Magazinrundschau

Rubinschwefel, Zinnober und Cochenilleschildläuse

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.04.2018. Outlook India versucht zu begreifen, warum die Mehrheit in Indien zur Vergewaltigung und Ermordung der achtjährigen Asifa schweigt. Die tschechischen Magazine streiten über Milos Forman. Die LRB blickt auf Nigeria und stellt fest, dass die Fulani-Hirten noch brutaler sind als Boko Haram. Bloomberg sucht ein neues Rot. Quanta skizziert die Entwicklungen chaotischer Systeme, die künftig für weniger Chaos sorgen sollen. La vie des idees fragt sich, was Rasse und Geschlecht unterscheidet.

Outlook India (Indien), 30.04.2018

Ein Schwerpunkt bei Outlook India ist der unglaublich brutale Mord an der achtjährigen Asifa, Tochter muslimischer Bakarwal-Nomaden, die von einer Gruppe hinduistischer Männer fünf Tage lang vergewaltigt, gefoltert und schließlich getötet wurde. Nach dieser Gewalttat gab es Demonstrationen für die Freilassung der Täter, an denen sich sogar zwei Minister der Regierungspartei BJP beteiligten (die inzwischen zurücktreten mussten). "Die Vergewaltigung des Mädchens war monatelang geplant worden, um ihren Leuten zu verstehen zu geben, dass sie abhauen sollen", berichtet Naseer Ganai.

Harsh Mander, der die Organisation Karwan-e-Mohabbat gegründet, weil immer häufiger Minderheiten in Indien - Muslime, Dalit, Christen - angegriffen werden, ist bestürzt von dem Schweigen der großen Mehrheit nach der Vergewaltigung Asifas: "Ich hätte niemals gedacht, dass der Tag kommen würde, an dem ich uns zum Nachteil mit beispielsweise den Amerikanern vergleichen würde. Als Trump an die Macht kam, erließ er nach einer Woche eine Verfügung gegen die Einreise von Menschen aus sieben muslimischen Ländern. Innerhalb von Stunden versammelten sich Menschen an den Flughäfen, hielten Plakate hoch, auf denen stand, dass jeder willkommen sei, dass 'wir alle Muslime seien' und so weiter. Junge Anwälte boten juristische Hilfe an, einfache Leute besuchten zur Unterstützung muslimische Nachbarn. Schauspieler, Professionelle, äußerten sich. Ich sehe bei uns keine kollektiven Äußerungen diese Art von nachhaltigem Zorn und Opposition."

Shiv Visvanathan denkt derweil über den Hass nach, der zu dieser Tat geführt hat. Hass, meint sie, ist eine Emotion, die sich aus vielen anderen Emotionen speist. Er hat "eine ganz eigene Alchemie, eine Einstellung, die Gewalt umfasst, die in Stereotypen (ethnischen), Ideologien (Klassenfeinde) und institutionellen Ritualen wie Lynchen oder Dschihad enthalten ist. ... Es gibt aber auch Abweichungen oder Umwege, die wir nicht übersehen dürfen. Die Vergewaltigung Asifas fanden in einem Tempel statt. Und oft, bevor sie sie wieder und wieder vergewaltigten, vollzogen die Täter ein Ritual, dass einen Gott beschwichtigen sollte. Als würde ein wenig Beten die Zulässigkeit der Vergewaltigung verstärken.  braucht, um genährt zu werden:
Archiv: Outlook India

London Review of Books (UK), 23.04.2018

Boko Haram mag die Truppe des Verrückten Abubakar Shekau sein, der islamische Fundamentalismus im Norden Nigerias ist es nicht. In einem sehr informativen Artikel erinnert Adewale Maja-Pearce daran, dass die Briten bei der Dokolonialisierung das Land nicht an das Volk zurückgegeben haben, sondern an die im Norden herrschende Aristokratie der Hausa, aber sie blickt auch auf die räuberische Eliten im Süden und die Unfähigkeit des Militärs (allein der Sicherheitsberater des vorigen Präsidenten Goodluck Johnson hat zwei Milliarden Dollar veruntreut). "Was immer aus Boko Haram wird, eine größere Bedrohung für die Stabilität des Landes  insgesamt, nicht nur im Norden, bildet sich gerade heraus: Eine Gruppe, die in Nigeria als Fulani-Hirten bezeichnet wird. Dieser große locker verbundene Verbund unternahm laut dem Global Terrorism Index 2016 mehr Anschläge und war für mehr Tote verantwortlich als Boko Haram. Die Fulani bilden eine Ethnie, die sich in Lebensweise und zunehmend auch Religion definieren. Familien und Clans treiben ihre Rinderherden mit dem Einsetzen der Trockenheit nach Süden und sind bereit für Weideland zu kämpfen. Die Zusammenstöße zwischen den Fulani und sesshaften Bauern oder anderen Viehhaltern nähren die Furcht, dass die Armee das Vordringen nicht aufhalten wird, und die Ansprüche der Fulani wachsen... Die Hirten und ihre Familien lebten einst in einem Gebiet im nördlichen Sahel. Die schleichenden Versteppung treibt sie nach Süden. Die 18 Millionen Fulani leben mittlerweile in 21 von 36 Staaten, selbst im südlichen Niger delta. Von 1990 bis 2005 kam es bei Streitigkeiten mit umherziehenden Fulani zu 120 Toten, doch die Zahlen steigen rasant. Allein im Januar waren es 120. Die symbolische Waffen der Fulani, Pfeil und Bogen, wurden auf diesen Wanderungen ersetzt durch das AK47."

Weiteres: Isabel Hull findet es gar nicht verkehrt, dass Oona Hathaway und Scott Shapiro die alte Idee des Kellog-Briand-Plans wieder aufgreifen, den Krieg rechtlich zu verbieten. Und Colin Burrow erklärt, warum es viel schwieriger ist, die "Odyssee" zu übersetzen als die "Ilias".

Magyar Narancs (Ungarn), 29.03.2018

Das Gefühl für die Gegenwart ist in Ungarn nicht sehr ausgeprägt, meint die bildende Künstlerin Sári Ember. "Verreisen ist sehr inspirierend, jedoch auch ein wenig frustrierend, weil sofort eine Art Vergleichsspirale startet. Wenn ich meine Zeitgenossen betrachte, sehe ich, dass es eine immer größere Herausforderung ist hier in Ungarn in der Gegenwart zu leben. Man muss sehr oft verreisen oder gar im Ausland leben, damit man die Gegenwart akzeptieren, lieben und erleben kann. Doch in dieser Akzeptanz steckt auch, dass hier in Ungarn eine andere Gegenwart herrscht, mit anderen zu bewältigenden Problemen. Für mich war es ein langer Prozess bis ich in der Gegenwart ankam und ich akzeptieren konnte, dass ich 'jetzt' lebe. Was die hiesigen Zustände betrifft, ist es sehr wichtig zu lernen, dass wir immer etwas tun können. Auch wenn die Umstände für jungen bildenden Künstler sehr schwierig sind ... es gibt hier unzählige leeren Räume und überall kann eine Ausstellung organisiert werden: Dank der sozialen Medien ist es immer einfacher, Menschen zu erreichen. Man darf nur nicht auf große institutionelle Unterstützung hoffen, sondern muss auf Graswurzel-Initiativen setzen, auf den stolzen zivilen Tatendrang."
Archiv: Magyar Narancs

New York Review of Books (USA), 10.05.2018

Im aktuellen Heft erörtert Jessica T. Matthews die möglichen Ergebnisse eines Treffens zwischen Trump und Nordkoreas Kim Jong-un und rät, keine allzu großen Erwartungen zu haben: "Washington weiß, was Pjöngjang will: diplomatische Anerkennung, ein formales Ende des Koreakrieges durch einen Friedensvertrag mit den USA, Anerkennung seiner Nuklearmacht, Aufhebung der Sanktionen und evtuell. wirtschaftliche Unterstützung. Was die USA im Gegenzug fordern sollten und was Kim zu geben bereit ist, ist weit weniger klar. In zwei Punkten sollte es keine Konzessionen geben. Erstens darf Washington nichts zwischen sich und seine südkoreanischen und japanischen Alliierten kommen lassen. Es darf sich keine 'America-First-Haltung' erlauben, die die eigenen Risiken höher gewichtet als diejeingen Südkoreas und Japans. Zweitens muss, Nordkoreas Neigung, internationale Verträge zu brechen in Betracht ziehend, alles, was verhandelt wird, genau geprüft werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch im Fall Nordkoreas ein wichtiger Faktor. Überprüfung bedeutet, Nordkorea gibt eine genaue und ehrliche Deklaration seiner Waffen und allem, was damit zusammenhängt."

Anlässlich einiger Neuerscheinungen zeichnet Regina Marler ein umfassendes Bild der Fotografin Berenice Abbott, die als Autodidaktin und Assistentin von Man Ray begonnen hat: "Es muss ihren ehemaligen Arbeitgeber verärgert haben, dass einer von Abbotts frühen Porträt-Auftraggebern James Joyce war, der ihr mit seiner postoperativen Augenklappe in seiner Wohnung Modell saß (Fotos hier, hier und hier) und diese Erfahrung in 'Finnegans Wake' für die Ewigkeit festhalten würde. … Joyce hatte sich vorher auch von Man Ray fotografieren lassen - eine Werbekampagne für die Veröffentlichung von 'Ulysses' im Jahr 1922, im Auftrag von Sylvia Beach (Fotos hier, hier und hier). Man sucht vergeblich nach Anzeichen von Man Rays Einfluss auf Abbotts Werk. Ihre Porträts von Joyce (aus zwei verschiedenen Sitzungen) scheinen mehr von der Persönlichkeit des Schriftstellers zu vermitteln als Man Rays körniges, eng beschnittenes Profil und Dreiviertelansichten - vielleicht ein Effekt des natürlichen Lichts, das sie benutzte, oder ihrer größeren Tiefenschärfe. Die klassische Komposition ihres bekanntesten Bildes von Joyce (mit dem Hut) aus der zweiten Sitzung zeigt auch seine schönen, langen Hände, eine Offenbarung."

Respekt (Tschechien), 22.04.2018

Der Tod des Filmregisseurs Miloš Forman bewegt nach wie vor die tschechischen Feuilletons. Der Konservative Roman Joch hat den großen Filmemacher in den Lidové noviny sehr kritisch beurteilt: Forman habe jede Art von Autoritäten verachtet: "Warum hasste er nur so unsere Zivilisation?" und: "Was Leni Riefenstahl für den Nationalsozialismus war, war Forman für den Linksliberalismus". Joch beschließt seinen Artikel mit den despektierlichen Worten: "Jetzt wo er entschlafen ist - Gott schenke seiner verwirrten und verirrten Seele Frieden." Respekt-Chefredakteur Erik Tabery widerspricht ihm in seinem aktuellen Editorial aufs Schärfste und meint, Jochs Artikel habe nachgerade etwas von einer "Kaderbeurteilung". Petr Fischer erinnert in Novinky noch einmal an die günstige Atmosphäre von Formans Anfangsjahren: "Der lebensnahe Film, das Cinéma-vérité, wie die französischen Regisseure diese neue Richtung nannten, schaffte paradoxerweise eine Verbindung zwischen den Ingenieuren des Sozialismus und den jungen Künstlern. Die Kommunisten wollten das Leben zeigen, und zwar das bessere, das sie selbst den Menschen ermöglichten; die jungen Filmemacher kamen ihnen darin entgegen, auch wenn sie dieses Leben ein wenig anders zeigten als erwartet." Dass Forman die komischen, grotesken, ja auch dümmlichen Seiten der einfachen Leute zeigte, nahmen ihm die Kommunisten dann doch übel, weshalb er schließlich das Land verließ.
Archiv: Respekt

Places (USA), 23.04.2018

Was, wenn das Sammeln von Daten über den Menschen und seinen urbanen Lebensraum konvergiert - wächst dann das Verständnis vom Menschen oder die Gefahr? Shannon Mattern widmet sich in einem Artikel des Magazins den Auswüchsen des Bioengineering am Beispiel des Human Project, einer Kollaboration zwischen der New York University und der Kavli Foundation, die sämtliche Daten von 10 000 New Yorkern über einen Zeitraum von zwanzig Jahren aufzeichnet. Die Daten können nämlich Einfluss auf die Behandlung Kranker haben: "Die Ethikerin Celia Fisher ist der Meinung, dass Studien wie das Human Project genau definieren sollten, was die Begriffe Klasse, Ethnie und Kultur eigentlich bedeuten, und sie verstehen müssen, dass solche Definitionen ständig von sozialen und politischen Kräften neu definiert werden. Außerdem, so Fisher, sollten sie im Auge behalten, dass bestimmte Gruppen durch die medizinische Theorie und Praxis marginalisiert und sogar pathologisiert wurden … Die Geschichte kennt viele Beispiele für ethische Probleme, die entstehen, wenn Gesundheitsdaten den Kontext ihrer ursprünglichen Erhebung verlassen."
Archiv: Places

Quanta (USA), 18.04.2018

Die Entwicklungen chaotischer Systeme lassen sich nur sehr überschaubar vorhersagen - ab einem gewissen Komplexitätsgrad wird jede Prognose zur Spekulation. Natalie Wolchover meldet auf diesem Gebiet nun Fortschritte: An der Universität Maryland haben Edward Ott und sein Team einen Algorithmus entwickelt, der auf reichhaltiger Datenbasis relativ erfolgreich Aussagen über Ergebnisse der Kuramoto-Sivashinsky-Gleichung trifft. Mit dieser Gleichung lassen sich etwa Turbulenzen und anderes "raumzeitliches Chaos" beschreiben. Der Clou dabei: "Der Algorithmus selbst hat keinen Dunst von dieser Gleichung. Er erhält lediglich Daten über die sich voranschreitende Lösung der Gleichung. Dies stärkt den Aspekt des maschinellen Lernens. Denn in vielen Fällen ist die Gleichung, die ein chaotisches System beschreibt, nicht bekannt. Ott und seine Resultate legen nun nahe, dass man die Formel gar nicht kennen muss - schon die Daten reichen aus. 'Diese Forschungsergebnisse stellen in Aussicht, dass wir eines Tages das Wetter mittels maschineller Lern-Algorithmen vorhersagen könnten und nicht dank ausgeklügelter Klimamodelle', sagt Holger Kantz vom Max-Planck-Institut in Dresden. Neben der Wettervorhersage könnte maschinelles Lernen einigen Experten zufolge auch dabei nützlich dabei sein, Herzrhythmusstörungen auf Anzeichen eines bevorstehenden Infarkts hin zu beobachten und neuronale Feuerwerke im Gehirn im Hinblick auf Neuronen-Spikes. Auch wird darüber spekuliert, dass sie dabei behilflich sein könnten, Riesenwellen, die Schiffe in Gefahr bringen, vorherzusagen und womöglich sogar Erdbeben."
Archiv: Quanta

Bloomberg Businessweek (USA), 23.04.2018

Dass die Grundlagenforschung für neue Farbtöne so spannend sein kann, hätte man auch nicht gedacht: Zach Schonbrun hat einiges dazu aufgeschrieben, was einem so vielleicht noch nicht bewusst war. Dass die Farbe Rot zum Beispiel ein echtes Problem darstellt und man sich von einem Durchbruch in diesem Bereich einige Umsätze erwarten darf: "Der Welt fehlt ein rundum großartiges Rot. Schon immer. Wir haben uns bislang bloß mit Alternativen zufrieden gegeben, die entweder giftig oder schlicht eklig sind. Die Gladiatoren bemalten sich ihre Gesichter einst mit Zinnober auf Quecksilber-Basis. Tizian malte mit Rubinschwefel, der auf Arsen beruht. Die roten Mäntel der Britischen Armee waren mit zerdrückten Cochenilleschildläusen eingefärbt. Jahrzehntelang beinhalteten rote Legosteine Krebs erregendes Kadmium. Mehr als 200 natürliche und synthetische Rot-Pigmente sind heute bekannt. ... Doch nur ein einziges Rot ist stabil, ungiftig und beständig: Eisenoxid, oder roter Ocker. Der rote Ton, den man auf Steinzeitmalereien findet. 'Er strahlt allerdings nicht so sehr wie sich die Leute das wünschen', sagt Narayan Khandekar von der Harvard-Universität. Mit einem neuen Pigment könnte man jährlich Hunderte von Millionen Dollar verdienen und damit viele Produktkategorien beeinflussen."

Außerdem: Peter Waldman, Lizette Chapman und Jordan Robertson tragen Hintergründe zur umstrittenen Datenanalyse-Firma Palantir zusammen (mehr dazu brachten wir bereits im August vergangenen Jahres und und hier). Dank Trumps desaströser Einwanderungspolitik entscheiden sich immer mehr Fachkräfte für Kanada statt den amerikanischen Traum, berichten Karen Weise und Saritha Rei. Lionel Laurent fragt sich, was Bitcoin eigentlich wert ist (und wie man das ermittelt).

Novinky.cz (Tschechien), 20.04.2018

Nicht zufällig ist die Prager Burg - Sitz der böhmischen Könige - heute Sitz des tschechischen Staatspräsidenten: Petr Pithard untersucht in einem Essay das Verhältnis der Tschechen zu ihren Politikern und Herrschern durch die Geschichte hindurch und kommt zum Schluss: "Schon zu Zeiten Österreich-Ungarns erwarteten wir vom Staatsoberhaupt, dass es gute und gerechte Entscheidungen für uns fällt. Das tun wir immer noch, für die Politik selbst haben wir allerdings weder Lust noch Zeit übrig. Und wundern uns dann, wenn es nicht gut endet …" Ihre Präsidenten seien für die Tschechen allmählich etwas wie die Zaren für Russland. "Wir erwarten zu viel von ihnen und verzeihen ihnen fast alles. Wir vergöttern sie oder hassen sie. Und vor allem lassen wir ihnen durchgehen, dass sie nicht einmal die Verfassung respektieren, an die sie sich halten sollten: Wenn sie nicht passt, wird eben improvisiert."
Archiv: Novinky.cz
Stichwörter: Tschechien

New York Magazine (USA), 16.04.2018

In einer vielstimmigen Reportage gehen Michael Slenske und Molly Langmuir der Frage auf den Grund, ob und unter welchen Umständen weibliche Akte von männlichen Malern objektivierend sind. Um diese Frage von möglichst vielen Perspektiven her auszuleuchten, haben sie etliche Künstlerinnen und Künstler interviewt. Künstler sollen malen, was sie wollen, meint beispielsweise die feministische Künstlerin und Schriftstellerin Judy Chicago, eine der Gründerinnen des CalArts Feminist Art Programs am California Institute of Arts: "Vor einem Jahrzehnt unterrichtete ich ein Graduiertenseminar an der Universität von North Carolina in Chapel Hill, als ein junger Mann eine Frauenskulptur anfertigte, der er zuerst einen Mund hackte, um ihn dann mit einer Bandage zu bedecken. Die Frauen im Kurs hat das sehr verärgert. Als ich jünger war, hätte ich sie vollkommen unterstützt. Aber jetzt verstehe ich es als meine Aufgabe, nicht zu zensieren, sondern den Dialog zu eröffnen und dann zu versuchen, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Das Problem ist, dass Maler mehr Frauen malen als umgekehrt, was bedeutet, dass Frauen den Brutalitäten der männlichen Psyche ausgesetzt sind, während es für Männer kaum ein Gegenstück gibt. Also sagte ich den Studentinnen, dass ich mit ihnen fühlte, aber dass die menschliche Psyche nicht politisch korrekt ist. Sie ist voller unangenehmer Gefühle, weil  wir alle in einer patriarchalischen, sexistischen, frauenfeindlichen Gesellschaft aufgewachsen sind. Und wenn man anfängt, Kunst zu machen und seine Psyche auszuloten, kommen alle möglichen Dinge heraus."

La vie des idees (Frankreich), 20.04.2018

Sarah Mazouz liest ein Buch des amerikanischen Soziologen Rogers Burbaker: "Trans - Gender and Race in an Age of Unsettled Identities". Ausgehend von der Frauwerdung Caitlyn Jenners, die von verzückten Magazintiteln begleitet wurde, und der Aberkennung des Schwarzseins im Fall Rachel Dolezals, die ihre Stelle verlor, weil sie sich als Schwarze definierte, was sie nach Aussage ihrer Eltern nicht war, stellt sich Brubaker die Frage, ob es beim Begriff der "Rasse" nicht weiterhin einen biologischen Essenzialismus gebe, während beim Geschlecht alles eine Sache des Willensaktes wäre. Eigentlich erstaunlich, so Mazouz, denn "Rasse" wird viel mehr als ein Konstrukt angesehen als Geschlecht, das dann doch von ein paar biologischen Faktoren mit abhängt. Trotzdem widerspricht Mazouz dem Soziologen. Das entscheidende Kriterium für den Unterschied sei nämlich, dass bei "Rasse" auch die Anerkennung durch die betreffende Gruppe vonnöten sei: "Die Echtheit der Identifizierung wird nicht nach den selben Kriterien gemessen. Im Fall von Transgender zählt nur das Wort der betroffenen Person, denn das Motiv einer Geschlechtsumwandlung ist eine psychische Forderung nach persönlicher Echtheit. Im Gegensatz dazu reicht es nicht aus, sich als afro-amerikanisch zu identifzieren, um als solcher zu gelten. Ohne die vorherige Anerkennung der anderen Mitglieder der Gruppe, zu der man sich bekennt, und die als eine Autorisierung funktioniert, wird die physische Transformation als Betrug angesehen."

Außerdem in La Vie des Idées: Florence Delmotte sucht in der Soziologie Norbert Elias' nach Inspiration für die #MeToo-Debatte.

168 ora (Ungarn), 22.04.2018

Der Dichter und Schriftsteller Lajos Parti Nagy meldet sich nach Jahren mit einem neuen Gedichtband zurück. Warum es so lange gedauert hat, erklärt er im Gespräch mit Zsuzsanna Sándor: "Dichtung kann Medizin sein: Hinterland, Freiheitsgelände. Ich mache nicht die Welt für meine Gefühlslage verantwortlich, dennoch ist es kein Zufall, dass mein Gedichtband gerade jetzt fertig wurde. Nach den Wahlen von 2014 schloss ich die 'Ungarischen Märchen' ab, die ich drei Jahre lang wöchentlich in Élet és Irodalom veröffentlicht hattee. Ich hatte genug vom öffentlich-politischen Leben und von mir selbst. Ich war gesättigt. Was ich sagen wollte, hatte ich bereits tausendfach gesagt, mir war langweilig. Ich konnte nichts Neues, vor allem aber nichts Kluges sagen. Im Großen und Ganzen empfand ich, was ich auch heute empfinde: Ohnmacht. 2016 begann ich mit dem Gedichtband, zwei Jahre dauerte die Arbeit, genauer gesagt wusste ich, dass ich danach aufhöre. Dichtung ist eine Arbeit, die nicht abgeschlossen werden kann, jedoch kann man damit gut aufhören. Ich nahm mir die Freiheit, mich mit dem zu beschäftigen, was mir am wichtigsten ist. Und das ist auch in unserer Zunft nicht selbstverständlich. Wenn ich vom Schreiben lebe, muss ich oft viele Arbeiten annehmen, die ich zwar gerne tue, die mir jedoch sonst niemals in den Sinn kämen - wie Theaterstücke schreiben oder übersetzen."
Archiv: 168 ora
Stichwörter: Parti Nagy, Lajos

Guardian (UK), 23.04.2018

Der Guardian bringt einen Vorabdruck aus Corey Peins Recherche unter den aufstrebenden Unternehmern des Silicon Valley. Pein zog mit einer halb ausgegorenen Startup-Idee nach San Francisco und mietete bei AirBnB für 85 Dollar die Nacht zwei Quadratmeter in einem Fünf-Bett-Zimmer, das er mit Absolventen von Ivy-League-Unis teilte, die einen Service anbieten wollen, den bisher ihre Mütter kostenlos für sie erledigten: Essen bringen, Wäsche waschen, zum Training fahren. Noch schlimmer als die Zerstörung dieser Kultur durch unerwachsene Nerds findet Pein die Folgen für die Ökonomie: "Jobs von neun bis fünf mit Sozialleistungen und bezahlten Überstunden gehen vielleicht bei all der Disruption verloren, aber dafür haben wir das Internet, mit zahllosen Einzelaufträgen, und Möglichkeiten für Freie, über die Runden zu kommen, wird zu einem Videospiel: Man muss die richtigen Knöpfe drücken und bekommt sofort seine magere Belohnung. Über ein Drittel der Amerikaner arbeiten inzwischen als Freie oder kurzzeitig Beschäftigte, ihr Lebensunterhalt hängt vom Gutdünken ihrer Auftraggeber ab. Die Wahl, Unternehmer zu werden, wurde für sie getroffen. Die Zerstörung des Sozialsystems, der öffentlichen Bildung und organisierten Arbeit führte zu einem System, das man die 50-Cent-Ökonomie nennen kann und nur zwei Optionen lässt: Get rich or try dying."

Symeon Brown stellt die Wölfe von Instagram vor: Narzissten und Hochstapler wie der inzwischen berücjtigte Elijah Oyefeso, die so lange ihren Erfolg als Trader, Rich Kid oder Moneymaker vorgaukeln, bis sie so viele Follower haben, dass sie tatsächlich Kasse machen können.
Archiv: Guardian

Quillette (USA), 20.04.2018

Steven Pinker, Kognitionswissenschaftler und Autor des gerade erschienenen Buchs "Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism and Progress", überlegt im Email-Interview mit Quillette, was es mit der neuen alten "Progressophobie" auf sich hat, die weder Aufklärung noch Wissenschaft noch Fortschritt gelten lassen will: "Zum Teil hat es damit zu tun, dass hier Claims verteidigt werden: Kolumnisten, Kulturkritiker, literarische Intellektuelle, Geisteswissenschaftler und andere Anhänger von C.P. Snows 'Second Culture' ärgern sich über den Einfall von Wissenschaft, Daten und Quantifizierungen in Gebiete, die traditionell von ihnen beansprucht und abgeschirmt werden. Eine erstaunliche Anzahl unter ihnen sind Kulturpessimisten, die die Ideale der Aufklärung - Vernunft, Wissenschaft, Humanismus, Fortschritt - verabscheuen. Sie ziehen die Hermeneutik der analytischen Argumentation vor (einer der Gründe, warum sie mit Religion sympathisieren, selbst wenn sie Atheisten sind), sie betrachten den Genuss elitärer Kunst (als Gegensatz zum Wohlergehen der Masse der Menschheit) als höchstes moralisches Gut und glauben, dass die westliche Zivilisation vor dem Untergang steht und so dekadent und degeneriert geworden ist, dass alles, was aus dem Schutt auferstehen wird, nur eine Verbesserung sein kann. Diese Überzeugungen reichen zurück bis zur Gegenaufklärung im 19. Jahrhundert und sind überraschend widerstandsfähig."
Archiv: Quillette