Magazinrundschau

Träume der Vernunft

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
11.07.2017. Die Paris Review weiß, wo sich Bakunin und Millet trafen. Magyar Narancs untersucht den Antisemitismus der ungarischen Nachkriegszeit. Die Virginia Quarterley Review reist nach Kasachstan. Wired staunt über Luc Bessons Geschäftssinn. In der New York Times, im Guardian und im New Statesman sehen Noam Chomsky, Naomi Klein und John Gray schwarz.

Guardian (UK), 06.07.2017

Vor zehn Jahren prangerte Naomi Klein in ihrem Buch "Schock-Strategie" den Katastrophen-Kapitalismus an. Als Beispiel diente ihr New Orleans, dessen öffentliche Infrastruktur so lange vernachlässigt wurde, bis ein einziger, nicht mal besonders starker Sturm ausreichte, die halbe Stadt zu versenken, um sie hinterher privat wieder aufbauen zu lassen. Damals verantwortlich für die Strategie: Mike Pence. Sollte sie mit ihrer Warnung recht behalten? Sie fürchtet es: "New Orleans ist die Blaupause für den Katastrophen-Kapitalismus - entworfen vom derzeitigen Vize-Präsidenten und der Heritage Foundation, dem extrem rechten Think Tank, von dem sich Trump einen großen Teil seines Hauhaltsplans hat schreiben lassen... Die Präsenz von hoch militarisierter Polizei und bewaffneten Söldnern hat in New Orleans noch viele überrascht. Doch seitdem hat sich ihre Erscheinung exponentiell ausgebreitet, im ganzen Land sind lokale Polizeikräfte von oben bis unten militärisch ausgerüstet, einschließlich Drohnen und Panzer, während private Sicherheitsfirmen für Training und Unterstützung sorgen. Das Katrina-Experiment ist auch ein Warnsignal für all jene, die sich etwas von der einen Billion Dollar erhoffen, die Trump für die Infrastruktur ausgeben will. ...  Angesichts von Trumps Unternehmensbilanz und Pence' Rolle in der Regierung, gibt es allen Grund zu fürchten, dass aus dem großen Infrastruktur-Programm eine Katrina-ähnliche Kleptokratie wird, eine Regierung von Dieben, die sich im Mar-a-Lago-Stil mit riesigen Summen an Steuergelder bereichert."
Archiv: Guardian

Paris Review (USA), 05.07.2017

Adam Begley, Autor eine neuen Biografie über den großen Fotografen Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon), blättert für die Onlineausgabe der Paris Review das Gästebuch des seinerzeit schon berühmten Porträtisten auf: Nadar bat Berühmtheiten seiner Zeit, sich mit Vignetten, Kompositionschnipseln oder Gedichten zu verewigen. Das Original des Gästebuchs ist über verschlungene Wege in eine Bibliothek in Philadelphia gelangt. Und die Promis defilierten nur so: "Der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, Erfinder des Slogans 'Eigentum ist Diebstahl' donnerte 'Außer den Peinigern kenne ich nichts Abscheulicheres als die Märtyrer'. Viele Seiten später taucht ein weitere Anarchist aus, der russische Aristokrat und ruhelose Revolutionär Michail Alexandrowitsch Bakunin, der in französischer Schreibweise unterzeichnete: Bakounine. Er kam am 7. August 1862 zu Besuch und hinterließ die rätselhafte Warnung: 'Achten Sie darauf, dass die Freiheit Ihnen nicht von Norden kommt.' Ein Jahr zuvor hatte hatte er eine wagemutige Flucht aus Siberien angetreten. Unter Bakunins Signatur findet sich eine Skizze zweier Holzpantinen von Jean-François Millet. Nadar betrachtete Millet als einen der besten französischen Maler der Zeit und pries seine Kunst als 'im Kern demokratisch'. Bakunin und Millet - was für ein Zusammentreffen!"


Archiv: Paris Review

Magyar Narancs (Ungarn), 01.06.2017

Die Historikerin und Antisemitismusforscherin Éva Standeisky erklärt im Gespräch mit Zoltán Barotány Formen des Antisemitismus der ungarischen Nachkriegszeit: "Seit 1946 verbündete sich - erneut - gesellschaftlicher mit dem politischen Antisemitismus. Bei der Betrachtung des ungarischen Antisemitismus der Nachkriegszeit ist das bestimmende Jahr nicht 1945 sondern das darauf folgende, als die Judenfeindlichkeit in Atrozitäten - Ritualmordklagen, Lynchjustiz und Massenhysterie mit Todesopfern - mündete. Darüber wissen wir noch weniger als über die 'sanften' Konflikte zwischen den rückkehrenden Juden und den 'Heimischen'. Der Film '1945' zum Beispiel beschreibt die Konfrontation mit unseren eigenen Taten, was nach dem Weltkrieg überhaupt nicht typisch war. So steht der Film für unsere gegenwärtigen Verpflichtungen und nicht für Ereignisse in der Vergangenheit. (…) Die Polen sind in der Vergangenheitsaufdeckung ein Stück weiter als wir, und auch wenn sie keinen Konsens erzielen konnten, streiten sie wenigstens über die unleugbare und nicht übertragbare Verantwortung."
Archiv: Magyar Narancs

Virginia Quarterly Review (USA), 11.07.2017

Nationaler Volkssport in Kasachstan ist Kokpar - ein Reiterspiel um einen Ziegenkadaver. Sehr traditionell, erklärt Will Boast in einer schönen Reportage, wie überhaupt Traditionen in Kasachstan - dazu gehört auch die Frage, wer Kasache ist - seit der Unabhängigkeit eine große Rolle spielen: "Doch nicht jeder ist ein leidenschaftlicher Anhänger des traditionellen Lebens. 'Die Russen haben uns Schulen, Elektrizität und Medizin gebracht', sagt der immer ungeduldiger werdende Dschingis. 'Meine Großmutter wurde in einer Jurte geboren! Sie verlor zehn Kinder in einer Jurte! Meine Frau und ich werden unsere Kinder in dem besten Apartment großziehen, das wir uns leisten können. Für Dschingis und andere sind gute Kaffeehäuser und das Hard Rock Cafe so zentral für die kasachische Identität wie acht erwachsene Männer, die einen Ziegenkadaver übers Feld schleudern."
Stichwörter: Kasachstan, Kaffeehaus

Echo24 (Tschechien), 08.07.2017

Auf dem Karlsbader Filmfestival gewann seit fünfzehn Jahren erstmals wieder ein tschechischer Film den Hauptpreis: "Křižáček" des Regisseurs Václav Kádrnka (Trailer). Ein "mittelalterliches Roadmovie" nennen ihn die einen, eine meditative "Studie des Gehens" die anderen: Ein neunjähriger Junge hat sich aufgemacht, um sich den Kreuzzüglern ins Heilige Land anzuschließen, sein Vater, ein Ritter, folgt ihm nach, um ihn aufzuhalten. Auf der Suche nach dem Sohn zeigt er ein von der Mutter auf Stoff gesticktes Porträt des Kindes herum, "doch mit der Zeit zerfällt das Bild, so wie des Vaters Erinnerungen an die Gesichtszüge des Sohnes verblassen, die er unterwegs in vielen Kindern zu sehen glaubt", erzählt Ondřej Štindl und erkennt in dem Film weniger die Ambitionen einer realistischen Mittelalterabbildung als eine Metapher für Elternschaft sowie ein "Abbild des menschlichen Lebens als besessene Suche nach etwas Unerreichbarem, das sich langsam dem Sinn entzieht, eine stille Anziehungskraft, die bis zur Grenze des Ozeans führt, wo sich alles überschneidet." Für manche "der trägste" Film des Wettbewerbs, für Ondřej Štindl ganz klar "der stärkste".
Archiv: Echo24

New York Review of Books (USA), 13.07.2017

In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books befasst sich Matthew Cobb mit Neuerscheinungen zum Thema Gen-Editing (CRISPR). Cobb empfiehlt vor allem das von der Biochemikerin und CRISPR-Pionierin Jennifer A. Doudna in Zusammenarbeit mit Samuel H. Sternberg verfasste Buch "A Crack in Creation", für Cobb ein starker Mix aus wissenschaftlichen und ethischen Perspektiven, der helfen könnte, uns vor CRISPRs dystopischem Potenzial zu bewahren: "Die Notwendigkeit der Regulierung von CRISPR wird offenbar, wenn die Autoren die für sie gefährlichste Seite ihrer Technik vorstellen, die Entwicklung von sogenannten 'gene drives', Genantrieben (zur beschleunigten Ausbreitung von Genen in Populationen, d. Red.), vor allem bei Spezies mit kurzen Generationenfolgen, wie Insekten-Epidemien … Unter Verwendung eines Genantriebs wird die Frequenz des veränderten Gens exponentiell gesteigert und die gesamte Population in kürzester Zeit damit überflutet. Wissenschaftler wollten die Technologie nutzen, um Moskitos zu sterilisieren oder sie als Malariaüberträger unschädlich zu machen, was enorme Auswirkungen auf die Epidemiologie einiger der tödlichsten Krankheiten hätte … Das Problem ist, dass der Genantrieb im Grunde eine biologische Bombe darstellt, die alle möglichen ungewollten Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Haben wir den Moskito erst für den Malaria-Parasiten unattraktiv gemacht, könnte der Parasit mutieren, etwa so wie bei Antibiotika, um die Auswirkungen des 'gene drive' zu unterlaufen. Das wieder könnte bedeuten, dass er gegen unsere Antimalariamittel immun wird."

Weitere Artikel: Ein schwarzer Mann gilt in den USA immer als schuldig - bis zum Beweis seiner Unschuld, weiß der Anwalt Bryan Stevenson aus eigener Erfahrung und erklärt dies aus der Geschichte. Sue Halpern sah Laura Poitras' Doku über Julian Assange. Colm Tóibín las Édouard Louis' autobiografischen Roman "Das Ende von Eddy". Julian Bell besuchte zwei Pariser Pissarro-Ausstellungen, im Musée Marmottan Monet und im Musée du Luxembourg.

Revista Anfibia (Argentinien), 08.07.2017

Die Schweizer Journalistin und Feministin Mona Chollet stimmt ein Lob der Pantoffeln an: "Zu recht - und wie! - spricht man immer wieder davon, wie wichtig es ist, sich die öffentlichen Räume zurückzuerobern. Auf ziemlich vereinfachende Weise stellt man dem den häuslichen Bereich entgegen, der bei vielen nur wenig glorreiche Bilder von ängstlichem Rückzug, langen Fernsehsitzungen in Mickey-Maus-Pantoffeln, zwanghaftem Anhäufen von Elektrogeräten und entschlossener Gleichhgültigkeit der Welt gegenüber aufsteigen lässt. Aber am Rande einer von Machtlosigkeit, Simulation, Feindseligkeit, manchmal auch Gewalt gesättigten Welt befreit einen die eigene Wohnung ein wenig von all dem Druck. Sie erlaubt es uns zu atmen, wir selbst zu sein, unsere Wünsche zu erkunden. Natürlich kann man jetzt ausrufen: Individualismus! Mir gefällt jedoch der Vergleich ziemlich gut, den der amerikanische Architekt Christopher Alexander anstellt: Von jemandem, der über keinen eigenen Bereich verfügt, zu erwarten, dass er etwas zum Leben der Allgemeinheit beiträgt, 'ist, als würde man von einem Ertrinkenden erwarten, dass er jemand anderem das Leben rettet.'"
Archiv: Revista Anfibia

London Review of Books (UK), 13.07.2017

Die Berichte über Donald Trump werden bei CNN, Washington Post und New York Times immer schriller, aber auch politisch immer inkonsistenter stellt David Bromwich fest. Zum Beispiel die Russland-Kontakte: "Jeder Wunsch nach einem vertraulichen Kanal wird als Versuch gewertet, sich der amerikanischen Bürgerpflicht des Überwachtwerden zu entziehen. Da wir wissen, wo Putin steht, sollte niemand der Überwachung entgehen dürfen: nicht der Präsident, sein Kabinett und seine Berater, und auch nicht die Mitglieder des Kongress. Warum nicht gleich auch Bezirks- oder Bundesrichter und alle einfachen Bürger? Das Zeitalter der Trump-Verachtung ist auch eines, in dem man sich gern auf den tiefen Staat verlässt und in die Geheimdienste vertraut. Wenn sie uns nicht retten können, wer dann? Sie brauchen alle Macht, die sie bekommen können."

William Davies denkt darüber nach, warum sich gerade die alten Politiker mit Hang zum Populismus über die sozialen Medien durchsetzen können. Weil das Internet weniger dem Publizieren als dem Archivieren dient, glaubt Davies, potenziere sich, was Hannah Arendt schon in "Macht und Gewalt" schrieb: Nicht Ungerechtigkeit bringt die Leute auf, sondern Heuchelei. "In mehrerlei Hinsicht haben die digitalen Medien offenbar die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre aufgehoben und erlauben es, mit unerbittlichem Blick die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, Heute und Gestern zu betrachten. In Twitters Gladiatoren-Arena ist es nicht mehr der größte Fehler, beleidigend zu werden (das kann sogar ein Vorzug sein), sondern einem früheren Tweet zu widersprechen, der selbst Jahre später noch von Trollen freudig ausgegraben wird. Unter solchen Umständen hängt öffentliche Glaubwürdigkeit von uneingeschränkter Aufrichtigkeit und obsessiver Beständigkeit ab, und es muss einem völlig gleichgültig sein, was andere von einem halten."

Weitere Artikel: Mit gemischten Gefühlen liest Namara Smith die Autobiografie der Dichterin Patricia Lockwood, die 2012 mit ihrem bitteren Gedicht "Rape Joke" Furore machte. Denn eigentlich schaffe sie es nicht, sich in "Priestdaddy" von ihrem überkatholischen Vater zu befreien: "Die Familie, das Land, die Religion der Kindheit: man kann sie sich nie ganz austreiben, je mehr man es versucht, desto fester wird ihr Griff." Daniel Trilling räumt einen Stapel Bücher zu Flucht und Migration vom Stapel.

Wired (USA), 11.07.2017

Adam Rogers besucht in Frankreich die Dreharbeiten zu Luc Bessons neuem Film "Valerian - Die Stadt der tausend Planeten", der nächste Woche in Deutschland anläuft, und sieht und staunt: Es ist tatsächlich möglich, abseits von Hollywood teure, wuchtige, quirlig-bunte Science-Fiction-Blockbuster zu drehen - und das überdies nicht auf Grundlage einer amerikanischen, sondern einer französischen Comicvorlage aus den 60ern. In den USA hätte man dafür kaum Geld erhalten - wie also hat Besson das angestellt? Mit den Tricks eines alten Indie-Hasen, der sich über die Jahre einen Ruf als zuverlässiger, effizient arbeitender Profi erarbeitet hat: "2015 gingen Besson und seine Produzentin und Ehefrau Besson-Silla nach Cannes mit einer Präsentation im Gepäck, um mit über 70 Verleihern aus aller Welt zu sprechen. Besson kannte sie fast alle. 'Wir kamen mit 80 Leinwandzeichnungen an. Wir zeigten ihnen alle Designs. Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte, sie konnten das Drehbuch lesen und ein Angebot machen', erinnert er sich. 'Wir holten an einem einzigen Tag fast 80 Millionen ein - nur mit vorverkauften Rechten.' ... Es mag ein großer Film von den Ausmaßen eines regulären Blockbusters sein. Doch er ist finanziert wie ein Indie-Movie. Alle Deals, der Vorverkauf, die Steuervergünstigungen und so weiter, bedeuten für Besson ein minimales Risiko. Und er musste seinen teuren Science-Fiction-Film, der auf weitgehend unbekanntem Material fußt, keinem konservativen, franchise-trunkenen Studio vorlegen. Was  bedeutet, dass Besson ein weiteres Risiko aus der Gleichung genommen hat: Anmerkungen. Viele Anmerkungen. 'Er hat sich eine Finanzstruktur zusammengestellt, die es ihm gestattet, seinen Film ohne - und hier wähle ich meine Worte vorsichtig - das Gewicht eines Studiochefs zu drehen, der bei so hohen Investitionen berechtigterweise das Bedürfnis verspürt, ein Wörtchen mitzureden." Der Trailer sieht schon mal sehr beeindruckend aus:


Archiv: Wired

La vie des idees (Frankreich), 07.07.2017

Vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingswelle unterhält sich Ivan Jablonka mit Aline Angoustures und Dzovinar Kevonian, zwei der drei Herausgeber der Studie "Réfugiés et apatrides - Administrer l'asile en France (1920-1960)". Die Autoren analysieren darin anhand unveröffentlichter Archivdokumente die französische Asylpolitik bis zum Beginn des Kalten Kriegs, darunter etwa die Konstruktion der Kategorisierung von "Flüchtling" und "Staatenlosem", aber auch die Art des Umgangs mit ihnen sowie ihrer "Verwaltung". Auf die Frage nach Vergleichsmöglichkeiten zu heute antworten sie: "Seit den 1920er-Jahren war der Schutz von Flüchtlingen ein europäisches und internationales Thema, insbesondere nach den Restriktionen, die die Vereinigten Staaten dann nach 1947-1948 aufgrund der Bipolarisierung des Kontinents einführten. Das ist auch heute noch so, trotz der Probleme und Unstimmigkeiten innerhalb der europäischen Gemeinschaft. Man kann außerdem feststellen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen immer politische und soziale Diskrepanzen erzeugt und ans Licht bringt. Die jeweilige Politik ist Ergebnis eines Kräfteverhältnisses und des Kompromisses zwischen den unterschiedlichen Konstellationen (Brüderlichkeit, Gleichgültigkeit, Andersartigkeit) und den Projektionen (Krieg, Elend oder auch Beschäftigungsschutz), deren Repräsentanten beziehungsweise Sündenböcke die Flüchtlinge sind."

Politico Magazine (USA), 11.07.2017

Donald Trump ist New Yorker - bedient aber tief verankerte anti-urbane Reflexe der Landbevölkerung. So etwa in der Antrittsrede zu seiner Präsidentschaft, in der er ein Schreckensbild amerikanischer Städte zeichnete, das direkt den 70er und 80er Jahre entsprungen zu sein schien. Seither haben sich die Großstädte jedoch längst zu sicheren, sauberen und größtenteils sozial befriedeten Zonen entwickelt. Woher rührt dieses krasse Missverhältnis zwischen Rhetorik und Realitätfragt sich Michael Kruse und mutmaßt, dass es mit Trumps Penthouse auf seinem Tower mitten Manhattan zu tun hat: "Auf der Spitze des Trump Tower, erklärt Trump-Biograf Tim O'Brien, konnte er 'in Distanz zur Stadt leben und deren erstaunlichem Ausstoß an Ideen, Menschen und Kultur.' Und zwar 'abgeschirmt', wie Gwenda Blair, eine weitere Biografien, hinzufügt, 'in einer Blase aus Abgeklärtheit und Privilegien. Aus seinen mit bronzenen Rahmen versehenen zimmerhohen Fenstern sah Trump den Central Park im Norden, den Hudson River im Westen, das Empire State Building und das World Trade Center im Süden. Er sah die Dächer der gelben Taxis und die winzigen Leute, die 60 Stockwerke unter ihm auf dem Gehsteig wuselten. Was er jedoch nicht sehen konnte - oder auch nicht gesehen hat -, war der Wandel, als aus dem New York der 70er und 80er die heutige saubere und sichere Enklave für die Klugen und Reichen wurde."

Außerdem rät Richard Florida den Städten, sich unabhängig von Trump selbst zu regieren.

New Statesman (UK), 01.07.2017

John Gray, der dunkle Prinz des Konservatismus in der britischen Philosophie, nutzt den Horror des entfesselten Irrationalismus, den Keith Lowe in seinem Buch "The Fear and the Freedom" über den Zweiten Weltkrieg reflektiert, um seine alte Leier zu wiederholen, dass es eigentlich Aufklärungsideeen gewesen seien, die im 20. Jahrhundert in Horror umschlugen - als sei Vernunft, die den Zweifel abschaltet, immer noch Vernunft: "Sowjetischer Kommunismus und Maoismus waren beides Träume der Vernunft, die die willkürlichen gewachsenen Gesellschaften der Vergangenheit durch bewusst gestaltete Alternativen ersetzen wollten. Die menschlichen Kosten dieser Regimes - die vielleicht nicht ganz so groß waren wie die des Zweiten Weltkriegs, aber annähernd - mussten bezahlt werden, weil ganze Bevölkerungen gezwungen wurden, ein rationales Modell von Gesellschaft zu akzeptieren, das nicht funktionieren konnte." Gray ist so verliebt in seine These, dass er nicht fragt, was rational an einem Modell sein soll, von dem klar ist, dass es nicht funktioniert.
Archiv: New Statesman

New York Times (USA), 09.07.2017

Die New York Times druckt ein E-Mail-Interview, das der Philosoph George Yancy über mehrere Wochen hinweg mit Noam Chomsky geführt hat. Es geht um Trump und den grässlichen Stand der Dinge, den Chomsky folgendermaßen umreißt: "Die wichtigsten Themen derzeit sind Klimawandel und Atomkrieg. Beim ersten sind die Republikaner gerade dabei, sämtliche Chancen auf ein Überleben zu zerstören, dagegen gilt es anzugehen … Betreffend den zweiten Punkt bietet Syrien gefährliches Konfrontationspotenzial. Trumps Fortführung von Obamas Programm zur Modernisierung der Nuklearwaffen ist äußerst gefährlich. Das Thema wird detailliert in einem wichtigen Artikel im 'Bulletin of the Atomic Scientists' vom März diskutiert, der Text sollte wirklich Schlagzeilen machen. Die Autoren, alles hoch respektable Analysten, stellen fest, dass das Programm zur Modernisierung der Nuklearwaffen die tödliche Macht um ca. den Faktor drei verstärkt habe. Die Folge sei erwartbar, ziehe man in Betracht, dass eine Nuklearmacht einen nuklearen Krieg dadurch zu gewinnen trachte, dass sie den Feind durch einen Erstschlag überrascht. Das bedeutet, russische Militärstrategen könnten im Moment einer Krise, von denen es allzu viele gibt, angesichts fehlender Abschreckungsmittel schlussfolgern, dass ein Erstschlag die einzige Hoffnung auf Überleben birgt. Das wäre das Ende von uns allen."
Archiv: New York Times