Magazinrundschau

Dort leben die Unsichtbaren

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
21.02.2017. Harper's berichtet vom Treffen des World Congress of Families, auf dem sich westliche Schwulenfeinde von östlichen trösten ließen. In El Pais Semanal träumt Valeria Luiselli von maßgeschneiderten Landkarten. Die LARB trauert dem metaphysischen Abgrund der osteuropäischen Literatur hinterher. In Ceska pozice sieht der israelische Historiker Yuval Noah Harari schon die nächste große Ungleichheit voraus - die bioglogische. Wired sucht Wege aus der Krise des Journalismus.

Harper's Magazine (USA), 01.03.2017

In einer Reportage, die mit einiger Verzögerung veröffentlicht wird, berichtet Masha Gessen von einem gruseligen Treffen  des World Congress of Families (WCF) im Mai 2016 in Tiflis, bei dem sich eine ganz ähnliche Allianz aus Schwulenfeinden, Rassisten und Regierungsgegnern wie sie sich inzwischen auch in Donald Trumps Kabinett wiederfindet: "Bei diesem Treffen kommen die schlechten Nachrichten aus dem Westen: Neben mir bedauern sich Allan Carlson, der Gründer des WCF, und der ultrakonservative britische Anwalt Paul Diamond angesichts fortschreitender Transgender-Rechte in den USA und Großbritannien. Die Amerikaner, Briten und Westeuropäer, die hier auftreten, leben unter Belagerung. Sie sind nach Georgien gekommen, um Trost zu finden. Die Russen, Georgier und Polen verströmen Zuversicht. Polen hat erfolgreich die Abtreibung reglementiert und das Wort Gender aus den Schulen verbannt, Russland und Georgien sind dabei, ihren Krieg gegen Schwule und Lesben zu gewinnen. Levan Vasadze, der vermögende georgische Geschäftsmann, der 2016 den WCF nach Tiflis brachte, ist ein früherer Rugby-Spieler. Alexej Komow, ein Russe, der den WCF bei der UNO vertritt, versprüht diese Art gepamperter Gesundheit, die nur Geld kaufen kann. Vater Josiah wartet nicht, bis Komow zu ihm kommt, sondern springt begeistert auf, um ihn zu begrüßen."

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.02.2017

Sehr kritisch sieht der Schriftsteller und ehemalige Vorsitzende des ungarischen Schriftstellerverbandes Iván Sándor das vor kurzem angekündigte, jedoch nicht konkretisierte Regierungsvorhaben, für die Pflege des Nachlasses von Imre Kertész eine Milliarde Forint (ca. 3,25 Millionen Euro) für eine neue Stiftung unter der Leitung der umstrittenen Historikerin Maria Schmidt (Haus des Terrors) bereitzustellen. "Abgesegnet hat das Milliardenprojekt kurz vor ihrem Tod seine seit Jahren ebenfalls todkranke Witwe. Ich weiß nicht, wer ihr an ihrem Sterbebett dieses Projekt vorstellte, das dem Willen ihres Mannes entgegen steht. Ich weiß nicht, wer die zwei Zeugen waren. Doch moralisch und in ihrer Konsequenz halte ich die Übertragung für inakzeptabel und ungültig, solange nicht ein Dokument mit der beglaubigten Unterschrift von Imre Kertész auftaucht, in dem er die Entscheidung, seine Arbeiten der Obhut der Berliner Akademie zu übertragen revidiert."

New Yorker (USA), 21.02.2017

"Hollywood versucht sich heute, einem geteilten, verängstigten Land anzudienen, das nicht mehr von Hippies polarisiert wird, sondern von Identitätsfragen", schreibt Michael Schulman, der anlässlich der Oskar-Verleihung am 26. Februar in der neuen Ausgabe des New Yorker über Hollywoods Probleme mit der Multikulturalität nachdenkt. Das ganze Problem in einer Nussschale bekommt man in diesem kurzen Gesprächsausschnitt mit dem Produzenten Allan Glaser und seinem Lebenspartner, dem 85-jährigen Schauspieler und Academy-Mitglied Tab Hunter serviert, der mit schlecht erwogenen Worten fürchtet, "emeritiert" zu werden: "Als er erstmals die Antwort der Academy auf #OscarsSoWhite hörte, 'sagte ich nur zwei Worte', erzählt mir Hunter. 'Bull. Shit.' (Zu der Zeit erklärte er dem Hollywood Reporter: 'Es ist ein kaum verschleierter Versuch, ältere weiße Mitglieder, die das Rückgrat der Industrie sind, rauszukicken.') 'Was mich wirklich nervt', fügt Glaser hinzu, 'ist, dass das ganze Ding von Jada Pinkett angezettelt wurde. Ich meine, wer ist sie? Sie ist kein Filmstar. Als sie sagte, 'Oscars so white, da geh ich nicht hin, dachte ich, 'ok, fein'. Hunter nickt. 'Meiner Meinung nach war das eine Überreaktion', sagt er. 'Wenn es keine Rolle für einen Chinamann gibt, dann gibt es keine Rolle für einen Chinamann!'"

Außerdem: Nicholas Schmidle überlegt, was die Abdankung Michael Flynns über Trumps Stil aussagt. Lauren Collins folgt Kindern auf ihrer einsamen Flucht nach Europa. Vinson Cunningham fragt, ob ein einzelner Kongressabgeordneter Amerikas Demokraten nach links bewegen und gegen Trump positionieren kann. Alex Ross hörte Kate Sopers Oper "Ipsa Dixit", die auf der Poetik des Aristoteles beruht. Und Hilton Als spürt den Camp-Elementen in Andrew Lloyd Webbers mit Glenn Close inszenierter Musical-Adaption von "Sunset Boulevard" nach.
Archiv: New Yorker

El Pais Semanal (Spanien), 19.02.2017

Die in New York lebende mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli schreibt über die an den Wänden ihres Arbeitszimmers hängenden Karten der amerikanisch-mexikanischen Grenze: "Auf einer zeigen rote Punkte die Stellen an, wo in der Wüste von Arizona Leichen von Migranten gefunden wurden. Auf einer anderen sind die bereits bestehenden 500 Kilometer der Mauer zu sehen, die Donald zu errichten verspricht - Bill und George haben ihm die halbe Arbeit bereits abgenommen. Am schrecklichsten ist aber ein aus dem Internet ausgedrucktes 'maßgeschneidertes' Exemplar der 'Custom Maps of Migrant Mortality'. Gibt man im Suchfeld der entsprechenden Seite einen Namen ein, erscheint, falls die Überreste des Betreffenden tatsächlich gefunden wurden, ein roter Punkt auf einer Satellitenkarte samt allen dazu vorhandenen Informationen. Auf meiner Karte ist so der Tod von Josseline Hernández verzeichnet. Alter: 14. Todesursache: verdurstet. Koordinaten: N 31' 34.35 W 111' 10.52. Was für Karten es wohl in 20 Jahren geben wird? Marskolonien? Dekodifizierte Genomregionen? Noch nicht von der Gedankenpolizei der sozialen Netzwerke überwachte Gebiete? In jedem Fall sorgen wir Schritt für Schritt, Stimme für Stimme, Tweet für Tweet für ihre 'maßgeschneiderte' Entstehung."
Archiv: El Pais Semanal

LA Review of Books (USA), 20.02.2017

Osteuropa, seufzt Jacob Mikanowski, ist dabei zu verschwinden - natürlich nicht geografisch, sondern als Idee, als Raum der Verzweiflung. "Einmal fiel mir eine polnischen Anthologie 'Verfemter Dichter' in die Hände und ich blätterte etwas gelangweilt durch die sich wiederholenden Geschichten von Alkoholismus, Verwahrlosung, Unbehaustheit und Selbstmord. Aber dann stellte ich fest, dass sich die Sammlung über vier Bände erstreckte, und realisierte, dass ich vor einem metaphysischen Abgrund stand. Aber verbindet denn wirklich etwas die osteuropäische Literatur, abgesehen von Unbekanntheit, Seltsamkeit und Unglück? Ich glaube schon, und dabei handelt es sich um einen echten Import in die Weltgeschichte... Im westeuropäischen Roman, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, geht es um die Spannung zwischen den seelischen Antrieben und den Beschränkungen bürgerlicher Sitten. Seine Figuren bewegen sich in einem magischen Quadrat aus Ehrgeiz, Begehren, Eigentum und Ehebruch. Der amerikanische Roman dagegen zeigt in der Regel Männer und Frauen, die von der immensen Freiheit und Zahl von Möglichkeiten schier überwältigt werden in ihrer kleinen Existenz. Er dreht sich um Flucht, Ausstieg, Emanzipation und Wandel von Identität. In der osteuropäischen Literatur geht es um die Launen des Schicksals, die Unentrinnbarkeit der Geschichte und die allgemeine Absurdität des Lebens. Sie wurde geformt durch eine Abfolge plötzlicher Wendungen, gescheiterter Bemühungen und unheilvoller Überraschungen. Das osteuropäische Erbe des Beherrschtwerdens, der Unterdrückung und des unerwarteten Terrors reicht so tief und bestimmt seine Autoren so nachhaltig, dass es in eine eigene Idee des Bewusstseins und eine eigene erzählerische Form geflossen ist."

Ceska pozice (Tschechien), 19.02.2017

Přemysl Houda führt ein hochinteressantes, langes Gespräch mit dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari über Fragen des liberalen Humanismus, der Moral und die Zukunft der Menschheit. Laut Harari werden Biotechnologien im 21. Jahrhundert die Welt verändern. Zum Beispiel werden sie in den kommenden Jahrzehnten radikal das menschliche Leben verlängern, mit noch unabsehbaren Folgen für die Gesellschaft: Ein so langlebiger Mensch werde sich ständig neu für den Arbeitsmarkt qualifizieren müssen. Er werde, je länger er lebe desto weniger bereit sein, Risiken einzugehen. Und auch die Familienstrukturen würden sich verändern: "Was wird es für eine 120-jährige Frau bedeuten, dass sie irgendwann um die Vierzig zwei oder drei Kinder zur Welt gebracht hat? Wird das nicht nur eine ferne Erinnerung für sie sein? Schwer vorauszusehen, wie unter solchen Bedingungen die Beziehung zwischen Eltern und Kindern aussehen wird." Freilich werden die Möglichkeiten, das eigene Leben zu verlängern, "nicht allen acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten zugänglich sein. Am Ende des 21. Jahrhunderts könnte die Gesellschaft die größten Ungleichheiten in ihrer Geschichte aufweisen. Erstmals wird sich zwischen Ländern und Klassen womöglich eine biologische Kluft auftun."
Archiv: Ceska pozice

Wired (USA), 14.02.2017

In einem Themenschwerpunkt befasst sich Wired mit der Krise des Journalismus - und Strategien, die daraus hinaus führen können. Gabriel Snyder hat sich bei der New York Times umgesehen, die ihren Betrieb derzeit für eine Zukunft einrichtet, in der sich auch ohne Printausgabe das journalistische Niveau halten lässt: "Das Hauptziel besteht nicht einfach nur darin, die Werbeeinnahmen zu maximieren - eine Strategie, die bei Neulingen wie Huffington Post, Buzzfeed und Vox die Stromrechnung zahlt und die Inhalte gratis macht. Vielmehr geht es darum, die Digitalabos der Times zur tragenden Säule eines Milliarden-Dollar-Business zu wandeln, um die Reporter in 174 Ländern zu bezahlen, falls (OK, wenn) die Druckerpresse für immer still stehen. Um dies zu erreichen, verfolgt die Times einen ambitionierten Plan nach Vorbild von Netflix, Spotify und HBO: Einerseits in ein Kernprodukt investieren (im Fall der Times also Journalismus), während man andererseits stetig neue Onlinedienste und -features anbietet (von persönlich zugeschnittenen Fitness-Ratgebern und interaktiven Newsbots bis zu Virtual-Reality-Filmen), sodass der Abschluss eines Abos für die Lebensgestaltung bereits bestehender Abonnenten unverzichtbar wird und für künftige attraktiv."

Von der Finanzierung zur Praxis, bzw. Effizienzsteigerung: Jeo Keohane berichtet von den Fortschritten im Bereich automatisierter Berichterstattung, die insbesondere in datenintensiven Bereichen zum Einsatz kommen, auf bedenkenswerte Anomalien in der Datenlage hinweisen oder Redakteure auf Versäumnisse in der eigenen Berichterstattung hinweisen kann. Die 2013 von Amazon-Gründer Jeff Bezos übernommene und seitdem vermehrt mit digitalen Technologien experimentierende Washington Post erprobt derzeit die Einsatzmöglichkeiten eines Tools namens "Heliograf". Dabei gehe es nicht darum, menschliche Reporter zu ersetzen, sondern darum, deren Arbeitszeit produktiver zu nutzen: "Indem Heliograf sie davon freistellt, andauernd die in Echtzeit eintrudelnden Ergebnisse abzudecken und aufzuarbeiten, haben sie den Raum, auf die Geschichten zu fokussieren, für die tatsächlich menschliche Gedankenleistung vonnöten ist. ... Etwa bei Wahlergebnissen: Im November 2012 brauchte es vier Angestellte, um in 25 Stunden gerade mal einen Teil der Wahlergebnisse per Hand zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Im November 2016 erstellte Heliograf ohne viel menschliche Hilfe mehr als 500 Artikel, die mehr als 500.000 mal geklickt wurden."

Samanth Subramanian erklärt, wie eine Gruppe skrupelloser Internet-Kids in entlegenen mazedonischen Regionen Fake-News-Clickbait erstellen und damit im vergangenen US-Wahlkampf binnen weniger Monate sehr ansehnliche Beträge über Google-Werbung einfahren konnten. Politische Überzeugungen spielten dabei keinerlei Rolle, nur auf die Größe der Unterstützer der jeweiligen Lager und deren Wille, Postings zu teilen, kam es an: "Im Juli experimentierte man eine Woche lang mit Fake News, die Bernie Sanders loben sollten. 'Sanders-Fans zählen zu den klügsten Menschen, die ich kenne', sagt ein Betreiber, 'Die glauben gar nichts. Da muss jedes Posting belegt werden können.'"

Weiteres: Jason Tanz befasst sich mit dem Phänomen, dass die Medien in den 80ern noch für ihr Diskursmonopol kritisiert wurden, während heute alle vor den Gefahren warnen, die darin liegen, dass die Zugangsschwellen zur Öffentlichkeit heute so niedrig wie nie zuvor sind. Carl Brooks Jr. stellt kurz Blavity vor, ein News-Startup, das sich an junge Schwarze richtet. Edward Snowden unterstützt Reporter beim Schutz ihrer Quellen, erfahren wir von Andy Greenberg.
Archiv: Wired

HVG (Ungarn), 08.02.2017

Immer mehr Rumänen - vor allem aus der Mittelschicht wandern ins Ausland ab, erzählt die in Siebenbürgen lebende ungarische Journalistin Boróka Parászka vor dem Hintergrund der anhaltenden Massendemonstrationen gegen die rumänische Regierung. "Unweit von den Großstädten fängt das ländliche Rumänien an: Hoffnungslosigkeit und Verödung. Dort leben die Unsichtbaren, die Armen, die Ungebildeten und Alten. Die Demonstranten in den Großstädten halten sie für Wähler der korrupten Regierung - und beschimpfen sie. (...) Es wird kaum Abhilfe geben, denn das eigentliche Problem erhielt nie einen exakten Namen: meistens wird es pauschal als Korruption beschrieben. Ein gnadenloser Kampf mit zunehmenden nationalistischen, antidemokratischen und stigmatisierenden Episoden, eine Reihe von Abrechnungen. Heute jedoch läuft noch das Fest der Demokratie. Wir sollen uns darüber freuen, solange es noch erlaubt ist."
Archiv: HVG
Stichwörter: Rumänien, Mittelschicht, Hvg

New York Times (USA), 19.02.2017

In der aktuellen Ausgabe des New York Times Magazine spürt Rachel Cusk den eisigen Wind unfreundlicher Zeiten, nicht nur in ihrer Heimat Großbritannien. Was bedeutet Höflichkeit, wenn die Grobheit um sich greift? "Sind Menschen unhöflich, weil sie unglücklich sind? Ist Unhöflichkeit wie Nacktheit, ein Zustand, der den Takt und das Erbarmen der Bekleideten nötig hat? Wenn wir höflich zu Unhöflichen sind, geben wir ihnen vielleicht ihre Würde wieder, auch wenn die Art des Unhöflichen eine Herausforderung an das zivilisierte Benehmen darstellt. Es handelt sich um einen Akt der Enthemmung. Wie ein Narkoticum bietet er die Befreiung von Kerkermeistern, die niemand sonst sehen kann. Unhöflichkeit spielt häufig eine Rolle im moralischen Aufbau eines Dramas: Sie ist das äußere Zeichen einer inneren oder unsichtbaren Katastrophe. Unhöflichkeit selbst ist nicht die Katastrophe. Sie ist der Bote, nicht die Erscheinungsform des Bösen."

Außerdem: Robert Draper überlegt, was mit Obamacare passieren wird. Jonah Weiner lauscht dem neuen Sound der nunmehr als Soloprojekt firmierenden Dirty Projectors. Und Elizabeth Royte stellt uns den Kompost-König von New York vor, der aus Abfall viel Geld macht.
Archiv: New York Times