Magazinrundschau

Ödipus kam nicht aus Dublin

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
30.10.2018. In En attendant Nadeau erklärt Georges-Arthur Goldschmidt: Kafka, das bin ich. Im New Statesman erklärt Fintan O'Toole den Vatermord zum Nationalsport irischer Schriftsteller. Osteuropa analysiert die polnische Justizreform. Im New Yorker erklärt Adam Hochschild, warum die Deutschen 1918 nicht verstanden, dass sie besiegt waren. Und das New York Magazine porträtiert Gentlewoman Penny Martin.

En attendant Nadeau (Frankreich), 23.10.2018

In Frankreich erscheint in der renommierten Klassikerbibliothek "La Pléiade" endlich eine neue maßgebliche Kafka-Übersetzung, nachdem die erste Übersetzung durch den Autor Alexandre Vialatte über allzuviele Jahre auch aus urheberrechtlichen Gründen unangetastet blieb. Die neue Übersetzung folgt der aktuellen Gesamtausgabe bei Fischer und wurde besorgt von dem Herausgeber Jean-Pierre Lefebvre und einigen KollegInnen. In En attendant Nadeau spricht Tiphaine Samoyault mit Lefebvre und Georges-Arthur Goldschmidt über das Übersetzen von Kafka. Goldschmidt, der an der Ausgabe nicht mitwirkte, aber den "Prozess" ebenfalls übersetzt hat, überlässt dem Herausgeber über lange Strecken das Gespräch. Aber interessant liest sich, was er über seine erste Begegnung mit Kafka sagt: "Ich habe Kafka im Jahr 1950 in Norddeutschland entdeckt. Mein Gefühl der Deplatziertheit (ich bin ein überlebender aus Versehen) hat mich gleich denken lassen: 'Kafka, das bin ich.' Das hat mir einen Schlag versetzt, wie ich ihn niemals wieder verspürt habe. Diese Urschuld, in der ich mein Leben verbrachte, habe ich bei Kafka wiedererkannt, so wie die Erfahrung der Razzia, der willkürlichen Festnahme, die er in drei knappen Zeilen festzuhalten versteht. Die Übersetzung ist für mich wie eine Rückgabe von etwas, das ich erhalten hatte. Während der ganzen Zeit der Übersetzung war ich von ihm durchdrungen, von dieser Kraft des Mangels und der Hoffnungslosigkeit die seinem Schreiben und seiner Sprache Leben geben. Erst die Hoffnungslosigkeit erzeugt diese Energie."

Goldschmidt bespricht in der aktuellen Nummer von En attendant Nadeau außerdem einen Essay Nicolas Weills über die "Schwarzen Hefte" Martin Heideggers. Über Heidegger schreibt er: "Das Ressentiment, das im Werk des Denkers von Messkirch allgegenwärtig ist, verhindert von vornherein eine wirkliche Entfaltung seines Denkens. Der versperrte Zugang zum 'Sein', seine eigene Unfähigkeit, ist der Kern seines Denkens, das er immer nur wie von außen betrachtet. Dieses ursprüngliche und nicht eingestandene Versagen wird als Ressentiment auf das jüdisch-metaphysisch 'Seiende' ausgegossen."

New York Magazine (USA), 30.10.2018

Penny Martin ist die Chefredakteurin des derzeit wohl renommiertesten Modemagazins der Welt, The Gentlewoman. Hier begegnen sich Frauen als Kollegen, sie sprechen im Interview detailliert über ihre Arbeit in der Mode, im Film, in der Architektur oder Kunst. Und sie sind "interessant, weil sie es riskieren dürfen, langweilig zu sein, was einem wie ein Luxus vorkommt. Der Leser absorbiert ihre Bekenntnisse wie eine zufällig mitgehörte Unterhaltung in einem ruhigen Restaurant - unvertraut, aber intim und fesselnd", schreibt Molly Fischer, in ihrem Porträt Penny Martins. "Martin war einst Doktorandin in Designgeschichte. Ihre Arbeit - die sie nie abgeschloss - handelte vom Thatcherismus und der britischen Mode der 1980er Jahre. Zu dieser Zeit begannen Werbetreibenden das so genannte moving target zu verfolgen, ein Branchenbegriff für die schwer fassbare berufstätige Frau, die Martin auf den Seiten der Vogue 'mit einer Aktentasche vor Lloyd's of London die Straße hinunterkommen sah'. Anna Wintour, in jener Zeit Redakteurin der britischen Vogue, spielte in Martins Projekt eine wichtige Rolle. Martin interessierte sich bereits für die Vogue, bevor sie zur die Universität ging; heute hat sie eine Sammlung, die bis in die frühen 1960er Jahre zurückreicht. Als sie an ihrer Doktorarbeit arbeitete, fanden die meisten ihrer Altersgenossen die Vogue-Fotos 'zutiefst unmodern', eine 'absolute Apotheose des neokonservativen Images'. Doch sie faszinierten Martin. Die Fotos zielten auf ihre Art darauf ab, Frauen in Bewegung darzustellen, als Menschen, die Dinge tun. 'Ich würde nicht sagen, dass unsere Politik, unsere Imageträger oder gar unser Geschmack gleich sind', erklärt sie - aber sie sieht den Einfluss des Magazins in The Gentlewoman."

Außerdem lesenswert: Jessica Presslers Porträt der deutsch-russischen Hochstaplerin Anna Delvey, die New York um den den Finger wickelte.

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.10.2018

ln Ungarn ist ein Gesetz verabschiedet worden, das es künftig erlaubt, Obdachlosigkeit mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden. Für den Rechtsanwalt Gábor Gadó ist dieses Gesetz nicht mit der Verfassung vereinbar: "Der von Viktor Orbán geleitete Parteiverbund strebt unermüdlich danach, die Folgen von ihrer Ursache zu trennen, als wäre es möglich, jemandem seine Würde zu nehmen, ohne die Folge des vollkommenen Ausgeliefertseins zu produzieren. Als könnten Personen, die laut Gesetz kaum noch als Menschen gelten, noch ihren durch die 'Verfassung garantierten Schutz' einfordern."

Eurozine (Österreich), 29.10.2018

Eurozine übernimmt aus Osteuropa einen Artikel, in dem die Soziologin Marta Bucholc und der Jurist Maciej Komornik noch einmal Punkt für Punkt die polnische Justizreform diskutieren, die Argumente der polnischen Regierung berücksichtigen und mit anderen Ländern vergleichen. Und obwohl sie zugeben, dass die polnische Justiz zu Recht als dysfunktional eingestuft wird, ziehen sie am Ende ein erwartungsgemäß verheerendes Fazit: "Die PiS sieht im Pluralismus ein Problem. Wo immer möglich, zielt sie darauf, Diversität auszulöschen. Pluralismus in Poland war der Verfassung von 1997 eingeschrieben, die ihren Ursprung nach auf den Geist des Rundes Tischs von 1989 zurückgeht. Anders als Fidesz in Ungarn hat die PiS die Verfassung nicht durch eine andere ersetzt. Aber sie versucht, sie als 'reinen, erstarrten Postkommunismus' zu diskreditieren und am Ende aufzuheben. Die PiS will mit der Justizreform die letzten Überreste von Postkommunismus tilgen. Sie ist ein Schlüsselelement in der Ideologie des 'Wandel zum Besseren', bei dem es vor allem darum geht, den Staat von seinen angeblichen Feinden zu säubern, Schlüsselpositionen im Staatsapparat mit den eigenen Leuten zu besetzen und den institutionellen Pluralismus auszuradieren, der einer Gewaltenteilung innewohnt."

Osteuropa selbst bringt in seinem Sonderheft zu Georgien einen sehr instruktiven Artikel des Philosophen Giga Zedania über Georgien als autokratische Demokratie, die Konkurrenz zweier Eliten und die Gleichzeitigkeit von Moderne und mittelterlichen Traditionen.

Archiv: Eurozine

Quietus (UK), 24.10.2018

Ambient Music nannte Brian Eno seine Musik einst - was heute aber unter dieser Rubrik in den immens populären Spotify-Playlists von namenlosen Künstlern an berufsgestresste Abnehmer verkauft wird, ist wahrlich auf den Hund gekommen, ärgert sich William Doyle anlässlich der anstehenden Wiederveröffentlichung von Enos stilbildendem Albenzyklus aus den 70ern und frühen 80ern: "Die heutige Welt unterscheidet sich gründlich von der Prä-Walkman-Zeit, als 'Music for Airports' erschien. Musik ist heute ein komplett mobiles, endloses Kontinuum. Die Streamingkultur hat uns zu jeder Zeit unbegrenzten Zugang zu Musik verschafft. Die Möglichkeit, sie überall zu spielen, wann immer wir wollen, stellt ohne weiteres in Aussicht, dass die in Enos Ambientidealen liegenden Versprechen endlich komplett eingelöst werden. So gut wie jeder Raum kann leichter Hand klanglich eingefärbt werden. Die Technologie, um interessante Musik zu machen, ist leichter zugänglich denn je." Produziert würden aber, von einigen herausstechenden Künstlern abgesehen, vor allem Stereotype und Gefälligkeiten aus dem Fundus der Gebrauchsmusik: "Alles komplett anästhesiert. Kein Spielraum für Nuancen und Fehler. Selbst das begleitende Artwork ist in jeder Hinsicht auf Homogenität runtergebrochen: wallende Wellen an Küsten, Sonnenuntergänge durch Fenster, unpassende geometrische Formen, die über die Schneespitzen von Bergketten gelegt werden. Dies ist das musikalische Äquivalent zu Tapeten mit Magnolia-Mustern und der in Harz gegossenen, im Schlafzimmer drapierten Aufforderung 'ENTSPANN DICH', damit man auch ja nicht vergisst, was man hier zu tun hat."

Gut, überzeugt. Wir greifen zum Original:



Außerdem bringt The Quietus einen Auszug aus den Memoiren der Grande Dame der englischen Folkmusik, Shirley Collins, in dem sie die Erfahrungen ihrer Familie im Ersten Weltkrieg schildert. Und Michael Brooks plaudert mit dem philosophischen Essayisten Eugene Thacker über eine konsequent pessimistische Weltanschauung.
Archiv: Quietus

New Statesman (UK), 25.10.2018

"Die ödipale Macht ist in der männlichen irischen Literatur mindestens so stark wie in Star Wars, meint vergnügt der irische Autor Fintan O'Toole, der mit Hingabe Colm Tóibíns "funkelndes" kleines Buch "Mad, Bad, Dangerous to Know" über die Väter von Oscar Wilde, WB Yeats und James Joyce gelesen hat: "Es scheint ursprünglich den Titel "Verlorene Väter" getragen zu haben - der Phantomtitel erscheint auf der Innenseite des Umschlags. Er mag wegen Sir William [Wilde] fallen gelassen worden sein, auf den das Wort - mit seiner Anspielung auf verschwendetes Talent - schlecht gepasst hätte. Aber er hätte sicherlich gut für John Butler Yeats und John Stanislaus Joyce gepasst. Und doch ist die Freude an Tóibíns gelehrten, subtilen, witzigen und oft tief bewegenden biografischen Essays, dass die väterliche Verschwendung einer Generation zum Kraftquell neurotischer Energie für die nächste Generation werden kann. ... Ödipus kam, soweit wir wissen, nicht aus Dublin, ebenso wenig wie Turgenjew, Edmund Gosse oder Edward St. Aubyn. Aber wenn es sich bei Vatermord um einen importierten Geschmack handelt, ist es, wie beim Teetrinken, einer, der den einheimischen Gaumen sehr anspricht. In dem irischsten aller Theaterstücke, John Synges 'The Playboy of the Western World', tötet Christy Mahon zweimal seinen Vater und wird zumindest beim ersten Mal dafür wegen seiner Kühnheit verehrt. Bernard Shaw hegte eine solche Verachtung für seinen Vater, dass er seinen eigenen Vornamen George fallen ließ, weil dieser ein väterliches Erbe war. 'Ich will kein Vater sein', sagt der Dauphin in 'Saint Joan', 'Und ich will kein Sohn sein.' Shaw gab das Versicherungsgeld, das nach dem Tod des armen George Shaw fällig wurde, für einen neuen Anzug von Jaeger und ein Paket Kondome aus."

Lesen kann man außerdem eine Rede von Elif Shafak über die Bedeutung des Romans in Zeiten der Wut.
Archiv: New Statesman

New Yorker (USA), 05.11.2018

Der Erste Weltkrieg hörte so sinnlos auf, wie er begonnen hatte: In einem erhellenden Text zum Waffenstillstand vom 11.11.1918 bemerkt der amerikanische Historiker Adam Hochschild, dass selbst an diesem Tag noch einmal 2.700 Soldaten auf beiden Seiten ums Leben kamen, mehr als bei der Landung der Alliierten in der Normandie im Zweiten Weltkrieg. Und die deutsche Bevölkerung musste weiter hungern, auch weil Briten und Franzosen partout nicht die Blockade aufheben wollten. Überhaupt erklärt Hochschild sehr eingängig, warum die Deutschen die Welt nicht mehr verstanden. Es lag nicht am Versailler Vertrag, der "bei weitem nicht so harsch war wie andere Verträge, die besiegten Nationen auferlegt worden waren. Das Problem lag woanders: Als der Krieg in der elften Stunde des elften Tages im elften Monat des Jahres 1918 zu Ende ging, fühlten sich nur wenige Deutschen besiegt. Der Groll, der zwei Jahrzehnte später zu neuen Kataklysmen führen sollte, wurde in Wahrheit mit dem Waffenstillstand geschmiedet. Zunächst einmal war der Waffenstillstand kein Waffenstillstand: die Alliierten verlangten - und erhielten - eine Kapitulation. Doch die deutsche Zivilbevölkerung hatte keine Ahnung, dass ihr viel gepriesenes Militär dabei war zusammenzubrechen. Ihre Unwissenheit war das fatale Ergebnis einer unerbittlichen Propaganda ... Die Illusion wurde genährt durch die Tatsache, dass bis zum Ende fast alle Schlachten auf fremdem Boden geführt worden waren. Die einzigen größeren Kampfhandlungen in Deutschland endeten, schon zu Beginn des Krieges, mit der spektakulären Niederlage der unbeholfen einmarschierenden Truppen von Zar Nikolaus II. Darüberhinaus überließ Russland Anfang 1918 mit dem Frieden von Brest-Litowsk an die siegreichen Truppen Deutschlands und Österreich-Ungarns über eine Million Quadratmeilen fruchtbaren Landes, vor allem in Gebieten, die heute zu Polen, Belarus, der Ukraine oder den baltischen Staaten gehören. Wer hat jemals von einem Land gehört, das sich unter solchen Bedingungen ergibt?"

Weiteres: Sarah Stillman recherchiert, wie viele junge Mütter wegen geringfügiger Vergehen in den USA ins Gefägnis gesteckt und damit von ihren Kindern getrennt werden. Iain Frazier rekonstruiert in einem großen Report, wie es 2017 zu den großen Präriebränden in Oklahoma, Kansas und Texas kam. Peter Schjedahl feiert die Bruce-Nauman-Restrospektive im Moma PS1 in New York.
Archiv: New Yorker