doch es gibt auch eins von Mussorgski, Mozart, Bruckner, Händel und auch Bach. Das sind nicht nur Zitate, sie haben eine Bedeutung. Esterházy springt immer wieder in der Zeit und so erscheinen die Hallelujah-Fragmente auch nicht in chronologischer Reihenfolge."
Péter Esterházy: "Als Péter Eötvös mir einige Rhythmen zeigte, was das eine schockierende Erfahrung, denn ich bin nicht musikalisch. Etwas kokett sage ich, dass ich verstehen kann, warum meine Vorfahren Haydn beschäftigten: wenigstens ein musikalischer Mensch musste ins Haus. (...) Was bedeutet Fragment? Wird ein Stück zum Fragment weil es etwas enthält oder weil etwas fehlt? (...) Musik kann Zitate organischer verwenden als die Prosa. Aber wenn wir darauf bauen, dass wir sie erkennen sollen, enden wir leicht in einem Quiz. Die Frage kann immer schärfer gestellt werden, was dann mit den neuen Strukturen der Bildung zusammenhängt und dass es heutzutage keinen Kanon mehr gibt: Was passiert wenn der Leser nichts wiedererkennt? Wie funktioniert jener Text, der gerade darauf baut?"
Archiv: Nepszabadsag

New Yorker (USA), 21.03.2016

In der neuen Ausgabe des Magazins wagt Ryan Lizza einen Blick in die Zukunft der Demokraten in den USA, ob mit Hillary Clinton oder Bernie Sanders, der den Kampf noch nicht aufgegeben hat und den Wettbewerb mit Clinton jetzt härter angeht: "Unklar bleibt, ob die Attacken auf Hillary Clinton ihm helfen, ihre älteren, nichtweißen Parteigänger zu gewinnen. Sanders eigentliche Stärke könnte darin bestehen, den Demokraten klarzumachen, dass die neuen Wähler keinen Sinn haben für die moderate Politik der alten Clinton-Ära. Sanders spricht all diejenigen an, die einen besseren, verantwortlicheren Kapitalismus und eine bessere, ethisch orientierte Politik wollen, heißt es unter den neuen Demokraten. Das System neu zu organisieren, scheint die zukünftige Aufgabe der Demokraten zu sein. Sanders vermag sich seine geringen Chancen kaum einzugestehen. Für seine Bemühungen, die demokratischen Debatten zu formen, lässt er sich gerne loben. 'Wenn Millionen Menschen auf deine Worte reagieren, sind deine Worte in der Mitte der Gesellschaft angekommen', sagt Sanders. 'Das verändert die politische Wirklichkeit. Schlaue Politiker wie Hillary Clinton und jeder andere auch sollten auf die wichtigen Themen schauen, und das sind die Themen, die ich anspreche.'"

Außerdem: Lizzie Widdicombe porträtiert den Modedesigner Jeremy Scott, der gerade Moschino fit macht für die Instagram-Ära. Judith Thurman trifft Chinas erste Couturière von Rang, Guo Pei. Und Annie Proulx beschreibt einen "Resolute Man". In ihrer Short Story.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 17.03.2016

"Was bedeutet es, Tudor zu sein?", fragt Hilary Mantel in einem Text über Heinrich VIII. (Bild) und seinen Vertrauten Charles Brandon: Terror im Namen der Kirche und Folter im Namen des Staats? "Tudor zu sein heißt zu posieren. Man stolziert die langen Gänge entlang, die Brust mit Edelsteinen bewehrt und die Schultern gepolstert, als wollte man Tore blockieren. Man trägt eine Braguette, nimmt auf Reisen sein eigenes Goldgeschirr mit und lebt auf Kosten des Landes. Wenn Tudor gemessen wird an der Größe des Bartes, der Liebe zum Wettkampf und dem Ärger mit Frauen, dann muss Charles Brandon an zweiter Stelle rangieren, gleich hinter seinem König."

Jeremy Harding liest für eine kilometerlange Besprechung Neuerscheinungen zur Geschichte des ölreichen Angolas, das nach Sklaverei, Kolonialismus, Sozialismus, Befreiungskämpfen und Militärinterventionen nun die Kleptokratie seiner Oligarchie überstehen muss: "Die Tochter des Präsidenten, Isabel dos Santos, hat ein Vermögen von drei Milliarden Dollar und ist laut Forbes die reichste Frau Afrikas."

Weiteres: Jackson Lears empfiehlt nachdrücklich Robert Caros wiederaufgelegte Biografie des New Yorker Stadtplaners Robert Moses, der mit seinen Schnellstraßen, Tunneln und Satellitenstädten die "modernistische Grandiosität" in den Kollaps führte. Mark Ford bespricht Jonathan Bates Ted-Hughes-Biografie.

Clarin (Argentinien), 12.03.2016

Die frisch verfügte Aufhebung einer Sondersteuer für Bergbauunternehmen in Argentinien ist für die Soziologin Maristella Svampa von der Bürgerrechtsbewegung Plataforma 2012 ein Beleg für ernüchternde Kontinuitäten: "Der Einfluss der Bergbau-Lobby ist unabhängig von der politisch-ideologischen Ausrichtung unserer jeweiligen Regierungen. Bestand die Strategie der Kirchner-Regierung in Totschweigen oder Verteufeln der Proteste der Umweltbewegungen sowie im Bestreiten der offenkundigen geschäftlichen Verflechtungen von Staat, Großunternehmen und Privatinteressen, sprach die neue Macri-Regierung zunächst von 'Umweltschutz' und 'Bürgerbeteiligung'. Der schnelle Schulterschluss von politischer und ökonomischer Macht hat jedoch dafür gesorgt, dass das Thema erneut von der Tagesordnung verschwindet. Und das, nachdem 20 Jahre gigantischer Bergbauprojekte entgegen allen anderslautenden Versprechen vor allem zu Umweltzerstörung und wachsender Hilfsbedürftigkeit der Bevölkerung der betroffenen Gebiete geführt haben."
Archiv: Clarin

New York Review of Books (USA), 24.03.2016

Es ist immer wieder überraschend und abstoßend, mit welchem Ton wissender Überlegenheit angloamerikanische Intellektuelle über die französische Reaktion auf den Dschihadismus und die Attentate schreiben. Mark Lilla wiederholt in seiner Lektüre die tausend Mal erprobten Klischees über Frankreich und wirft dem ermordeten Zeichner Charb noch im Grabe "Narzissmus" vor, wenn er in seinem kurz vor dem Attentat veröffentlichten "Brief an die Heuchler" auf dem Recht zu Karikatur und Blasphemie besteht und den Begriff der "Islamophobie" kritisiert: "In einer Welt, wo diese Unterscheidungen so klar wären, wie Charb sie skizziert, wäre es einfacher zu leben. Es ist eine Sache - eine notwendige und mutige Sache - gegen Dschihadisten und Anhänger der Blasphemiepolizei einzustehen, die Meinungs- und Kunstfreiheit einschränken wollen. Es ist etwas anderes, das Zusammengehörigkeitsgefühl gewöhnlicher Muslime, die angesichts des Fundamentalismus Scham und Verantwortung empfinden mögen, zu leugnen. Charb und radikale französische Republikaner führen die Kämpfe gegen die katholische Kirche aus dem 18. und 19. Jahrhundert neu auf, die eine machtvolle religiöse Institution war." Während die Muslime heute ganz ohne Machtstrukturen auskommen müssen?

Außerdem in der Review: Michael Wood stellt Neuerscheinungen über Orson Welles vor. Dan Chiasson porträtiert die Dichterin Eileen Myles. Ingrid D. Rowland liest Paul Goldbergers Frank-Gehry-Biografie. Und Geoffrey O'Brien liest Darryl Pinckneys Berlin-Roman "Black Deutschland".

Literarischer Monat (Schweiz), 01.03.2016

Der Literarische Monat in der Schweiz macht sich passend zu Leipziger Buchmesse Gedanken zum Wandel im Literaturbetrieb. Auch Perlentaucher Thierry Chervel denkt nach: "Irgendwie segelt der Literaturbetrieb sanfter durch die Unbilden des Strukturwandels als etwa der Medienbetrieb: Die Buchverlage produzieren Jahr für Jahr die gleiche Anzahl von Romanen, wenn nicht mehr. Die Sender senden. Die Literaturhäuser laden ein. Und die Autoren schreiben Romane über ihre Jugend in der deutschen Provinz in den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren, über ihren Nazigroßvater oder über ihre jüdische Großmutter. Durch die großen Frankfurter und Leipziger Buchpreise, durch eine unübersichtlich gewachsene Zahl an Buchpreisen auch in Österreich und vor allem in der Schweiz ist der Betrieb eher noch gemütlicher geworden. Bestach der deutsche Buchmarkt einst durch seinen Kosmopolitismus - Imre Kertesz wurde auch über die Rezeption in Deutschland zu einem international berühmten Autor - so liegen in den Buchhandlungen nun vor allem die Bücher der Long- und Shortlists aus, beinahe ausschließlich Romane deutschsprachiger Autoren."

Bloomberg Businessweek (USA), 10.03.2016

Wenn man Robert Kolkers ausführlichem Hintergrundbericht glauben kann, sind nicht nur die digitalen Telefonnetze bemerkenswert anfällig dafür, von dritten Parteien zur Ortung von Individuen angezapft zu werden; die dafür erforderliche Hardware ist auch für Privatleute mittlerweile vergleichsweise erschwinglich und greifbar. Schon bald könnten nicht mehr nur staatliche Institutionen die Bevölkerung ausspionieren, sondern auch Menschen mit ganz anderen Erkenntniszielen: "Jedes Land weiß, dass es diesbezüglich verwundbar ist, aber niemand will das Problem aus der Welt schaffen - weil sie diese Verwundbarkeit ebenfalls für sich nutzen. ... Anders als bei der Auseinandersetzung zwischen dem FBI und Apple, treffen im Kampf um Netzwerkanfalligkeit nicht der öffentliche und der private Sektor aufeinander, sondern vielmehr der öffentliche auf sich selbst. ... 'Der nächste Schritt wird darin bestehen, dass diese Technologie allgemein zugänglich wird, wenn sie erstmal günstig genug ist', sagt Jennifer Lynch von der Electronic Frontier Foundation, 'Die Firmen werden immer darum bemüht sein, neue Märkte für ihre Technologien zu finden. Und es gibt viele Leute, die ihre Nachbarn ausspionieren wollen oder ihre Verlobten oder Freundinnen."