Magazinrundschau

Diese unglaubliche Unförmlichkeit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
18.12.2017. Die Huffington Post rechnet vor, wie angeschmiert die Millenials sind. In Novinky erklärt der Soziologe Grzegorz Piotrowski, wie Solidarität in Polen zur Schwäche wurde. Wer Victor Orban ablösen will, muss sich mit Jobbik verbünden, meint Agnes Heller in Magyar Narancs. Die New York Review of Books nimmt das Patriarchat aufs Korn. Longreads erzählt, wie die einzige Chefredakteurin der Paris Review aus der Geschichte des Magazins gelöscht wurde. In der Vogue erzählt Salman Rushdie von den Weihnachtsfundamentalisten in seiner Familie.

Huffington Post (USA), 15.12.2017

Was hat man die Millennials nicht alles schon genannt: verzogen, desorientiert, zuwendungsbedürtig, entscheidungsunlustig, konsumorientiert ... Von ihren handfesten Problemen ist dagegen nur selten die Rede. Die hat Michael Hobbes in einer wirklich epischen, multimedial aufbereiteten und ziemlich giftigen Reportage detailliert nachgezeichnet und begreifbar gemacht. Besonderes Pech haben alle, die ihren Abschluss zur Finanzkrise 2008 gemacht haben - wer damals nicht reinkam und mit Brotjobs überwinterte, kam auch später nicht mehr rein. Und blieb auf seinen Schulden - die um 300 Prozent höher sind als bei den Baby Boomern - sitzen. Beispiel Scott, der nach zahllosen vergeblichen Bewerbungen einen Busfahrerjob angenommen hat: "Theoretisch könnte sich Scott wieder auf einen Bankjob bewerben. Doch sein Abschluss ist fast acht Jahre alt und er hat keine berufsrelevanten Erfahrungen. Manchmal denkt er darüber nach, noch seinen Master zu machen, doch das würde bedeuten, zwei Jahre lang auf Lohn und Renteneinzahlungen zu verzichten und nochmals Schulden im fünfstelligen Bereich anzuhäufen - bloß um sich im Alter von 30 Jahren für einen Einstiegsjob zu qualifizieren, der weniger abwirft als Busfahren. ... Auch anhand der Statistiken lässt sich das nachvollziehen: In den Jahren von 2008 bis 2012 findet sich ein Abgrund, wo eigentlich Millionen von Jobs und Millarden an Gehältern stehen sollten. Im Jahr 2007 hatten noch mehr als 50 Prozent aller College-Abgänge ein Jobangebot vor Augen. 2009 waren es nur noch 20 Prozent."
Archiv: Huffington Post

Magyar Narancs (Ungarn), 30.11.2017

Die Philosophin Ágnes Heller schlägt eine lockere Kooperation der demokratischen oppositionellen Parteien mit der rechtsradikalen Jobbik vor, um bei den kommenden Wahlen (Frühjahr 2018) die regierende Fidesz und Ministerpräsident Orbán ablösen zu können: "Wie die Dinge jetzt stehen, schließe ich darauf, dass die Opposition nicht einmal daran denkt, diese Wahlen zu gewinnen. Der Realität muss Rechnung getragen werden: Jobbik ist auch eine oppositionelle Partei und ohne die Jobbik kann Fidesz nicht abgelöst werden. Alle kommen damit, dass das Land und die Opposition von Antisemiten beschützt werden muss. Mein Gott, ich bin die Holocaust-Überlebende und nicht sie! Mit dieser Erfahrung im Rücken sage ich: Wenn es nicht zur Kooperation mit Jobbik kommt, dann bleibt Fidesz an der Macht. Wenn Fidesz an der Macht bleibt, wird das eine Tragödie für Ungarn sein. Es ist nicht so kompliziert. (…) Es ist hier keine Ethikschule oder eine Moralgesellschaft, es geht nicht darum, wen ich zum Abendessen einlade. Es geht um eine konkrete Aufgabe: das Land muss von einem Anführer befreit werden, der es ansonsten in die Ruine treibt. Es geht um Patriotismus, wenn ich dieses Wort hier verwenden darf, in einer Situation, in der alle über die Nation sprechen aber niemand etwas im Interesse der Nation unternimmt."
Archiv: Magyar Narancs

La vie des idees (Frankreich), 18.12.2017

Claire Marynower erzählt von einem sehr schönen, wenn auch traurigen Projekt der Soziologen Fabien Deshayes und Axel Pohn-Weidinger, die auf einem Flohmarkt in Paris die Korrespondenz eines jungen Ehepaars entdeckt haben - er Franzose aus der Metropole, sie Französin, schwarz, aus Gouadeloupe. Sie müssen sich Briefe schreiben, weil er im Algerienkrieg ist. Die Ehe endet abrupt mit ihrem Tod und dem ihres Kindes bei der Entbindung. Die Historiker rekonstruieren aus den Briefen und tausend Informationen über die Bedingungen ihres Lebens ihren Alltag in diesem Moment der Geschichte: "Während dieser Arbeit, die sie in freien Stunden während ihrer Dissertationsprojekte unternahmen, werden die Autoren immer mehr 'überwältigt von dem Gefühl, die Sachwalter dieser Geschichte' zu sein, sie sind 'bestürzt' , als sie vom Tod Aimées erfahren. Die Emotion ist an vielen Stellen des Buchs spürbar, und sie befördert de Qualität ihres Textes. Die präzisesten Beobachtungen gelten der Funktion des Schreibens in der Konstruktion des Selbst, gerade wenn die Autoren die Pausen, Streichungen, die nie versandten Briefskizzen betrachten."
Stichwörter: Algerienkrieg

New York Review of Books (USA), 21.12.2017

Harvey Weinstein hat in einigen Fällen auch Gewalt ausgeübt, aber meist hat er Frauen eingeschüchtert und manipuliert, hält Laura Kipnis fest. Und viele Frauen haben das mit sich machen lassen, weil Weinstein Macht hatte: nicht über die Person, sondern über ihre Karrieren. Kipnis will den Aufstand gegen die Torwächter des Showbiz nicht geringschätzen, aber sie bleibt auf Distanz zu dieser Celebrity-Revolte, die ausgerechnet von konservativen Frauen bei Fox News eingeläutet wurde: der Moderatorin Megyn Kelly und der früheren Miss America Gretchen Carlson, die erfolgreich gegen Roger Ailes geklagt hatten: "Das Patricharchat hat kein stehendes Heer (auch wenn einige Feministinnen meinten, Vergewaltiger seien dessen Kampftrupp), doch es hat kulturelle Institutionen wie den Sender Fox, der dessen Werte und Normen verbreitet. Egal ob der hochgesinnte linke Intellektuelle, der seine weiblichen Untergebenen anhält, engere Kleider zu tragen, tatsächlich Fox sieht - oder der nerdige Boss eines Public Radio, der einer Frau ungefragt die Zunge in den Mund steckte oder der dickliche Kommentator, der seine Erektionen herumzeigt -, Fox kulturelles Wirken besteht darin, ein bestimmtes Bild von weiblicher Empfänglichkeit zu verbreiten, das diese Männer teilen. 'Sexuelle Belästigung gedeiht in einer Atmosphäre, die Frauenrechte nicht würdigt', schreibt Carlson. Stimmt. Aber bei der körperlichen Selbstbestimmung geht es nicht nur ums Grapschen, es geht auch um den Zugang zu Verhütungsmitteln und das Recht auf Abtreibung, und hier sind die Frauen von Fox, so entschlossen sie sich auch gebärden, als Verbündete echter Mist."

Robert Kuttner rühmt Gareth Dales "A Life on the Left", eine Biografie, des ungarischen Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi, der in der "Großen Transformation" die immensen Umwälzungen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert nachgezeichnet hatte: "Karl Polanyi glaubte, dass die einzigige Möglichkeit, die destruktive Wirkung des organisierten Kapitals und seine Ultra-Marktideologie politisch zu zügeln, in einer hochmobilisierten, klugen und gebildeten Arbeiterbewegung bestand. Er berief sich dabei nicht auf die ökonomischen Theorien von Marx, sondern auf  das erfolgreichste Experiment des städtischen Sozialismus in Europas Zwischenkriegszeit: das rote Wien, in dem er als Wirtschaftsjournalist in den zwanziger gearbeitet hatte. Und eine Zeit lang hatte der gesamte Westen eine egalitäre Form des Kapitalismus errichtet, die sich auf die Stärke des demokratischen Staates und der Arbeiterbewegungen stützte. Aber seit der Ära von Margaret Thatcher und Ronald Reagan sind diese Gegenmächte zerschlagen, mit vorhersehbaren Ergebnissen."

Weiteres: Ferdinand Mount gruselt es vor Rüdiger Safranskis Goethe-Biografie, die dem Dichtergenie als Superman huldigt, um nicht zu sagen Übermensch. Jackson Lears liest Mike Wallaces Geschichte New York Citys von 1898 bis 1919. Richard Holmes Julian Bell besucht eine David-Hockney-Ausstellung in der Tate Britain. Und J.M. Coetzee erzählt von "Lügen".

El Pais Semanal (Spanien), 17.12.2017

Der spanischen Schriftsteller Javier Cercas hofft, dass am Donnerstag, den 21. Dezember, genügend Menschen in Katalonien aus vernünftiger Angst ihre Stimme nicht den Separatisten geben werden, sich also nicht wie zuvor etwa die Wähler in England oder den USA oder auch bei den letzten katalanischen Wahlen von "waghalsig-blindwütigen und zugleich lügnerischen Utopien" verführen lassen - denn "die Wahrheit und die Vernunft sind zwar langweilig, aber in der Politik führen sie fast immer zu etwas viel Besserem. Gibt es etwas Vernünftigeres und Langweiligeres als die Sozialdemokratie? Und doch sind die gerechtesten, wohlhabendsten und freiesten Gesellschaften der Welt, nämlich die Skandinaviens, das Ergebnis des 'nordischen Modells', also der kontinuierlichen Anwendung sozialdemokratischer Programme ohne besondere Aufregungen, kollektive Erregungen oder illusionsträchtige Projekte."
Archiv: El Pais Semanal

The Atlantic (USA), 31.01.2018

Im Aufmacher der aktuellen Ausgabe erklärt uns Julia Ioffe, was Waldimir Putin wirklich will beziehungsweise fürchtet: "Putin war jedes Werben für die Demokratie schon immer verdächtig, doch zwei Ereignisse haben ihn überzeugt, dass die USA dahinter stecken und es auf ihn abgesehen haben. Das erste war die NATO-Intervention in Libyen 2011 und der Lynchmord an Ghaddafi. Viele stellten damals fest, wie sehr Ghaddafis Tod Putin zu schaffen machte. Es heißt, er habe die Bilder von der Tötung wieder und wieder angesehen … Das zweite Ereignis war im November 2013, als junge Ukrainer auf dem Maidan zusammen kamen, um gegen Janukovitschs Abkehr von einem Wirtschaftsprogramm mit der EU zu demonstrieren, die durch Putins Druck zustande kam. Die Demonstranten blieben den ganzen Winter, bis die Polizei das Feuer eröffnete und 100 von ihnen tötete. Am nächsten Tag, dem 21. Februar 2014, unterzeichnete Janukovitsch einen Aussöhnungsvertrag, vermittelt durch Russland, die USA und die EU. In derselben Nacht floh er aus der Hauptstadt. Für Putin war klar, was geschehen war: Die USA hatten seinen engsten Verbündeten gestürzt, in einem Land, das er als Teil Russlands begreift. All das Geld, das die USA für prodemokratische NGO's in der Ukraine ausgegeben hatten, hatte sich ausgezahlt. Dass Victoria Nuland, eine Angestellte des Außenministeriums der USA, während der Proteste auf dem Maidan Snacks verteilte, zementierte Putins schlimmsten Befürchtungen."
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: Putin, Wladimir, Libyen, Nato

Hospodarske noviny (Tschechien), 15.12.2017

Im Gespräch mit Daniel Konrád erinnert sich der Schriftsteller Salman Rushdie an seine Begegnungen mit Václav Havel, der ihn, kaum tschechischer Staatspräsident, von Anfang an unterstützt habe. "Es war kurz nach der samtenen Revolution, und Havel hatte kein Vertrauen zur Tschechischen Botschaft, wo offenbar weiterhin Leute aus Sowjetzeiten arbeiteten, deshalb bekam ich eine private Telefonnummer. Ich rief dort an und fragte, ob ich mit Präsident Havel sprechen könnte. Der Mann am Hörer antwortete mir: 'Tut mir leid, aber der Herr Präsident ist gerade auf der Toilette.' Diese unglaubliche Unförmlichkeit gefiel mir ungemein. Es war für mich der Beweis, dass in der Tschechoslowakei wirklich eine Revolution passiert war."

Vogue (USA), 13.12.2017

Mimi O'Donnell, Philipp Seymour Hoffmans Witwe, erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit mit dem 2014 an Heroinmissbrauch gestorbenen Schauspieler - daran, wie sie sich in der Branche kennen- und liebengelernt haben, wie beider Karrieren Fahrt aufnahm und wie Hoffmans eigentlich überwunden geglaubte Heroinabhängigkeit aus seinen frühen 20ern wieder aufflammte. Eine bewegende Erinnerung: "Die Leute gaben mir alle möglichen Ratschläge - jeder fischte im Dunkeln. Einige rieten mir dazu, die Kinder von ihm fernzuhalten. Der Stadthistoriker Lewis Mumford hat einmal gesagt: 'In der Stadt wird Zeit sichtbar.' In der Zeit als Phil wieder mit Heroin anfing, war der Freedom Tower fast fertiggestellt - ein neues Gebäude anstelle des früheren World Trade Center. Ich erinnere mich, wie ich den Hudson River entlang spazierte, zu dem Gebäude hinüber blickte und bemerkte, dass unsere Beziehung die Zeit vom Fall der Twin Towers am 11. September bis zur Errichtung des neuen Turms an der selben Stelle umfasste. Da beschloss ich, eine Entscheidung zu treffen, sobald das Gebäude vollendet ist. Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken, doch das gab mir Halt. ... Als Phil im November aus dem Entzug nach Hause kam, wollte er nüchtern bleiben - mehr als alles andere. Drei Monate lang blieb er es auch. Doch der Kampf war herzzerreißend anzusehen. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass die Sucht größer war als wir beide. Ich senkte meinen Kopf und dachte mir, das kann ich nicht richten. Es war der Moment, in dem ich losließ. Ich sagte ihm: 'Ich kann nicht ständig ein Auge auf Dich werfen. Ich liebe Dich, ich bin hier für Dich, und ich werde es immer sein. Aber ich kann Dich nicht retten.'"
Archiv: Vogue

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.12.2017

Der Medienwissenschaftler und Hochschullehrer Gábor Polyák (Universität Pécs) beschreibt die schrittweise Übernahme der einzelnen Medienbranchen und Organe in Ungarn durch regierungsnahe Oligarchen: "Eine faire Wahlkampagne kann in Ungarn nicht mehr organisiert werden, das Mediensystem ist so sehr zugunsten von Fidesz deformiert, dass korrekte Diskussionen nicht veranstaltet werden können und über die Öffentlichkeit die Wahlen nicht mehr kontrolliert werden können. Oppositionelle Parteien sind grundsätzlich in die sozialen Medien gedrängt worden.(...) Bei der Übergabe von traditionellen Medien gab es weniger Drohungen, sondern Angebote, die nicht zurückgewiesen werden konnten. (...) Investoren sind halt keine Freiheitskämpfer. Die frühere Eigentümerin des verlustreichen TV2, Pro7Sat1 verkaufte den Sender an Andy Vajna, weil es soviel Geld gab, dass es sich lohnte. Die Telekom verkaufte das größte aber rote Zahlen schreibende Online-Portal Origo, weil sie im Gegenzug einige Regierungsaufträge und eine neue Mobilfunkfrequenz erhielt. Und die früheren Eigentümer von Regionalzeitungen und Radiosendern verdienten ebenfalls gut, als sie die Redaktionen an regierungsnahen Oligarchen überließen. Niemand machte es zur moralischen Frage, dass große Teile der ungarischen Öffentlichkeit in die Hände von Fidesz gelangten und dies den Abbau der ungarischen Demokratie ermöglichte."

Longreads (USA), 19.12.2017

Die Paris Review ist - vor allem wegen ihrer langen Interviews - ein weltberühmtes amerikanisches Literaturmagazin. Chefredakteure waren Mitbegründer George Plimpton, Philip Gourevitch und Lorin Stein, der gerade nach Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Angestellten zurückgetreten ist. Es gab jedoch noch einen vierten Chefredakteur, lesen wir jetzt, unmittelbar nach Plimpton: Bridget Hughes. Sie war jahrzehntelang aus dem Impressum gestrichen, so dass selbst New York Times und New Yorker sie in Stories über die Geschichte des Magazins ignoriert hatten. Auch aus der Wikipedia wurde sie immer wieder rausgestrichen. Kurz, der Chefredakteur, der jahrelang mit Plimpton zusammengearbeitet hatte, sein Wunschnachfolger war und das Magazin in der schwierigen Zeit nach dessen Tod leitete, war aus der Magazingeschichte getilgt worden. Weil sie eine Frau war - davon ist A.N. Devers, die auf Longreads Hughes' Geschichte erzählt - überzeugt: "Das hat einen Einfluss auf alle Frauen im Literaturbetrieb, die ernst genommen werden wollen und für ihre Arbeit ebenso gefeiert werden wollen wie ihre männlichen Kollegen und Bosse. Es sorgt auch dafür, dass die Mythologie des Magazins als 'Jungsclub' festgeschrieben wird, wo Frauen als Chef vom Dienst einen Großteil der Schwerarbeit machen, aber niemals eine echte Chance bekommen, Chefredakteur zu werden."
Archiv: Longreads

Novinky.cz (Tschechien), 13.12.2017

Ondřej Slačálek unterhält sich mit dem polnischen Soziologen Grzegorz Piotrowski am Europäischen Zentrum der Solidarität in Danzig, das sich zum einen mit der historischen Solidarność-Bewegung beschäftigt, zum anderen auch gegenwärtige Oppositionsbewegungen und NGOs unterstützt. "Solidarität wird heute oft als Schwäche wahrgenommen", konstatiert Piotrowski. "Bezeichnend ist, dass das polnische Wort społecznik, das einen Aktivisten oder sonst jemanden bezeichnet, der Dinge für andere tut, unter heutigen Schülern als Schimpfwort benutzt wird. Jeder soll sich um sein eigenes Zeug kümmern, wer sich um andere kümmert, gilt als naiver Idiot." Was den Zusammenhalt in der Opposition betrifft, so gebe es zwar immer mehr Proteste gegen die derzeitige populistische Politik, doch blieben sie isoliert. "Wenn Künstler gegen etwas protestieren, ist es ein Protest der Künstler, wenn Ärzte protestieren, ist es ein Ärzteprotest. Diese Gruppen interessieren sich nicht untereinander für ihre jeweiligen Probleme, sie sympathisieren nicht miteinander. So kann die Regierung sie leicht gegeneinander aufhetzen."
Archiv: Novinky.cz

Vogue.uk (Britannien), 01.12.2017

In der britischen Vogue erzählt Salman Rushdie, atheistischer Sohn muslimischer Inder, seine ganz persönliche Weihnachtsgeschichte: Vom Hymnen singen in der Schule zur absoluten Weihnachtsverweigerung und wieder zurück, weil - die Kinder. "Kinder verändern Weihnachten. Meine Söhne Zafar und Milan wollen - immer noch - ein richtiges Weihnachten. Und auch meine Nichten, die Töchter meiner Schwester Sameen, Maya und Mishka. Und meine Schwiegertochter, Zafars Ehefrau, die Sopranistin Natalie. Sie alle sind Weihnachtsfundamentalisten. Sameen und ich haben all ihren Forderungen nachgegeben. Seit Jahren gibt es große geschmückte Weihnachtsbäume, Stechpalmenzweige, Mistelzweige, Truthahn, Füllung, Brotsauce, Preißelbeersauce, Brandy, Cracker, die ganzen 100 Meter, sogar Rosenkohl. Es gibt die Queen im Fernsehen, es gibt ein Meer von Geschenkpapier, es gibt Strümpfe und Weihnachtspullis. Meine Schwester und ich sehen uns von den entgegensetzten Enden des ächzenden Weihnachtstisches an und fragen uns leise, wie konnte uns das passieren?"
Archiv: Vogue.uk

HVG (Ungarn), 06.12.2017

Kürzlich erschien der neue Roman des Schriftstellers György Spiró mit dem Titel "Kőbéka" (Steinfrosch, Magvető, Budapest 2017. 248 Seiten), der die derzeitige ungarische Realität karikiert. Im Gespräch mit Péter Hamvay erklärt Spiro: "Lachen ist sehr wichtig und seit mehreren Jahrhunderten macht es das Leben erträglich. (…) Ich schreibe nicht über Mafia-Staaten, sondern über unterschiedliche archaische Strukturen, die in der modernen Welt weiter existieren, aber den Ideen der Aufklärung diametral entgegen stehen. In Ungarn ist die Mentalität, das nicht mit Arbeit, sondern durch Rauben Geld verdient werden könne, nicht neu. (...) Aus diesem langen, über anderthalbjahrhunderte dauernden Prozess entstand dann bei uns - ironischer Weise erst nach der Wende - der Homo Sovieticus, dessen Kennzeichen die Selbstaufgabe, der gewaltsame Kollektivismus, die Gleichgültigkeit, die Fügsamkeit und die Gutgläubigkeit sind."
Archiv: HVG

New York Times (USA), 17.12.2017

In der neuen Ausgabe des Magazins geht's um Machtverhältnisse am Arbeitsplatz und anderswo. Wo liegt die Grenze zwischen Romantik und sexueller Belästigung? Gar nicht mal unstrittig, meint Ruth Franklin in einem Artikel des Dossiers: "Die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, sind nicht nur zur Unterhaltung da, Bücher, Filme, oft die von Männern, schaffen die Archetypen einer romantischen Beziehung. Sie konstituieren unsere persönliche und kulturelle Mythologie und sind grundlegend dafür, wie wir die Welt begreifen. Ein Mann, der sich für eine 16-Jährige interessiert, verfügt schon über eine Blaupause dafür, wie diese Beziehung sich gestalten soll. Die bloße Tatsache, das so ein Modell existiert, gibt ihm grünes Licht und versichert ihm die Zulässigkeit seiner Bedürfnisse. Für das Mädchen, das an dieser Geschichte nach eigenen Maßgaben teilnehmen möchte, gibt es zwei Möglichkeiten: Sie zeigt sich empfänglich dafür, oder sie spielt die verführerische Lolita. Ambivalenz und Furcht haben keinen Platz in diesem Spiel."

Ähnlich äußert sich Meghan O'Rourke in ihrem Beitrag: "Wir schauen, was andere machen und folgen. Was sexuelle Belästigung ist, ist eine Frage sozialer Übereinkunft darüber, wo die Linie zu ziehen und was Verletzung ist. Erst seit den 1980er Jahren zählen ungewollte sexuelle Annäherung und ein feindseliges oder beleidigendes Arbeitsumfeld als gesetzeswidrig. 'Ungewollt', 'feindselig' - diese Adjektive sind definitionsgemäß beschreibend, abhängig von einem Konsens über die miteinander geteilte Wirklichkeit, gesetzesmäßig bewertet von Fall zu Fall. Und die geteilte Wirklichkeit ist leider, wie es viele von uns nur zu gut wissen, nicht vorhanden, auch heute. Treffen sich zwei Menschen, ist die Subjektivität ausschlaggebend dafür, ob die Wirklichkeit hell oder dunkel aussieht."
Archiv: New York Times