Magazinrundschau

Austern, Weintrauben und Amphetamine

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
18.04.2017. Die Paris Review grübelt beim Anblick von Carson McCullers, Marilyn Monroe und Isak Dinesen beim Lunch über das Wesen weiblichen Heldentums. Der New Yorker schildert den Zusammenhang zwischen bürgerlichen Werten und Barbecue. Was Demokraten von Berlusconi lernen können, weiß Linkiesta.

Paris Review (USA), 11.04.2017



In ihrer Kolumne für die Paris Review denkt Megan Mayhew Bergman über die Heldin nach. Wo kommt sie her, was zeichnet sie aus? Anlass ist ein wunderbares Foto von einem Mittagessen 1959 im Haus der Schriftstellerin Carson McCullers. Mit am Tisch: Marilyn Monroe, Isak Dinesen (auch bekannt als Tania Blixen) und Arthur Miller. "Carson trägt schwarz und eine deprimierte Haltung. Marilyn, in Pelz und tiefem Dekolletee, erzählt eine Geschichte, wie sie Pasta mit einem Fön fertig kochte. Isaks Wangenknochen stellen sich unter dem Saum ihres Turbans selbst vor. Sie erinnert sich an den ersten Löwen, den sie getötet hat, isst an diesem Tag wenig mehr als Austern, Weintrauben und Amphetamine. Acht Jahre später sind sie alle tot. Für mich verkörpert dieses Bild die gebrochene Natur der Weiblichkeit: etwas Sinnliches, Intellektuelles und Eigensinniges, das in einem einzigen Körper existiert." 
Archiv: Paris Review

Eurozine (Österreich), 07.04.2017

Es fehlt bekanntlich eine europäische Öffentlichkeit. Der Autor André Wilkens (ehemals Mitarbeiter der Soros-Stiftung) und der Europa-Politiker Jakob von Weizsäcker  haben neulich bei Spiegel online die Gründung eines großen European Broadcasting Service, also eines europaweiten öffentlich-rechtlichen Senders vorgeschlagen, der in 24 Sprachen funktionieren soll. Dagegen verwahren sich in Eurozine Carl Henrik Fredriksson und Roman Léandre Schmidt, die statt dessen einen Graswurzel-Ansatz vorziehen und eine europäische Förderung bereits bestehender Medien in Europa vorschlagen, die sich für europäische Themen öffnen sollen: "Europäische Institutionen sollten sich bis 2019 auf ein intelligentes System der Unterstützung bereits bestehender Medien einigen, die vom Publikum in ihren Ländern bereits geschätzt werden und ihre Arbeit europäischer ausrichten sollen. Genau in jenen Ländern, wo unabhängige Arbeit nur unter großen Schwierigkeiten möglich ist, gibt es keine andere Option, als lokale Initiativen zu unterstüzen und ihre Einbeziehung in europäische Netzwerke zu fördern. Die Entscheidung über diese Förderungen sollten einer unabhängigen Behörde obliegen."
Archiv: Eurozine

New Yorker (USA), 24.04.2017

Die neue Ausgabe des New Yorker widmet sich dem Essen und dem Reisen. In einem Artikel des Dossiers erklärt Lauren Collins die politischen Implikationen des American Barbecue: "Es handelt sich um das wohl politischste aller Essen, und es war immer ein soziales Event, Entertainment für die Gemeinde … Ein ganzes Schwein macht hundert Leute satt. Barbecues, oft am vierten Juli abgehalten, bekamen im 19. Jahrhundert ihre politische Note. Wie es in Robert F. Moss' 'Barbecue, Geschichte einer amerikanischen Institution' heißt, waren sie demokratische öffentliche Feiern, auf denen Menschen aller sozialen Schichten sich ihrer bürgerlichen Werte versicherten. Der Ablauf war ritualisiert: Parade, Gebet, Lesung der Unabhängigkeitserklärung, Ansprachen und schließlich gemeinsames Essen an einem schattigen Ort in der Nähe einer Quelle, nach dem Honoratioren Trinksprüche aufgesagt hatten, viele davon mit patriotischen Themen, gefolgt von den Trinksprüchen der Bürger zum Tagesgeschehen. Oft uferte es aus. Wenn ein Vorkriegspolitiker vorgehabt hätte seine Leute für den Bau einer Mauer zu begeistern, hätte er es auf einem Barbecue getan."

Außerdem: Rachel Monroe berichtet von einer weiteren Vermarktung des gut gemeinten Versuchs, einfach zu leben: Vanlife. Lizzie Widdicombe probiert Gourmet-Haschkekse. Daniel Mendelsohn erzählt von einer Reise mit seinem Vater auf Odysseus' Spuren. Und Newsha Tavakolian stellt seine Heimat Iran als Reiseland vor.
Archiv: New Yorker

Linkiesta (Italien), 18.04.2017

Francesco Cancellato inspiziert noch einmal all die (gar nicht falschen) Argumente der Berlusconi-Kritiker wie Indro Montanelli und Umberto Eco gegen das Regime des Cavaliere. Und vergleicht sie mit all den Argumenten der heutigen Kritiker Beppe Grillos - es sind nicht die selben Autoren, aber die selben Argumente, findet er. Vor allem macht man sich lustig über die Anhänger der Populisten, die vom Fernsehen (bei Berlusconi) oder vom Internet (bei Grillo) hirngewaschen worden seien. Und das Resultat dieser tiefschürfenden Kritik? "Der Anti-Berlusconismus hat zwanzig Jahre  berlusconische Herrschaft herbeigeführt. Wenn dem so ist, müssten die Grillo-Kritiker eigentlich ihre Strategie ändern. Dieser schrieb in seinem Buch 'Regime': 'Ich möchte eine politische Bewegung schaffen, die zunächst erstmal eine Million Menschen aufrühren soll. Ich werde sie 'Die Wut des Volkes' nennen. Dann möchte ich mal sehen, wie das noch ignoriert werden soll. Und vor allem, wie sie das zensieren wollen.' Vielleicht ist er der einzige wirkliche Erbe des Cavaliere. Der einzige zumindest, der verstanden hat  - und das noch im unschuldigen Jahr 2005 - wo das Geheimnis der Langlebigkeit des Berlusconismus lag: in seinen Feinden."
Archiv: Linkiesta

The Ringer (USA), 10.04.2017

Was in den Neunzigern wagemutige Filmverleiher wie Miramax leisteten, die seinerzeit auf den Festivals reihenweise Indie-Filme einkauften, ihre Schützlinge ins Rampenlicht brachten und damit die Karrieren zahlreicher, heute namhafter Regisseure beförderten, erledigen heute Netflix und Amazon, die junge Talente auf den Festivals aufklauben und ihnen gesicherte Arbeitsbedingungen bieten. So lautet zumindest die Außendarstellung der beiden IT-Konzerne, die derzeit gezielt auf Wachstum ihres Exklusivangebots drängen und damit neue Talente, aber auch aus dem Mittelbau Hollywoods vertriebene Filmemacher an sich binden. Was für den Nachwuchs im einzelnen mittelfristig von Vorteil ist, könnte sich für die Filmkultur langfristig als Boomerang erweisen, schreibt allerdings Sean Fennessey in einer ausführlichen Hintergrundreportage für The Ringer (einem Magazin, das zu seinem Start im Jahr 2016 allerdings von HBO, also einem direkten Marktkonkurrenten der großen Streamingdienste, finanziert wurde): "'Jetzt gerade gibt es ein Fenster, in dem alle versuchen, ihr Programm anzudicken, aber irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem Amazon genügend Titel im Programm hat und dann kümmern sie sich nur noch um die großen Titel', erzählte mir Produzent Chris Moore, dessen Film 'Manchester by the Sea' von Amazon finanziert und verliehen wurde. 'Und wenn Du ein Abonnent von Amazon Prime bist, ihrem Kerngeschäft, was sollte es Dich da jucken, ob sie nun 50.000 Filme im Angebot haben oder 6 Millionen? Solange Du aus diesen 50.000 das ziehen kannst, was Dich interessiert, was kümmern Dich da die restlichen 5 Millionen, nicht wahr?'"
Archiv: The Ringer

La vie des idees (Frankreich), 14.04.2017

Sehr interessant liest sich, wie Korine Amacher die Geschichte des russischen Gedenkens an die Oktoberrevolution seit dem Mauerfall und dem Kollaps der Sowjetunion erzählt. Dem Putin-Regime, das die leiseste Regung gegen die eigene Stabilität gnadenlos verfolgt, muss es ein wahres Kopfzerbrechen bereiten, diesen Bruch mit dem Zarenreich in eine Erzählung der nationalen Größe einzubetten. Laut Amacher geben die Schulbücher Aufschluss darüber, wie der offizielle Diskurs am 7. November lauten könnte: Dort "wird die tragische Dimension des Bürgerkriegs unterstrichen, aber die Bücher  bestehen zugleich darauf, dass Russland aus dieser 'großen Tragödie' noch stärker als zuvor auferstanden sei, indem es zur Sowjetunion wurde. In diesem Schema muss man keine Schuldigen mehr benennen oder sich allzu sehr auf die verschiedenen politischen Visionen einlassen. 'Weiße' wie 'Rote' haben für ein starkes Russland gerungen, das die Weißen als Zarenreich und die Roten als Sowjetunion wollten."

Lesenswert auch Jean Marcous Besprechung von Odile Moreaus Studie über die Türkei im Ersten Weltkrieg, "La Turquie dans la Grande Guerre, de l'Empire ottoman à la République de Turquie".
Stichwörter: Oktoberrevolution, Mauerfall

Guardian (UK), 18.04.2017

Mit seinem Schlachtruf "Wir lieben den Tod wie ihr das Leben", hat Mohamed Merah bei seinm Attentat in Toulon 2012 den Nihilismus der europäischen Dschihadisten zum Ausdruck gebracht, meint Olivier Roy, der darin eine Art Jugendbewegung sieht, die sich unabhängig von der Religion und Kultur der Eltern entwickelt hat: "Der Hass einer Generation nimmt immer auch die Form eines kulturellen Ikonoklasmus an. Nicht nur Menschenleben werden zerstört, sondern auch Statuen, Heilige Stätten und Bücher. Das Gedächtnis wird ausgelöscht. Die Vorstellung der 'Tabula rasa' ist Mao Zedongs Roten Garden, den Roten Khmer und den Isis-Kämpfern gemein. Alle Revolutionen leben von der Energie und dem Eifer junger Menschen, die meisten wollen jedoch nicht alles Vorangegangene zerstören. Die Bolschewisten entschieden, die Geschichte ins Museum zu stecken, und die revolutionäre Islamische Republik des Iran hat niemals daran gedacht, Persepolis in die Luft zu sprengen. Die selbstzerstörerische Dimension hat nicht mit der Politik des Mittleren Ostens zu tun. Als Strategie ist sie kontraproduktiv. Auch wenn sich Isis die Wiedererrichtung des Kalifats auf die Fahnen schreibt, macht es sein Nihilismus unmöglich, eine politische Lösung zu finden, in irgendwelche Verhandlungen zu treten oder eine stabile Gesellschaft in anerkannten Grenzen zu erreichen. Das Kalifat ist eine Fantasie. Es ist der Mythos einer ideologischen Einheit, die ihr Territorium immer weiter ausdehnt. Seine strategische Unmöglichkeit erklärt, warum seine Anhänger einen Pakt mit dem Tod eingehen, anstatt den Interessen der Muslime vor Ort zu dienen. Es gibt keine politische Perspektive, keine helle Zukunft, nicht einmal einen Ort, in Frieden zu beten."
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.04.2017

Lange wartete die Öffentlichkeit auf das neue Buch von Péter Nádas ("Világló részletek", Aufleuchtende Details), die Erinnerungen des Schriftstellers an seine ersten 14 Lebensjahre von 1942 bis 1956. Im Interview mit Csaba Károlyi spricht Nádas unter anderem über Erinnerungskonstruktionen und Identität sowie über Fiktion und Wirklichkeit. "Selbst an Dialoge aus der Kindheit erinnert sich der Mensch. Ich bedauere es sehr, doch meine Erfahrung ist - und diese Erfahrung wurde durch das Erlebnis des klinischen Todes nur verstärkt - dass sich der Mensch an alles erinnert. Nur erinnert er sich nicht in allen Situationen an alles. (...) Wenn er sich erinnert, wählt er eine Richtung und lotst so die Geschichte. Hierfür hat Freud einen sehr essentiellen Wegweiser: Warum zum Beispiel ein Traum nicht aufgeschrieben werden darf. Was auch für Erinnerungsbilder gilt. Ein Bild kann sowieso nicht auf- oder niedergeschrieben werden. Wenn wir es beschreiben, wird es zur Fiktion. In diesem Sinne ist auch mein Text Fiktion, obwohl ich danach strebte, der Vorstellungskraft keinen Raum zu geben. Doch die Wirklichkeit hat immer wesentlich mehr Segmente als wir überhaupt wahrnehmen oder verfolgen können. Gerade das beschäftigte mich, die unerschöpfliche Vielfarbigkeit und Vielfältigkeit der Phänomene."

New York Times (USA), 16.04.2017

In der aktuellen Ausgabe des New York Times Magazines fragt sich der Historiker Rick Perlstein, ob seine Zunft Amerikas Rechte vielleicht verkannt hat, hatte sie doch eine Präsidentschaft Trumps nicht für möglich gehalten: "Trumps Verbindung zur rechten Genealogie (von Ku Klux Klan bis zur Christian Front, d. Red.) ist nicht nur rhetorischer Art. 1927 lieferten sich in Queens tausend kapuzentragende Klansleute eine Schlacht mit der Polizei. Einer der dort Festgenommenen war Trumps Vater Fred. In den 1950ern schrieb Woody Guthrie, damals Bewohner des Wohnkomplexes, den Fred Trump bei Coney Island errichtet hatte, einen Song über 'Den alten Trump' und den Rassenhass, den er entzündet hatte. 1973, als Vater und Sohn Trump zusammenarbeiteten, waren beide wegen Diskriminierung angeklagt. Schwarzen Bewerbern war der Wohnraum verweigert worden. Im New York der Sechziger und Siebziger, in dem Donald Trump sich entwickelte, im vom Klan beherrschten Indiana der 1920er sowie in Barry Goldwaters Arizona der Fünfziger war der Konservatismus ganz vorne und setzte den emotionalen Ton einer Politik des Zorns."



Außerdem: Jonah Weiner stellt das neue Album der neuseeländischen Sängerin Lorde vor. Suzy Hansen berichtet aus der Türkei - vom Leben in einer sehr zerbrechlichen Demokratie. Und Willy Staley trifft den Autor und Regisseur Mike Judge ("Idiocracy", "Silicon Valley").
Archiv: New York Times