Magazinrundschau

Privilegierte Beziehungen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.07.2016. EU ja, aber nur ohne Finanzdumping und Austeritätspolitik, fordert Thomas Piketty in Le Monde. Nichts mehr zu retten, die EU ist gescheitert, meint dagegen John Gray im New Statesman. In Letras Libras denkt Enrique Krauze über Populismus nach. The Nation trauert vor den Fotos der Bechers um den Vorkriegsoptimismus. Linkiesta und Espresso ziehen den Hut vor "Rousseau", Gianroberto Casaleggios Software für die direkte Demokratie. Die New York Times geißelt Geschlechts-Tests für Frauen im Sport.

Le Monde (Frankreich), 28.06.2016

In einem langen Artikel in seinem Blog, das bei Le Monde erscheint, schreibt der Ökonom Thomas Piketty über den Brexit. Grundsätzlich ist er für die EU - aber nur mit einer stärkeren Regulierung, ohne die deutsche Austeritätspolitik und ohne das Finanzdumping der Briten. Darum fordert er auch Sanktionen gegen Länder, die ein "Dumping" bei Regulierungen oder in Finanzdingen betreiben: "Solange man nicht bereit ist, derartige Sanktionen zu verhängen, darf man sich nicht wundern, wenn Länder lieber außerhalb der EU prosperieren: Wenn man vom gemeinsamen Markt profitieren kann, während man in aller Ruhe die fiskalische Basis seiner Nachbarn unterhöhlt, warum nicht? Das legale und politische System Europas mit seiner Sakralisierung des Freihandels und der freien Zirkulation ohne ernsthaftes Gegengewicht in Form von Regulierungen führt uns direkt in eine ganze Serie von 'Brexits'."
Archiv: Le Monde

New Statesman (UK), 30.06.2016

Der Philosoph John Gray empfiehlt in einem knallharten Leave-Text der britischen Linken, ihren Zustand von Wut und Verzweiflung zu überwinden. Die EU wird bald Geschichte sein, an dem Brexit und seinen Anhängern kann er wie eh und je nichts Falsches finden: "Mit dem Begriff Populismus beleidigen die Vordenker des Establishments heute gern all die Menschen, mit deren Leben sie sich nicht mehr abgeben. Eine Revolte der Massen ist zugange, und bei ihr sind jene, die in den vergangenen zwanzig Jahren die Politik geprägt haben, weiter von der Realität entfernt, als die einfachen Frauen und Männer, auf die sie gern herabsehen. Die Verbindung einer dysfunktionalen Einheitswährung und einer destruktiven Austeritätspolitik im Zuge der Finanzkrise hat große Teile Europas wirtschaftlich stagnieren lassen und mit Arbeitslosigkeit in einem Ausmaß geschlagen, wie wir es seit den dreißiger Jahren nicht mehr erlebt haben. Zur gleichen Zeit waren die europäischen Institutionen paralysiert von der Flüchtlingskrise. Die EU ächzt unter der Last der Probleme, die sie selbst geschaffen hat, und hat zweifellos bewiesen, dass ihr die Mittel für effizientes Handeln und jede Reformfähigkeit fehlen. Wie ich vor einem Jahr schrieb, Europas Bild als sichere Bank ist der Einsicht gewichen, dass es ein gescheiterten Experiment ist. Eine Mehrheit der Briten hat begriffen, was niemand in unserem Establishment bis jetzt verstanden hat."
Archiv: New Statesman

New Yorker (USA), 18.07.2016

"Keine Insel ist eine Insel", lernt Adam Gopnik, der den Wahlkamp des Historikers Gudni Jóhannesson um die Präsidentschaft in Island beobachtet hat und den Kandidaten einen Tag nach der Entscheidung für den Brexit getroffen hat. "'Mein Kommentar zum Brexit letzte Nacht war vielleicht zu weich', meint Gudni, die Debatte überdenkend. 'Ich sagte, wir müssten die Entscheidung der Menschen respektieren, aber offenbar sind einige Brexit-Anhänger heute morgen aufgewacht und haben sich gefragt: Was haben wir getan? Es muss eine Lösung geben, ein zweites Referendum, um das zu verhindern.' Er wies darauf hin, dass die Bedingungen für Islands privilegierte Beziehungen zur EU genau das garantieren, wovor sich die Engländer offenbar am meisten fürchten: Freizügigkeit der Bürger. 'Polen, Portugiesen - sie können alle frei hierher kommen', sagt er. Ohne die Polen würde die isländische Fischereiindustrie vollkommen zusammenbrechen.'" (Johannesson wurde übrigens am 25. Juni zum Präsidenten gewählt)

George Saunders besucht Donald Trump bei einer seiner Kundgebungen und ist verblüfft von der Irrationalität des Präsidentschaftskandidaten: "Er prahlt dauernd über die Größe seines Publikums, widerlegt im Vorbeigehen den ein oder anderen, der ihm angeblich böse mitgespielt hat, unterstreicht seine Aufrichtigkeit mit massenhaft Adjektiven (er wird 'die schönsten, unglaublichsten, tollsten Verfassungsrichter einsetzen'). Er lügt, mobbt, bedroht und teilt aus, aber kann selbst nicht einstecken. Er legt ein so undurchsichtiges Verständnis amerikanischer Prinzipien an den Tag (die Presse ist frei, Folter illegal, Kritik und Verleumdung sind zwei verschiedene Dinge), dass er gut als österreichischer Prinz aus dem 17. Jahrhundert durchginge ... Immer öfter erscheint sein Rechtsdrall gegen seinen Willen zu sein, als wäre er gar nicht der große Stratege, für den wir ihn halten, sondern jemand, der einer inneren Melodie folgt, die ihn sich manchmal passabel bewegen lässt, dann wieder monströs. 'Mehr, mehr', scheint dieses Melodie von ihm zu fordern. 'Mach noch mehr, widerlege noch mehr Kritiker, erschaffe eine nie dagewesene Menge an Empfehlungen, Umfragen und Experten-Aussagen, die endlich beweisen, dass -' Ja, was eigentlich?"

Weiteres: John Seabrook porträtiert den Hip-Hop-Produzenten Mike Will. Larissa MacFarquhar schreibt über die aufopfernde Arbeit einer Krankenschwester in New York, die Sterbenskranke zu Hause betreut. Kelefa Sanneh stellt ein Buch des Soziologen Mitchell Duneier über das Konzept des "Ghettos" vor. Emily Nussbaum schreibt über die vierte Staffel von "Orange Is the New Black". Anthony Lane sah im Kino Woody Allens "Café Society" mit Jesse Eisenberg and Kristen Stewart vor und Vittorio Storaro hinter der Kamera sowie Roger Ross Williams Doku über einen Autisten, "Life, Animated". Lesen dürfen wir außerdem Michael Andreasens Erzählung "The King's Teacup at Rest".
Archiv: New Yorker

Merkur (Deutschland), 01.07.2016

Wie kann ein Flüchtling seine Ansprüche gegenüber einem Gemeinwesen durchsetzen, das ihn ablehnt? Christoph Menke greift in seiner Philosophiekolumne auf Hannah Arendts "Aporie der Menschenrechte" zurück, in der Arendt ein Recht auf Rechte einforderte, denn auch Menschenrechte seien nur Rechte, die dem Individuum vom Kollektiv gewährt würden: "Der Flüchtling will geschützt, versorgt, gepflegt, aufgenommen werden, das Gemeinwesen aber will sich und sein bisherigen Leben erhalten. Auch wenn das Gemeinwesen sich entschließen sollte, das, was der Ankömmling will, als dessen Recht zu betrachten, erwartet es daher, dass er für die Sicherung seiner Rechte mit Anpassung, mit Integration zurückzahlt. Gleich nach den Rechten kommen die 'Werte' - unsere Werte, die der Andere von uns übernehmen soll, um hier mitmachen zu dürfen. Mit dem Recht auf Rechte ändert sich die Situation radikal. Der Flüchtling sagt nicht mehr: Ich will oder brauche das oder jenes (und habe als Mensch ein Recht darauf). Der Flüchtling sagt jetzt: Ich bin (bloß als Mensch) ein Mitglied, ein sozialer Teil, ein Teil des Sozialen."

Außerdem: Andreas Eckert setzt zu einer Kritik am afrikanischen Mode-Theoretiker Achille Mbembe an, belässt es dann aber doch bei vorsichtigen Einwänden und einer Ermunterung zu mehr innovativer Analyse und weniger raunender Wortakrobatik.
Archiv: Merkur

Letras Libres (Spanien / Mexiko), 01.07.2016

Obama und der Populismus. Enrique Krauze stellt ein paar grundsätzliche Dinge fest: "Ich bewundere Obama sehr, ich halte ihn für einen außergewöhnlichen Staatsmann, der für seine Verdienste und seine Ausgeglichenheit in die Geschichte eingehen wird. Das, was man außerhalb der USA unter 'Populismus' versteht, ist ihm jedoch unbekannt. Ein guter Präsident sorgt sich um das Wohl des Volkes, ohne Populist zu sein. Das beste Beispiel hierfür war Lázaro Cárdenas (1934-1940): Die Sache des Volkes war ihm ein großes Anliegen, er war aber kein Populist. Er beförderte keinerlei Kult um seine Person, setzte sich nicht über die Institutionen hinweg, beförderte nicht den Hass eines Teils der Nation auf den anderen. Ein - rechter oder linker - Populist nutzt sein Charisma, um zu einem Teil des Volkes eine direkte Beziehung aufzubauen und auf das 'Nicht-Volk', die angeblichen inneren oder äußeren Feinde, einzudreschen.Trump ist ein Zyniker und Populist. Auch Chávez war Populist. Obama ist populär, aber kein Populist. Der Populismus ist der demagogische Gebrauch der Demokratie zum Zweck ihrer Zerstörung."
Archiv: Letras Libres

Linkiesta (Italien), 02.07.2016

Ein bisschen merkwürdig aber ziemlich interessant liest sich das Interview, das Nicola Grolla mit Micah White, einem der Miterfinder der Occupy Wall Street-Bewegung führt und das die verschlungenen Wege rechter und linker Populismen, oder sagen wir plebiszitärer Bewegungen, zeigt. White bekennt sich als Bewunderer der Cinque-Stelle-Bewegung von Beppe Grillo und mehr noch von dessen jüngst verstorbenem Chefideologen Gianroberto Casaleggio, der der M5S-Bewegung noch ein "Betriebssystem" namens "Rousseau" schenkte, das auf digitalem Wege direkte Demokratie bringen soll. White ist begeistert von "Rousseau" und will die Software auch in anderen nationalen Kontexten anwenden. Andere aktuelle politische Figuren sieht er kriitischer: "Donald Trump repräsentiert wie Bernie Sanders ein der Occupy-Bewegung ähnliches Symptom. Beide existieren, weil die Leute verzweifelt nach einem sozialen Wandel suchen. Da sie keine anderen Alternativen sehen, vertrauen sie ihre Hoffnungen charismatischen Führern an. Die Wahrheit ist aber, dass die Konzentration auf Sanders und Trump eine negative politische Regression anzeigt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir, das Volk als soziale Bewegung, Occupy geschaffen haben. Wir brauchen diese Trumps und Sanders nicht, sondern wir müssen verstehen, wie wir eine Bewegung aufbauen, die Wahlen gewinnt."
Archiv: Linkiesta

Espresso (Italien), 28.06.2016

Etwas näher erklärt wird das Cinque-Stelle-Betriebssystem "Rousseau" von Fabio Chiusi in L'Espresso. Es soll Abstimmungen innerhalb der Partei erleichtern, kollektive Formulierungen von Gesetzesvorschlägen ermöglichen, aber auch zum Fundraising dienen. "Es ist ein faszinierendes Experiment, von weltweitem Interesse. Aber auch wenn sich die Plattform entwickelt, bleiben die von Experten, Ehemaligen und Parteimitglieder von Anfang an beklagten Grundprobleme doch die gleichen: Proprietärer, nicht offener Code, mangelnde Transparenz, ein Übergewicht der 'Spitzen', das eigentlich nicht existieren dürfte. Aber die Technologie kann sich natürlich noch verbessern."
Archiv: Espresso

The Nation (USA), 22.06.2016

Jana Prikryls Essay über Bernd und Hilla Becher liest sich auch deshalb so faszinierend, weil man gewissermaßen zusehen kann, wie sehr sich ihr Werk den Interpretationen widersetzt. Hat es mit der deutschen Vergangenheit zu tun? Ist es konzeptuell? Kalt? Prikryl prüft die Hypothesen und verwirft sie und macht doch ein paar Beobachtungen, die sicher zutreffen: "Von der Melancholie ihres Werks zu sprechen, ist zu einem kritischen Klischee geworden, aber das Gefühl der Verlusts, das man empfindet, wenn man ihre Fotografien betrachtet, ist nicht so sehr eine Trauer um jedes dieser zerstörten Objekte als um den Vorkriegsoptimismus selbst, jenen alten Glauben in monumentale Strutkturen, Programme, politische Lösungen."
Archiv: The Nation

ResetDoc (Italien), 05.07.2016

In einem leider etwas struppigen, aber doch bemerkenswerten Artikel erhebt Chiara Cruciati schwere Vorwürfe gegen die Vereinten Nationen, die den Jesiden nicht zu Hilfe kommen, obwohl ihre eigene Untersuchungskommission zu Syrien das de facto verlangt. Im Focus steht wieder einmal der Menschenrechtsrat: "'Völkermord ist verübt worden und wird weiter verübt', betonte Paulo Pinheiro, Vorsitzender der Kommission: 'Der IS hat an allen jesidischen Frauen, Männern und Kindern, derer er habhaft werden konnte, die entsetzlichsten Gräueltaten begangen'. Sein Bericht stellt fest, dass für die Kommission 'das Außmaß und die Art der Gräueltaten, sowie die Tatsache, dass die Opfer aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppen vorsätzlich und systematisch ins Visier genommen werden, weitere Faktoren waren, aufgrund derer sie auf eine genozidale Absicht schließen konnte. Dazu gehört auch, dass die Geburt jesidischer Baby verhindert wird, Erwachsene zwangskonvertiert werden, jesidische Männer und Frauen voneinander getrennt werden.' Doch wie Carla del Ponte berichtet, reagierte der Menschenrechtsrat in keiner Weise angemessen, sondern machte erst einmal jede Chance zunichte, 'Strafmaßnahme gegen die an diesen schrecklichen Verbrechen Schuldigen einzuleiten'."
Archiv: ResetDoc

Aktualne (Tschechien), 02.07.2016

Auf dem Karlsbader Filmfestival lief soeben die Weltpremiere von "Anthropoid" des britischen Regisseurs Sean Ellis. Dieser Film hätte das Potential gehabt, das tschechische Attentat auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich in der Welt bekannter zu machen, meint Rezensent Martin Svoboda, "doch der Film ist auf unfassbare Weise misslungen". Ein maßgeblicher Fehler sei es, Heydrich im Film "zu früh umzubringen - dramaturgisch ist das Selbstmord. So muss innerhalb einer Stunde die ganze Handlung abgeschnurrt werden, der ganze (für Nichttschechen unbekannte) Konflikt erläutert werden. Keine der Figuren hat genügend Raum, alles findet unter riesigem Zeitdruck statt, keine einzige menschliche Emotion wird glaubhaft. Die Stimmungen wechseln mit einem Fingerschnippen." Auch nicht in den Kopf will Martin Svoboda, warum die britischen Darsteller (Cillian Murphy und Jamie Dornan), die die tschechischen Attentäter spielen, in der englischen Filmfassung gebrochenes Englisch mit pseudotschechischem Akzent sprechen. "Zusammen mit dem nichtssagenden Setting entsteht dadurch der seltsame Eindruck, dass sich hier irgendwelche Fremden von irgendwo weit her an einem undefinierbaren Ort treffen und aus irgendeinem Grund einen wichtigen Nazi umbringen wollen …" Als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat brachten die Nationalsozialisten damals sämtliche männlichen Einwohner von Lidice und Ležáky um (Frauen und Kinder wurden deportiert) und löschten damit buchstäblich zwei Dörfer aus.
Archiv: Aktualne

New York Times (USA), 03.07.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times erzählt Ruth Padawer die unglaubliche Geschichte der indischen Sprinterin Dutee Chand, die für ihr Land in Rio starten wird, zuvor allerdings einen "Geschlechts-Test" über sich ergehen lassen musste, weil die olympische Nomenklatura annahm, Chand sei mehr Mann als Frau: "Kein Gremium hat je so beharrlich versucht, zu entscheiden, wer als Frau, wer als Mann durchgeht, wie der Weltleichtathletikverband und das Olympische Komitee. Diese beiden einflussreichen Organisationen betreiben seit einem halben Jahrhundert Gender-Abgrenzung, bei der es darum ging, als Frauen maskierte männliche Athleten zu entlarven, etwas, das nicht ein einziges Mal gelang. Sämtliche Athleten, die man 'fasste', waren intersexuelle Frauen. Die Behandlung von Athletinnen und intersexuellen Frauen hat eine lange, schäbige Tradition. Jahrhundertelang war Sport eine männliche Domäne, eine Arena, in der es galt, Maskulinität zu kultivieren und zu beweisen. Sport gab dem Mann die physische und psychische Stärke, die Männlichkeit verlangte. Als Frauen im späten 19. Jahrhundert begannen, männliche Disziplinen wie Sport, Erziehung und bezahlte Arbeit für sich zu beanspruchen, wurden große Teile der Bevölkerung extrem nervös. Wenn der Platz der Frau in der Gesellschaft veränderbar war, waren es die Rolle des Mannes und seine Stärke ja eventuell auch."

Außerdem: Michael Kaplan teilt die neuesten (legalen) Tricks cleverer Casino-Spieler. Maggie Jones berichtet über die forensische Arbeit in den Massengräbern von Guatemala. Und im Interview erklärt der erste nicht-weiße schwule Kongressabgeordnete Mark Takano, was die gay community von Jane Austen lernen kann.
Archiv: New York Times