Magazinrundschau

Ist das jemand wie ich?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.11.2016. Trump-Wähler haben einen Horror davor, ihre weißen Privilegien zu verlieren, glaubt Toni Morrison im New Yorker. Bei den Wahlen geht es immer mehr um Identität, das versteht auch die abgehängte Landbevölkerung, meint die Soziologin Kathy Cramer in der Washington Post. Warum gibt's eigentlich keine ordentlichen Verrisse mehr in der Literaturkritik, fragt der New Statesman. Und Elet es Irodalom trauert um den Pianisten und Dirigenten Zoltán Kocsis.

New Yorker (USA), 21.11.2016

Der New Yorker druckt sechzehn Essays von SchriftstellerInnen wie Hilary Mantel oder George Packer über Trumps Amerika. Toni Morrison fürchtet, dass amerikanisch sein für viele bedeutet, weiß zu sein, und dass Trumps Wähler einen Horror davor haben, ihre natürliche "weiße" Überlegenheit zu verlieren: "Dieser Komfort ist nur schwer aufzugeben. Die Gewissheit, in einem Geschäft nicht dauernd beobachtet zu werden, dass du der bevorzugte Gast in einem erstklassigen Restaurant bist, diese sozialen Feinheiten, die das Weißsein ausmachen, werden gehütet. Die Angst vor dem Verlust weißer Privilegien ist so groß, dass viele Amerikaner sich einer politischen Agenda zugewandt haben, die Gewalt gegen Wehrlose als Stärke verkauft. Diese Leute sind weniger wütend als verängstigt. Am Wahltag haben diese weißen Wähler die Scham und Angst umarmt, die Trump gesät hat, der Kandidat, der seine Wohnungen nicht an Schwarze vermietet, der bestritt, dass Obama in den USA geboren wurde und der vom Ku Klux Klan geschätzt wird. Faulkner illustriert diesen Gedanken, wenn er in 'Absalom, Absalom' zeigt, wie eine Upperclass-Südstaatenfamilie Inzest und Mord dem einen Tropfen schwarzen Bluts in der Familienlinie vorzieht."

Außerdem: Jill Lepore erzählt die Geschichte, wie J. D. Salinger einmal nicht Nein zur Verfilmung einer seiner Stories sagte. Elaine Blair porträtiert die Filmemacherin Chris Kraus. Adrian Chen berichtet am Beispiel der Philippinen, was geschieht, wenn ein populistischer Demagoge die Macht übernimmt. Ebenfalls im Heft zu lesen: Eine Kurzgeschichte von Lauren Groff.
Archiv: New Yorker

Washington Post (USA), 08.11.2016

Kathy Cramer hat gerade in den USA ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht, "The Politics of Resentment", für das sie jahrelang die Landbevölkerung in Wisconsin interviewt hat. Dabei hat sie allerhand gelernt über die Wähler, die jetzt überraschend - und eigentlich gegen ihre eigenen Interessen - Donald Trump gewählt haben. Diese Menschen, erklärt sie im Interview mit der Washington Post, hegen ein tiefes Gefühl der Bitterkeit gegen die Eliten, von denen sie sich politisch gegängelt, persönlich verachtet und ökonomisch ausgetrickst fühlen. Darum wird immer wichtiger, wer man selbst ist und wer zu einem spricht, sagt Cramer: "In der Politik geht es immer weniger um Fakten und politische Richtungen. Es geht vor allem um Identitäten, die Leute überlegen, welche Art von Person sie sind und welche Art andere sind. Für wen bin ich und gegen wen bin ich? Politik ist ein Teil davon, aber Politik gibt nicht die Richtung vor. Die Leute überlegen: Ist das jemand wie ich? Ist das jemand, der versteht, wer ich bin? Wir denken zu viel darüber nach, wer für welche spezielle Politik steht. Statt dessen sollten wir versuchen zu verstehen, wie jemand die Welt sieht und seinen Platz darin - dann werden wir auch viel besser vorhersagen können, wie er wählt und welche Kandidaten ihn ansprechen."

Lesenswert in diesem Zusammenhang ist auch Alec MacGillis' Reportage für Propublica aus dem Rust Belt.
Archiv: Washington Post

London Review of Books (UK), 17.11.2016

Theresa May wird Großbritannien nicht nur aus der EU führen, sondern aus der Welt, fürchtet Neal Ascherson, dafür wird die politische und ökonomische Macht der Londoner Eliten noch größer werden. Das Parlament wird sie bestimmt nicht aufhalten. "Mit heruntergelassenen Hosen stand die parlamentarische Demokratie da, bis Anwälte des High Court, nicht Politiker ihr zu Hilfe kamen und die Hosen wieder hochzogen. Das Versagen der Parlamentarier, ihre so oft gepriesenen Rechte zu verteidigen, wird nicht so schnell vergessen werden. Nichts von dem, was May vorschlug, war verfassungswidrig. Es gibt ja keine Verfassung. Sie verstieß gegen eine uralte Konvention: Englands Glauben an die 'parlamentarische Souveränität'. Der Slogan im Referendum lautete: 'Take Back Control.' Aber Kontrolle worüber und von wem? Die, die unbedingt das Establishment hinter sich lassen wollten, riefen: 'Gebt dem Parlament seine Souveränität zurück, dem Unterstand des englischen Bundes. England ist nicht mehr England, wenn sein Parlament überstimmt werden kann - vor allem von Ausländern.' Aber das Gros der eher plebejischen Leaver fragte sich noch etwas anderes: Warum sollen sie Gesetzen folgen, die sie nicht mögen, die von Politiker erlassen wurden, die sie nicht gewählt haben? Es waren die imaginierten Rechte der Nation, die sie zurückforderten, nicht die von Westminster. Sie wollten nicht die parlamentarische Souveränität zurück, sondern etwas paradox Unenglisches, etwas Europäisches: Die Souveränität des Volkes."

Besprochen werden Colson Whiteheads Sklaverei-Roman "The Underground Railroad", Stefan Buczackis Venetia-Stanley-Biografie "My Darling Mr Asquith" und Peter Parkers Dichterleben "Housman Country".

HVG (Ungarn), 12.11.2016

Ungarn erinnerte das ganze Jahr über an die Revolution von 1956, die im November desselben Jahres von sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden war. Die Feierlichkeiten sind noch nicht ganz zu Ende, doch der Historiker Péter Konok attackiert bereits sehr sarkastisch die vereinnahmende Geschichtspolitik der Regierung Orban: "Die Monopolisierung der Geschichtsschreibung (oder auch ihre Privatisierung) sichert die rückwirkende Beherrschung der Fakten durch Wille und Vorstellung, dramatischer ausgedrückt: den Tod der Geschichte oder wenigstens ihr Ende, ihren Abschluss. Und zwar durch jenes unendlich ahistorische Weltbild, nach dem jedes Ereignis der Vergangenheit lediglich ein Markstein auf dem Weg zur glorreichen Gegenwart sei. Die linear-schematische, teleologische Geschichtsschreibung kennt keine Nebenstraßen, keinen Kreisverkehr, keine Sackgassen, nicht einmal eine schäbige Abstellspur. Alle Wege sind Einbahnstraßen … Die wahre Geschichte der Revolutionen kann uns jedoch lehren - wenn wir aufmerksam sind -, dass nichts ewig ist … Dass die immer wieder verordneten grandiosen Beerdigungen vergeblich sind: die Revolution (eigentlich: die Geschichte) ist nicht gewillt, sich als dankbare Leiche ein für alle Mal in ihr Grab zu legen."
Archiv: HVG

New Statesman (UK), 10.11.2016

Warum werden eigentlich keine Verrisse mehr geschrieben?, fragt D.J. Taylor, dessen erster Roman vor zwanzig Jahren noch brutal abgekanzelt wurde, in einer Zeit mithin, als Kritiken noch als blutiger Sport galten. In der Sunday Times nannte Stephen Amidon das Buch so "überflüssig wie einen Einbeinigen in einem Arschtrittwettbewerb". Das einzige Horrende an Kritiken sei inzwischen ihre Sanftmut, meint Taylor und wird kiebig: "Es könnte sein, sein, dass Verrisse das einzige Mittel gegen das große Versagen des modernen Literatur-Establishment und seiner Mildtätigkeit gegenüber seinen Altvorderen sind. Drei- oder viermal im Jahr ertönen die Fanfaren der Verlagstrompeten und eine Eminenz, die ihre Schriftsteller-Karriere mit der Granta Liste der besten jungen Britischen Romanautoren von 1983 begann, bringt ein neues Werk von bescheidener, wirklich bescheidener Könnerschaft heraus - nur um von den Kritikern Girlanden um den Hals gelegt zu bekommen. Gegen dieses demografische Sektion der Buchwelt sollten die Nachfahren von Stephen Amidon ihre Haubitzen richten."

Außerdem: John Gray erkundet mit John Stubbs' Biografie "Rhe Reluctant Rebel" Jonathan Swifts humanistische Vernunft.
Archiv: New Statesman

Wired (USA), 12.11.2016

Seit den Terroranschlägen in Paris und Brüssel und dem Amoklauf in Orlando ist Facebooks Funktion "Safety Check" allgemein bekannt geworden. Sie fordert Personen, die sich in der Nähe eines Anschlags befinden, dazu auf durchzugeben, ob sie sicher sind. Cade Metz berichtet dazu Hintergründe über Funktionsweise und Implementierung. Auf ein paar Schwächen des gegenwärtigen Systems geht er auch ein. Diese zeigten sich etwa bei den Ausschreitungen, nachdem die Polizei den Afroamerikaner Keith Scott erschossen hat: "Die Demonstrationen von hauptsächlich Afroamerikanern fanden in einem räumlich sehr begrenzten Rahmen statt, was für die Gewalt sogar noch mehr galt. Die Live-Videos vermittelten allerdings einen anderen Eindruck. 'Wenn man sich viele Videos ansieht, die den selben Protest zeigen, gewinnt man rasch den Eindruck, dass die ganze Stadt in Gewalt versinkt', sagt Campell, der in North Carolina für Notfälle zuständig ist. Ab einem gewissen Punkt aktivierte Facebook den Safety Check, da die Zahl der Leute, die über das Ereignis sprachen, den kritischen Punkt erreicht hatte. Doch die Zusammensetzung der in Aufregung versetzten Gemeinschaft in dieser 'gemeinschaftsbasierten' Version von Safety Check wurde auf unangenehme Weise deutlich, als sich mehr und mehr weiße Leute aus den Vororten als 'sicher' meldeten."
Archiv: Wired

New York Review of Books (USA), 24.11.2016

Je autonomer Autos werden, desto weniger werden es die Fahrer, lernt Sue Halpern aus einem Buch über "Driverless: Intelligent Cars and the Road Ahead". Die Software zum Steuern ist gleichzeitig perfekte Spy- und Überwachungssoftware für die Fahrzeuginsassen. Wenn es sie denn überhaupt noch gibt: Berufsfahrern droht die Arbeitslosigkeit. Macht gewinnen nur die Programmierer. "Autos werden programmiert sein, eine vorbestimmte Kalkulation durchzuführen, die jeder lebenden Kreatur, die ihren Weg kreuzen, einen Wert zuschreiben. Wird dieser Wert utilitaristisch berechnet und das Auto in die Richtung lenken, die die geringste Anzahl von Fußgängern tötet, oder wird es andere Regeln geben - etwa, um jeden Preis Kinder zu schonen? Jemand wird ein Programm für diese Berechnungen schreiben müssen, und es ist noch völlig unklar, wer den Programmierern sagen wird, was sie schreiben sollen. Werden wir ein Referendum haben oder werden diese Entscheidungen von Ingenieuren oder Managern getroffen werden?"

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.11.2016

Mit ausgesprochen tröstlichen Worten verabschiedet Miklós Fáy den verstorbenen Pianisten und Dirigenten Zoltán Kocsis, der als künstlerischer Gigant das ungarische Musikleben geprägt hat: "Es ist möglich, ohne Zoltán Kocsis zu leben, wir werden es lernen müssen. Doch seine Wirkung wird glücklicher Weise noch lange anhalten. Wie oft werden wir noch sagen: das ist er, sein Tempo, sein Akzent, seine Tonlage. Und wenn wir es nicht mehr sagen werden, wird es trotzdem so sein. Auch wenn wir es heutzutage vielleicht nicht immer spüren, die musikalische Tradition arbeitet doch weiter und so sind in einer alltäglichen Vorstellung auch Liszt oder Beethoven präsent. Wenn das kein Wunder, kein Glück, kein Geschenk ist, dann weiß ich nicht was all das ist."

New York Times (USA), 13.11.2016

Die neue Ausgabe des New York Times Magazines widmet sich dem Design und dem Redesign. Rob Walker stellt gleich mal die Grundsatzfrage nach der Notwendigkeit, alles, wirklich alles in einen neuen Look zu tauchen: "Theoretisch beginnt jedes Redesign mit einem Problem, spezifisch, systembedingt oder subjektiv. Ein Logo lässt eine Firma alt aussehen, ein bekannter Gebrauchsgegenstand wird von der Technik überholt, eine Dienstleistung wirkt fremd auf junge Kunden etc. … Redesign befasst sich mit Problemen innerhalb unserer gestalteten Umwelt. Diese Probleme zu identifizieren, ist vielleicht die größte Herausforderung für einen Designer. Redesign funktioniert nicht, wenn es das falsche Problem behandelt oder dort ansetzt, wo gar keins war. Während Fortschritt Veränderung zur Folge hat, bedeutet Veränderung nicht notwendig Fortschritt. Doch ein Redesign, das sich dem richtigen Problem auf intelligente Weise nähert, macht die Welt ein Stückchen besser."

Außerdem: Nikil Saval schaut sich auf Amerikas öffentlichen Plätzen um und fragt, ob sie wirklich öffentlich sind. Rob Walker überlegt, ob die Crowd als Designer taugt. Paola Antonelli stellt sechs nicht ganz einfache Neuentwürfe vor, u. a. für die Toilette und für das gute alte Flügelhemd. Und Yiren Lu verrät, warum es so schwierig ist, für den öffentlichen Sektor zu designen.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Redesign, Design, Logo, Toilette