Magazinrundschau

Die Nase schrillblau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.07.2016. Erfolg ist Mord, lernt das New York Magazine von Diane Arbus. Die ungarischen Magazine trauern um Peter Esterhazy. In Slate erzählt NYT-Reporterin Rukmini Callimachi von ihren Recherchen über Al Qaida und IS. Buzzfeed stellt die Perlentaucher der Musik-Streamingdienste vor. In MicroMega erklärt Michael Cimino, warum er niemals zweimal schneidet. Slate.fr stellt Graphic Novels über den Terrorismus vor. Die New York Times porträtiert den Porträtkünstler Chuck Close.

New York Magazine (USA), 18.07.2016

Ausschnitt aus Diane Arbus, Selbstporträt, 1945Ausschnitt aus Diane Arbus, Selbstporträt, 1945
Die große Diane Arbus-Schau im Met Breuer ist nun eröffnet und zeigt eine Menge bisher unbekannter Fotos aus der Frühzeit der großen Fotografin (wir haben bereits auf ein Gspräch mit dem Kurator der Ausstellung hingewiesen). Alex Mar erinnert aus diesem Anlass auch an ihre erste große Schau im Moma, "New Documents", wo sie 1967 zusammen mit Lee Friedlander und Garry Winogrand ausstellte. Hier ergab sich eine seltsame Künstlerdialektik, die für Mar auch ausschlaggebend war für ihren Selbstmord vier Jahre später: "Die Ausstellung war ein Durchbruch für das Medium - und Diane stand im Zentrum aller Kritiken. Aber in einem Rückschlag, den viele Künstler kennen, folgte dem Triumph der Ausstellung schnell die Realität der Frage: Was jetzt? Obwohl Diane eine der angesehensten Fotografinnen der Landes geworden war, gingen ihre Aufträge von Magazinen zurück. Die Redakteure fürchteten entweder, dass sie aus ihren Themen eine Freakshow machen würde, oder dass es mit all der Aufmerksamkeit, die sie erhalten hatte, schwierig wäre, mit ihr zu arbeiten."

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.07.2016

Zum Tod von Péter Esterházy (nach Redaktionsschluss) veröffentlichte die Redaktion der Wochenzeitschrift Élet és Irodalom eine erste Stellungnahme. "Wenn es eine der größten Anklage gegenüber der Postmoderne ist, dass sie alles relativiert, dass sie Gutes und Böses verwischt, dann tat er - gerade er - das Gegenteil: im fortwährend überschriebenen, kommentierten, hinterfragten, zitierten Text war immer der Goldstandard von Moral und Klarsicht vorhanden. (...) Freilich war er nur ein Schriftsteller, doch kaum jemand tat konkret mehr, damit dieses Land freier, lebenswerter wird. Jede seiner Regung war ein Ereignis. Um Himmels willen, mit welcher Haltung ist er durch dieses letztes Jahr geschritten! Wir trauern."

Im Interview mit Csaba Károlyi spricht der Literaturwissenschaftler Mihály Szegedy-Maszák u.a. über die Sprache über Literatur und die Notwendigkeit Kanons aufzustellen und einzureißen: "Früher dachte ich, dass sich die Sprache über die Literatur entwickelt, wie die Literatur und die Künste nach meinem damaligen Verständnis nach vorne gingen. Heute glaube ich das nicht, - auch - weil ich sehr überrascht war, als mich Péter Esterházy an meinem siebzigsten Geburtstag (2013) als "konservativ" bezeichnete. Ich war nicht wirklich glücklich, als ich es hörte. Dann dachte ich darüber nach und sah ein, dass er Recht hat. Wahrlich, meine Tätigkeit ist das Behüten von etwas. Diese wertschützende Idee bedeutet bedingungslos die Schätzung der geistigen Qualität."

Nepszabadsag (Ungarn), 18.07.2016

Auch der Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler Péter György trauert um Péter Esterházy: "Dass die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt sind, sagte nicht er, sondern Wittgenstein. Und Esterházy zeigte, um welch eine weite Grenze es sich handelt. (...) Von ihm lernten mehrere Generationen, wie viel ein Schriftsteller geben kann, der in den jahrhundertalten philosophischen und ästhetischen Debatten keine Position bezieht, sondern zeigt, wie eine Sprache funktioniert, dessen Natur ebenso transparent, wie undurchschaubar ist."

Die ungarische Regierung hat es nicht für nötig befunden, ein Wort der Trauer zum Tod Peter Esterhazys zu verlieren. Szilvia Kuczogi, stellvertretende Chefredakteurin von Népszabadság, wundert das nicht. "In der nie endenden Kádár-Ära lasen mehrere Tausend Menschen ein merkwürdiges Buch ('Kleine ungarische Pornografie'). Neben seinen perfekten Sätze liebten sie auch die ungekämmten Haare des Autors. Seine Freiheit. Die Freiheit Esterházys wurde unsere Freiheit. 1989 ging das Nie-Endende zu Ende und Esterházy blieb weiterhin unsere Freiheit. (...) Im Jahre 2016 spricht der Ministerpräsident uns Lesern sein Beileid nicht aus. Denn wir sind diejenigen, die alleine blieben, die selbst Antworten finden müssen, die keinen Trost darin finden, dass auf eine Bücherwoche die nächste folgt, auf ein neues Buch ein neueres. Viktor Orbán tritt nicht in diesen Raum, denn damit würde er anerkennen, dass Kultur existiert. Dass die Kultur Erlebnis- und Gedankengemeinschaft ist. Dass Kultur frei ist. Dass Esterházy unsere Kultur ist. Dass wir frei sind. Ob wir ihn lasen oder nicht. Ob wir vor der Wende geboren wurden oder danach. Ob wir ein Zitat und eine Kerze auf Facebook posten oder nicht."
Archiv: Nepszabadsag

Slate (USA), 12.07.2016

Über Al Qaida zu berichten, war lange Zeit ziemlich langweilig, meint New York Times Reporterin Rukmini Callimachi, damals in Daka stationiert, im Interview. Man konnte immer nur ein paar Diplomaten zitieren, an Originalquellen kam man nie heran. "Aber alles veränderte sich für mich im Januar 2013, als die Franzosen in Mali einmarschierten. Drei Tage, nachdem sie die Dschihadisten vertrieben hatten, war ich in Timbuktu. Ich kam mit der ersten Welle der Reporter. Es waren so viele nach wenigen Tagen. Zuerst zogen wir alle los und interviewten die Einwohner. Wie war es unter der Sharia zu leben? Wir sahen uns die Orte an, wo Menschen hingerichtet wurden und den Platz, wo sie jemandem die Hand abgehackt hatten. Die Bewohner zeigten mir dann die besetzten Gebäude. Unglaublicherweise hatte die Al-Qaida-Zelle tausende Seiten interner Dokumente zurückgelassen. ... Woher ich das weiß? In dem ersten Gebäude hob ich ein Papier auf und dachte, 'Das ist Arabisch, ich kann es nicht lesen' und ließ es wieder fallen. [Lacht] Ich ging bis ins Hotel zurück, ehe ich begriff: Mein Gott, dies ist Mali. In Mali sprechen die Leute Französisch. Sie lernen es in der Schule. Nicht Arabisch. Also stammt per definitionem alles, was auf Arabisch geschrieben ist, von den Besatzern. Ich lief mit Plastiktüten zurück und sammelte jedes Papier ein, was ich finden konnte."
Archiv: Slate

MicroMega (Italien), 04.07.2016

Aus Anlass des Todes von Michel Cimino bringt Micromega ein langes Interview, das Fabrizio Tassi und Emilio Cozzi vor fünf Jahren mit dem Regisseur geführt haben. Auf die Frage, ob er heute "Heaven's Gate" nochmal drehen würde, antwortet er nur auf Umwegen: "Nein. Ich hasse es dieselbe Sache zweimal zu machen. In meiner ganzen Karriere habe ich niemals eine Szene neu geschnitten. Das ist eine der nervendsten Sachen, die dir passieren können. Ich sage nicht, dass beim Drehen alles von vornherein perfekt ist. Aber wenn ich eine Idee über eine Szene im Zusammenhang mit der Geschichte habe, dann drehe ich, bis ich sie realisiert habe. Diese Szene und keine andere. Ich klebe nicht verschiedene Versionen der selben Sequenz zusammen, um dann die vielleicht die besten Teile auszuwählen und sie zu montieren. Damit riskiert man den Zusammenhalt des Films."
Archiv: MicroMega

Prospect (UK), 14.07.2016

Die gerade in Großbritannien erschienene Sammlung "The Storyteller: Short Stories" mit fiktionalen Texten aus der Feder Walter Benjamins ist zwar in gewisser Hinsicht eine Mogelpackung, da der Philosoph und Essayist nicht besonders viele, im engeren Sinne belletristische Arbeiten hinterlassen hat, schreibt Adam Kirsch. Doch die im Band versammelten verstreuten Schriften kommen der Belletristik in Benjamins Werk noch am nächsten. Die Traumprotokolle zum Beispiel: Sie "entziehen sich der sprichwörtlichen Verschlafenheit anderer Leute, wenn Benjamin die unheimliche Art und Weise auf den Punkt bringt, in der Traum-Dinge sowohl sie selbst, als auch etwas völlig anderes sein können. ... Die Erscheinung Sowjet-Russlands in einem Spielzeug etwa ist auf surrealistische Weise evokativ. Sie vermittelt nicht nur die Tiefe des psychischen Engagement des Träumers in der Politik, sie stellt auch unbequeme Fragen danach, welchen ontologischen Status das kommunistische Utopia tatsächlich hat. Ist die UdSSR ein echter Ort oder bloß eine Projektionsfläche für Fantasien? Was versucht Benjamin, ein leidenschaftlicher, wenn auch exzentrischer Marxist, uns und sich selbst mit diesem Bild zu erzählen?"
Archiv: Prospect

Hospodarske noviny (Tschechien), 17.07.2016

Interessante Debatten auf dem Diskussionsforum "Melting Pot" des Festivals Colours of Ostrava: Zur Frage, warum die Öffentlichkeit den Medien nicht mehr vertraue, bemerkte dort der amerikanische Historiker Timothy Snyder: "Das größte Problem der gegenwärtigen Medien ist nicht, dass sie nicht genug Fakten hätten, sondern dass sich immer mehr von ihnen auf Emotionen statt auf Fakten konzentrieren" und führte als Beispiel das britische Referendum zum EU-Austritt an. Die Brexit-Befürworter hätten eher dadurch gewonnen, dass es ihnen gelungen sei, an die Gefühle der Wähler zu appellieren, als dass sie die besseren Argumente vorgelegt hätten. Der ebenfalls teilnehmende tschechische Außenminister Lubomír Zaorálek meinte, es sei schwer geworden, heute Debatten rein auf der Grundlage von Fakten zu führen. "Selbst die präzisesten und fundiertesten Argumente garantieren keinen Erfolg mehr, denn wir leben in einer Welt, die zunehmend von Bildern beherrscht wird." Er erinnerte daran, dass die allgemeine Medienskepsis auch durch gezielte Desinformation wie im Phänomen des Hybridkriegs verstärkt und ausgenutzt werden könne: "Indem irgendwo Soldaten ohne genaue Kennzeichnung aufmarschieren und von Anfang an Ungewissheit besteht, wer eigentlich wer ist, ergeben sich die verschiedensten Interpretationen" - eine klare Anspielung auf die russische Krim-Annexion.

Buzzfeed (USA), 13.07.2016

In einer sehr erhellenden Buzzfeed-Reportage porträtiert Reggie Ugwu die Kuratoren, die hinter den Kulissen der großen Streamingdienste handverlesene, thematisch stimmige Playlists zusammenstellen: Die größten Dienste haben sich in den letzten zwei Jahren zunehmend auf Playlists fokussiert, "um zwei wichtige Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Erstens, Nutzer, die von einem 30 Millionen Stücke umfassenden Katalog erschlagen sind, das finden zu lassen, was sie tatsächlich wollen, und zweitens, sich in einem Markt, in dem jeder mehr oder weniger dasselbe Produkt anbietet, zu profilieren. Doch bessere Playlists zusammenzustellen ist schwieriger als man meinen würde. Der Algorithmus, der die Verdiente des neuen Gucci Mane erkennt, oder intuitiv weiß, dass man 'A Thousand Miles' von Vanessa Carlton in der Dusche singen möchte, muss erst noch erfunden werden. Bis dahin übernimmt eine Eliteklasse von Musicnerd-Veteranen diese Aufgabe. ... Während Streaming Mainstream geworden ist, haben sich auch diese Kuratoren, von denen viele als Blogger oder DJs begonnen haben, einen ungewöhnlich hohen Einfluss erarbeitet. Den Regeln folgend erledigen sie Ihre Arbeit zwar anonym - für die Dienste ist es besser, wenn sie sich wie Magie anfühlt. Aber ihrer Reichweite lässt sich immer weniger entgehen. Spotify gibt an, dass 50 Prozent ihrer weltweit mehr als 100 Millionen Kunden von Menschen zusammengestellte Playlists nutzen."
Archiv: Buzzfeed

Slate.fr (Frankreich), 18.07.2016

Auch in Graphic Novels wird der Terrorismus behandelt, und dies schon seit längerem, erzählt Patrick de Jacquelot. Lange vor den Attentaten von Paris oder Nizza hat das Thema eine Rolle gespielt: 'Léna et les trois femmes' (Text von Pierre Christin, Zeichnungen von André Juillard) ist 2009 erschienen, 'L'attentat' (Text von Loic Dauvillier, Zeichnungen von Glen Chapron) 2014. Für die neue Saison sind mehrere Neuerscheinungen vorgesehen, etwa 'L'appel' (Text von Laurent Galandon, Zeichnungen von Dominique Mermoux) und 'Kobané Calling' (Text und Zeichnungen von Zerocalcare). "Es gibt eher realistische und eher fiktionale Annäherungen an das Thema. 'Léna et les trois femmes', 'L'Attentat' ou 'L'Appel' verfolgen einen völlig realistischen Ansatz. Hier wäre man kaum erstaunt einen Hinweis zu finden 'In Anlehnung an reale Ereignisse - nur die Namen sind erfunden'. Diese bandes dessinées sind solide dokumentiert und liefern absolut plausible Geschichten, auch wenn Fiktion, kreative Freiheit und das Lesevergnügen von den Autoren durchaus gewollt sind. Andere nähern sich dem Gegenstand eher in imaginativer Weise."
Archiv: Slate.fr

New York Times (USA), 17.07.2016

Chuck Close, Self-Portrait I, 2014Chuck Close, Self-Portrait I, 2014
Im aktuellen Magazin der New York Times zeichnet Wil S. Hylton den Weg des legendären Porträt-Künstlers Chuck Close nach und stellt eine radikale Veränderung in dessen neueren Arbeiten fest: "Weg waren die Streiche und Wirbel, die sonst die Quadrate des zugrundeliegenden Gitternetzes ausfüllten. Stattdessen hatte Close jede Zelle mit ein, zwei Farben ausgefüllt, ein Effekt wie bei Commodore-64-Grafik. Die Farben selbst waren grell, leuchtendes Pink oder Blau, während Chucks Gesicht im Porträt gespalten erschien, gefasst in unterschiedlichen Schattierungen. Links wirkte die Haut pfirsichfarben, das Hemd dunkelrot und der Hintergrund minzgrün, rechts war die Haut pink, das Hemd saphirfarben und der Hintergrund orange. Ein meergrüner Klecks zierte den Nacken und zog sich bis zur Nase, oberhalb des Ohres war radioaktives Gelb, die Nase schrillblau. Wie ich so erstaunt vor dem Bild stand kam Close in seinem Rollstuhl aus dem Lift gefahren. Er trug eine riesige türkise Brille, einen dunkelblauen Arbeitskittel und weiße Stützsocken. Er grinste und zeigte auf die Leinwand: 'Wie sieht das aus? Wie ein Fresko?'"

Außerdem: Mitch Moxley berichtet über den Erfolg des amerikanischen Schauspielers Jonathan Kos-Read in Chinas Kino. Robert Draper fragt sich, ob die republikanische Mehrheit im Senat Trump überleben kann. Und in der Bücherabteilung bespricht Michiko Kakutani Dave Eggers' neuen, in Alaska spielenden Roman "Heroes of the Frontier".
Archiv: New York Times