27.06.2017. Die akademische Linke braucht endlich Gewerkschaftsmuskeln, ruft The Baffler. Und muss sich dem Konflikt von Rasse und Klasse stellen, ergänzt The Atlantic. In Novinky erklärt der Historiker Roger Griffin, warum Teile der Avantgarde dem Faschismus verfielen. Tablet und der New Yorker schildern die Verfolgung iranischer und tschetschenischer Homosexueller. Die Jungle World taucht ins Drogenmilieu Sao Paulos. Der Guardian staunt über die monströsen Profite der großen Wissenschaftsverlage.
The Baffler, 30.06.2017

Der kaum bemerkte Frauenstreik gegen Donald Trump und der höchst effektive Streik der Taxifahrer gegen Trumps Einreisegesetze hat Amber A'Lee Frost
zwei Dinge gelehrt:
die akademische Linke zerlegt sich gerade in immer mikroskopischere Einzelteile. Wenn sie erfolgreich sein will, braucht sie "
radikale,
militante Gewerkschaften mit einer politischen Vision, die über den Schutz der eigenen Position hinausgeht. Als das Verbot für Einreisende aus muslimischen Ländern verkündet wurde, wandten sich die [oftmals aus muslimischen Ländern kommenden] Taxifahrer der
NYTWA sofort an ihre Gewerkschaft, weil sie wussten,
wie man kämpft. Genau dafür braucht man Gewerkschaften. Wir müssen Arbeitsbündnisse aufbauen und richtige Streiks organisieren, was schlicht bedeutet, wir müssen
alles lahm legen, bis wir unser Ziel erreicht haben. Manchmal wird das illegal sein. Manchmal werden Arbeiter draußen schlafen und ihre Arbeitsplätze besetzen müssen. Manchmal werden sie Maschinen sabotieren müssen oder den
Boss einschüchtern. Vielleicht können wir derzeit bei lokalen Wahlen kleine Gewinne einfahren, aber obwohl Bernie Sanders derzeit der beliebteste Politiker ist, scheinen die Demokraten versessen darauf zu sein, Gewinner zu vergraulen und Looser aufzustellen. Wenn wir jemals wieder politische Macht gewinnen wollen, brauchen wir
Gewerkschaftsmuskeln."
Slate.fr, 26.06.2017

Jean-Laurent Cassely et Jean-Marie Pottier
stellen das Buch "The Complacent Class" des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers
Tyler Cowen vor. Er entwirft darin ein Bild seines Landes, in dem die Selbstzufriedenheit
führender Akteure dazu führt, dass es der
Fortschrittsfeindlichkeit und Unbeweglichkeit erliegt. Die Rezensenten überlegen, ob sich dieser Befund auch auf Frankreich übertragen lasse: "Auch auf kultureller Ebene neigen die Franzosen dazu, sich in Gruppen sozial Gleichgestellter zusammenzuschließen, ein
Phänomen der Abschottung und des Rückzugs, das sich keineswegs nur auf die Minderheit hoch Privilegierter beschränkt, die in abgesicherten Vierteln leben. In einem Bericht von 2012 beschreibt Louis Maurin, Leiter des Observatoire des inégalités, einen Prozess der 'wachsenden kulturellen Absonderung, basierend auf dem
Bildungsabschluss'. Die mit den höchsten Abschlüssen konzentrieren
sich zunehmend in einigen Städten und Stadtvierteln, während andere Gebiete mit weniger gut dadurch ebenfalls homogener werden." Bei
npr.org findet sich ein Interview mit Cowen zum Thema.
Für einen sehr instruktiven Hintergrundartikel
hat sich Boris Bastide sämtliche Eigenproduktionen von
Netflix angesehen (die übrigens nur selten reale Eigenproduktionen und meist exklusive Vermarktungen sind) und erforscht auch die
Strategie des neuen Akteurs, der sowohl für die Kinohäuser wie für Fernsehsender eine unheimliche Konkurrenz darstellt. Dazu gehört etwa die
Vorliebe für Dokumentarfilme: "Für Netflix ist dieses Experimentierfeld aus verschiedenen Gründen besonders interessant. Die Kosten sind in der Regel geringer als bei Fiktion, und der Markt ist
völlig zersplittert. 'Außer in sehr großen Städten zeigt kein Kino in den USA Dokumentarfilme', analysiert Thomas Sotinel, Filmkritiker bei Le
Monde. Aber Netflix ist überzeugt, dass dennoch Nachfrage existiert."
Film-Dienst, 17.06.2017

Im
Filmdienst setzt Filmkritiker Patrick Holzapfel (der auch für den
Perlentaucher schreibt) seine vom
Kracauer-Stipendium ermöglichte Essayreihe über die
Zukunft des Kinos mit der dritten Lieferung fort (hier
Teil 1 und
Teil 2). Diesmal umkreist er die Frage nach dem
revolutionären Gestus des Kinos, der in den Glanzzeiten des Autorenkinos noch selbstverständlich war, heute aber unerwünscht zu sein scheint. Das Kino müsse wieder mehr auf sich selbst vertrauen, fordert er: "Wie Danièle Huillet einmal in einem von Peter Nestler gefilmten Publikumsgespräch sagte: Die Waffe des Kinos ist die
Zeit. Und welch eine wundervolle, stille Waffe das ist. In der Zeit, die man sich für einen Film nehmen kann, und die sich ein Film erlauben kann zu nehmen, liegt ein ungeheures
Potenzial zur Veränderung. Ist es nicht etwa so, dass die Existenz eines der langen Filme von
Lav Diaz wie 'The Woman Who Left', der große Aufmerksamkeit durch den
Goldenen Löwen beim Festival in Venedig erhielt, schon an sich
ein Wunder und ein Angriff ist? Wenn im Widerständigen immer eine Idee des Durchbrechens bestimmter Muster liegt, dann verbirgt sich doch im Kino selbst ein Durchbrechen der Zeitwahrnehmung unseres Alltags."
London Review of Books, 26.06.2017

Die
Bohème war kein guter Ort für Frauen,
seufzt Rosemary Hill und erzählt die Geschichte der
Ida Nettleship, die - Künstlerin und Frau des Malers Augustus John - mit 30 Jahren bei der Geburt ihres fünften Sohnes starb: "Wenn auch nicht alle der Schwindsucht erlagen, hätten es viele tun können. Als die '
neue Frau' in den 1890er Jahren 'bewaffnet Ibsens Hirn'
entsprang, wie Max Beerbohm schrieb, folgten ihre Lebensläufe einem Muster. In dem Wunsch, sich von sozialen und sexuellen Konventionen zu befreien und als Künstlerinnen unter Künstlern zu leben, fanden sie sich keineswegs in einer neuen Welt wieder, sondern in einem Spiegelbild der alten, mit noch
mehr Zwängen und weniger Komfort. Selten erfüllten sich die Hoffnungen auf eine Karriere. Der Mann der Bohème hat die Frau als
Muse und Modell verherrlicht, aber er fühlte sich auch von den bourgeoisen Verpflichtungen befreit, treu zu sein und Geld zu verdienen; nur selten war er allerdings so unkonventionell, sich um den Haushalt oder die Kinder zu kümmern. In der Bohème war eine Frau mit Kindern
genauso an den Herd gefesselt wie eine Rechtsanwaltsgattin, allerdings
ohne die Sicherheit und das Personal, über das ein Mittelstandshaushalt gebieten konnte. Und die Türen zu einem respektablen Leben waren ihr ein für alle Mal verschlossen."
Weiteres: Colin Kidd und Malcolm Petrie
fürchten nach dem Brexit um den Zusammenhalt des
multinationalen Britanniens. Greg Gardin
liest Ignacio Ramonets
Hugo-Chavez-Biografie.
Magyar Narancs, 08.06.2017

Im Gespräch mit Péter Urfi
beschreibt der Dichter und Schriftsteller
István Kemény die Veränderungen in der ungarischen Literatur: "Anfang der Zweitausender störte mich die
verkrampfte Ironie, die in der Literatur zu Pflicht geworden war wie das leere Pathos in der späten Kádár-Ära. Jetzt scheint es sich zu ändern, es gibt unzählige Richtungen. Die 'hohe Literatur' ist nur eine davon. Die Blogs, die Amateurschriftsteller finden ihr eigenes Publikum, und sie können nicht außer Acht gelassen werden. Das hat gute und schlechte Seiten, es begünstigt die großen Worte und diskreditiert sie erneut. Es kann nicht mehr - wie noch vor zehn Jahren - gesagt werden, dass Literatur so oder so ist, dass die ungarische Literatur zweigeteilt ist, in völkische und urbane, konservative und progressive usw.. Das geht nicht mehr, weil es
nicht zwei Kanons und zwei parallele Öffentlichkeiten gibt, sondern viele. Und sie sind an den anderen nicht interessiert. Ihnen geht es ohne die anderen, mit ihren Wahrheiten und ihren großen Worten immer besser."
New York Times, 25.06.2017

In der neuen
Ausgabe des
New York Times Magazines
schickt Sarah A. Topol eine Reportage über
Kindersoldaten in Nigeria, die von
Boko Haram gekidnappt worden und langsam ans Töten gewöhnt worden waren. "Über drei Wochen in diesem Winter sprach ich mit 25 Kindern aus der Borno-Region. Und obwohl es wahr ist, dass die Kindersoldaten machtlos sind, trafen alle Kinder
kleine Entscheidungen über ihr Überleben. Ich traf ein 16-jähriges Mädchen, das drei mal zwangsverheiratet worden war. Als ihr dritter 'Ehemann' ihr verkündete, er gehe nach Bama, die Stadt, aus der sie kam, traf sie blitzschnell die Entscheidung ihm vorzumachen, sie sei in ihn verliebt. Zum ersten Mal
lächelte sie ihn an und bat ihn, ihrer Mutter eine Nachricht zu überbringen. Er tat das zwei Mal, bevor er getötet wurde."
Nitsuh Abebe
erklärt Win-win für hoffnungslos outdated. Das neue Ding sei, der Wirklichkeit ohne Rücksicht auf Verluste seinen Willen aufzuzwingen, gleich zu welchem Zweck, der neue Präsident mache es vor: "Vor nicht allzu langer Zeit gab es in Amerika den Glauben an Dinge, von denen
alle profitieren. Konkurrierende Interessen konnten ausbalanciert werden, ohne dass jemand zu verlieren hatte. Dafür gab es den Business-Begriff 'win-win'. Obama, stets darauf bedacht, mit seiner Politik Konsens herzustellen, benutzte den Begriff für alles, von internationalen Beziehungen bis zur Solarenergie; 2014 bezeichnete er neue Benzinregelungen für Lkw sogar als 'win-win-win'. Davon ist neuerdings kaum noch die Rede. Einer der lautesten politischen Claims des letzten Jahres lautete: Alle Versprechungen von Ausgleich und einvernehmlichem Zielen sind in Wirklichkeit
schmachvolle Fallen, aufgestellt von Nutznießern, die sich über diesen Handel ins Fäustchen lachen. Also geht es neuerdings nur noch ums Gewinnen, ohne Harmonie der Interessen. Nutze deine Macht und Stärke oder
schleich'
dich."
Außerdem: Adam Shatz
porträtiert den ätherischen Jazzpianisten
Craig Taborn.
The Atlantic, 31.08.2017

Zwei große Artikel in
The Atlantic befassen sich mit dem Zustand der
amerikanischen Demokraten. Für Franklin Foer, der in einem
epischen Artikel die letzten 25 Jahre der Partei aufrollt, müssen sich die Demokraten ihr größtes Problem eingestehen: "Der Widerstand gegen Trump verschafft den Demokraten die Illusion der Einheit, aber in Wirklichkeit sind sie tief gespalten. Die beiden wichtigste Anliegen der Demokraten -
Rasse und Klasse - stehen sich mit wachsender Spannung gegenüber, einer Spannung, die größer wird, je näher die nächsten Präsidentschaftswahlen rücken."
Peter Beinhart
macht dieses Problem an der
illegalen Einwanderung fest. Heute neigten die Demokraten dazu, dieses Problem zu negieren. Für sie ist das Einwanderungssystem das Problem, nicht die Einwanderung. Aber noch vor zehn Jahren war die Einstellung dazu deutlich differenzierter: "2005 schrieb ein
linker Blogger: 'Illegale Einwanderung richtet verheerenden Schaden an, ökonomisch, sozial und kulturell. Sie verhöhnt das Gesetz und ist schändlich allein schon aus Gründen der grundlegendsten Fairness.' 2006 schrieb ein
liberaler Kolumnist, dass 'Einwanderung die Löhne der einheimischen Arbeiter mindert, die mit den Immigranten konkurrieren müssen'. Seine Schlussfolgerung: 'Wir müssen den Zustrom niedrig qualifizierter Einwanderer eindämmen.' Im selben Jahr schrieb ein
demokratischer Senator: 'Wenn ich bei Demonstrationen für Einwanderer mexikanische Fahnen wehen sehe, wallt in mir manchmal patriotische Ablehnung auf.' Der Blogger war
Glenn Greenwald. Der Kolumnist war
Paul Krugman. Der Senator war
Barack Obama. Prominente Linksliberale waren vor zehn Jahren nicht gegen Einwanderung. Die meisten schätzten die positiven Auswirkungen für die amerikanische Wirtschaft und Kultur. Sie unterstützten die Möglichkeit für die Illegalen, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. ... Aber anders als heutige Linksliberale gaben sie zu, dass, wie Krugman es ausdrückte, 'Einwanderung ein
sehr schmerzhaftes Thema ist ... weil es grundlegende Prinzipien zusammenstoßen lässt'."
Außerdem: Maryn McKenna
beschreibt die Suche des britischen Mikrobiologen Adam Roberts nach
Antibiotika in Komposthaufen, Schweinetrögen und Laptop-Keyboards. Und Parul Seghal
bespricht den neuen Roman von
Arundhati Roy.
Novinky.cz, 27.06.2017

Über das Verhältnis von
Avantgardekunst und Faschismus unterhält sich Ondřej Slačálek mit dem Oxforder Historiker
Roger Griffin, der die nationale Neugeburt als ein Kernziel des Faschismus begreift: "Jede Art von Faschismus hat ihre eigene Vorstellung vom Niedergang, dem es zu begegnen gilt. Für den italienischen Faschismus war es die
Rückständigkeit Italiens, die Tatsache, dass der Großteil der Bevölkerung bäuerlich und ungebildet war. In diesem Zusammenhang war die moderne Kunst mit Modernisierung und Zukunft assoziiert. Im italienischen Faschismus war sie ein Bestandteil des Modernisierungspakets. (…)
Deutschland hingegen hatte schon eine Modernisierung durchlaufen, und die verschiedenen Avantgardeströmungen erschienen den Nazis als Zeichen des Niedergangs. Es herrschte eine starke Abneigung
gegen den Kosmopolitismus; moderne Kunst begann den dekadenten Zustand der Weimarer Republik zu symbolisieren. Während in Italien besonders der Futurismus stark mit der faschistischen Diktatur verbunden war, stritten sich in Deutschland die Nationalsozialisten darüber, ob der Expressionimus deutsch oder antideutsch sei. Goebbels und seine Fraktion verteidigten den Expressionismus als neue nordische Kunst (…) Die Rosenberg-Fraktion wiederum behauptete, der Expressionismus sei ein
Ausdruck des Verfalls. Hitler hielt sich letztlich an Rosenberg, aber selbst nach dem Jahr 1937 und der berühmten Ausstellung zur 'entarteten Kunst' gab es unter den Nazis eine Subkultur, die moderne Kunst und Jazz liebte."
HVG, 24.06.2017

Im
Gespräch mit Péter Hamvay skizziert die
Soziologin Zsuzsa Ferge das Problem der
Armut in der ungarischen Gesellschaft: "Die ungarischen Zivilgesellschaft weiß, dass ihr Kampf hoffnungslos ist, doch sich selbst und ihren Kindern muss sie sagen können: Wir haben es wenigstens versucht. Sie weiß nämlich, dass es so eine zerstörende, jegliche Autonomie und gescheite Gedanken, Wissen, Kunst - somit die Zukunft vernichtende Zeit wie jetzt, außer in den Diktaturen, noch nie in Ungarn gab. Öffentliche Angelegenheiten wurden zu Privatangelegenheiten der politischen Elite, die Geld verdienen und ihre Macht erhalten will. Ein Drittel der Kinder werden heute
im Elend geboren und im jetzigen Schulsystem werden sie auch nicht aufsteigen: Ihnen steht ein Leben geprägt von Nichtstun, Kriminalität und Selbstzerstörung bevor. So sehr ich die jungen Leute auch schätze, die jetzt die Freiheit der Lehre verteidigen wollen, ich bedauere es sehr, dass selbst für die Crème der Intellektuellen
Armut kein Thema ist."
Tablet, 26.06.2017

Über die extrem bedrängte
Lage Homosexueller im Iran schreibt Arsham Parsi in einem Iran-Dossier des Magazins - die Lage verbessert sich offenbar auch nicht unter dem "Reformer" Hassan Rohani: "Menschenrechtsaktivisten berichten, dass seit der Machtergreifung des Ayatollah Khomeini 1979 über
4.000 Angehörige sexueller Minderheiten hingerichtet wurden. Allerdings schätzt man, dass die Anzahl und Häufigkeit von Hinrichtungen noch viel höher ist, weil die Menschen oft unter Anklagen wie Vergewaltigung, Betrug oder Verrat verurteilt werden, um zu rechtfertigen, dass man sie als Kriminelle ansieht. Diese veschleierten Anklagen erlauben es der iranischen Regierung, die Bestrafung schwuler Iraner zu verbergen, während gleichzeitig das Recht der Minderheiten, ihre Leben zu führen, eingeschränkt und die
Umstände der Hinrichtungen verdunkelt werden."
Passend ein jetzt online gestellter älterer
Artikel von Aditi Angiras im
Himal Magazin, der den Memoirenband des indischen homosexuellen Aktivisten
Siddharth Dube liest - immerhin aber gibt es in Indien Anzeichen für eine
Lockerung der Politik und für eine Abschaffung des aus Kolonialzeiten stammenden Paragrafen 377 des indischen Strafgesetzbuchs, der Homosexualität, aber auch alle nicht-koitalen Sexualpraktiken verbietet.
New Yorker, 03.07.2017
Masha Gessen hat für eine
lange Reportage einige
Homosexuelle aus Tschetschenien getroffen, die vor Folter und Verfolgung geflohen sind und sich nun in großen russischen Städten verstecken. Sicher sind sie auch hier nicht: "Bürgermilizen, die schwule Männer online in eine Falle locken und dann vor Kameras erniedrigen und foltern, operieren unbehelligt in
vielen russischen Städten. Laut Immigration Equality, einer amerikanischen
Organisation die LGBT-Asyslsuchende unterstützt, liegt Russland dauerhaft in den Top Five der Länder, aus denen die meisten Antragsteller fliehen. Hunderte von Menschen haben in den Vereinigten Staaten und Europa Asyl gesucht."
Außerdem: Eliza Griswold
erkundet die Dämmerung des
Kohleabbaus in Pennsylvania. Jeffrey Toobin
kritisiert das amerikanische Tabloid
National Enquirer und seinen Verleger
David Pecker für seine Trump-Begeisterung und wittert noch mehr davon: Pecker interessiert sich nämlich für das Medienunternehmen
Time Inc..
Jungle World, 22.06.2017

Sehr plastisch
beschreibt Niklas Franzen das Leben in den Drogenvierteln
São Paulos, wo sich die Regierung nach dem Vorbild der USA in den 80ern mittlerweile auf eine Drogenpolitik über Kriminalisierung und Internierung konzentriert. "Niemandsland, Zombiestadt,
ein Stückchen Hölle - das Viertel hat viele Namen. Der bekannteste lautet Cracolândia. 700 Menschen tummeln sich hier - nachts sind es oft dreimal so viele. Einen Steinwurf vom piekfeinen Konzertsaal Sala São Paulo entfernt befindet sich das Herz von Cracolândia. Fluxo (Fluss) nennt man die verfallenen Häuserblocks im Norden der Innenstadt. Nachts
leuchten die Crackpfeifen in allen Ecken der dämmerigen Straßen auf. In graue Decken wie in Kokons gehüllte Menschen liegen auf den Bordsteinen. Hunderte sitzen unter Plastikplanen oder wandern mit leeren Blicken umher. Ein süßlich-chemischer Geruch liegt in der Luft. Aus einer gekachelten Eckkneipe dröhnt
ohrenbetäubende Musik. Wie in Trance wackelt eine junge Transsexuelle mit geschlossenen Augen zum Rhythmus der Musik. In der Mitte einer Straße stehen mehrere blaue Plastikzelte."
Linkiesta, 24.06.2017

Manlio Graziano, der an der Sorbonne die Geopolitik der Religionen erforscht, stellt im
Gespräch mit Dario Ronzoni fest, dass die Religionen wieder auf dem Vormarsch sind. Selbst der
Rückgang der Kirchenbesuche kann ihn nicht beruhigen: "Seien wir vorsichtig. Wer sagt, dass 'nur 20 bis 30 Prozent der Getauften jeden Sonntag in die Kirche geht', vergisst, dass es sich um eine sehr große Anzahl von Personen handelt.
Keine Partei,
keine Gewerkschaft ist in der Lage, regelmäßig so viele Menschen zu mobilisieren. Hinzu kommt, dass bei einem quantitativen Rückgang der qualitative Aspekt wichtiger wird. Sie sind weniger, aber sie glauben heftiger. Da der Kirchgang keine gesellschaftliche Pflicht mehr ist, lässt sich daraus ersehen, dass die verbleibenden Kirchgänger
um so überzeugter sind. Sie sind ein leichter zu polarisierender Kern. Und wenn eine politische Entscheidung zu treffen ist, sind sie um so kompakter."
Guardian, 26.06.2017

Stephen Buranyi
knöpft sich in einem großen Report die skandalöse Praxis der
Wissenschaftsverlage wie
Reed-Elsevier vor, die staatlich finanzierte Wissenschaftler für sich umsonst arbeiten lassen, um ihre Zeitschriften dann zu horrenden Preisen an staatliche Universitäten zu verkaufen. Selbst Ökonomen kapitulieren vor diesem bizarr parasitären Modell, dass Reed-Elsevier Umsätze von Milliarden garantiert, bei
Profitraten von 35 bis 40 Prozent - mehr als Apple oder Google. Buranyi beschreibt aber auch, welche Verzerrungen der Wissenschaft dies mit sich bringt: "Die Journale bevorzugen neue und
spektakuläre Resultate - sie wollen schließlichen Abonnements verkaufen -, und da Wissenschaftler genau wissen, welche Arbeiten publiziert werden, richten sie ihre Beiträge entsprechend aus. Das produziert einen stetigen Strom von Veröffentlichungen, deren Bedeutung sofort sichtbar ist. Aber es bedeutet auch, dass Wissenschaftler
keinen akkuraten Überblick über ihr Forschungsfeld haben. Manche Forscher geraten ungewollt in Sackgassen, in denen sich auch schon ihre Kollegen fanden, einzig und allein, weil die relevanten wissenschaftlichen Publikationen niemals
Informationen über Misserfolge veröffentlicht haben. Eine Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass die Hälfte aller klinischen Versuche aus den USA niemals in einem Journal veröffentlicht wurden."