Magazinrundschau

Die wahre Seele der Revolution

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.12.2018. Wer sah zuletzt hundert Blauwale auf einmal, steckte in einem Dorschschwarm fest oder sah sein Kanu von Lachsen überschwemmt? Wir verlieren nicht nur ganze Arten, sondern auch das Leben in seiner schieren Menge, fürchtet die New York Times. Warum heiraten geniale Frauen Heroinjunkies - oder Lehrer, fragt sich die London Review. Der Merkur rechnet mit der Machtfigur des Theaterregisseurs ab. Im Believer erklärt Regisseur Barry Jenkins, warum dunkle Haut im Film plötzlich sichtbar ist.

New York Times (USA), 02.12.2018

Im aktuellen Magazin der New York Times befasst sich Brooke Jarvis mit dem Insektensterben. Was die Apokalypse der Käfer und ihrer Artgenossen für uns bedeutet, steht hier: "Der derzeitige weltweite Verlust biologischer Vielfalt wird als sechstes Aussterben bezeichnet. Das sechste Mal in der Weltgeschichte verschwindet eine große Anzahl von Arten in ungewöhnlich kurzer Zeit, diesmal nicht durch Asteroide oder eine Eiszeit, sondern durch den Menschen. Wenn wir über den Verlust der biologischen Vielfalt nachdenken, denken wir an die letzten weißen Nashörner, die von bewaffneten Wachen geschützt werden, an Eisbären auf schwindenden Eisschollen. Das Aussterben ist eine viszerale Tragödie, die allgemein begriffen wird: Es gibt kein Zurück mehr. Die Schuld, eine einzigartige Spezies verschwinden zu lassen, bleibt für immer. Doch das Aussterben ist nicht die einzige Tragödie. Was ist mit den Arten, die noch existieren, aber als Schatten dessen, was sie einst waren? In 'The Once and Future World' zitiert der Journalist J.B. MacKinnon Aufzeichnungen aus den letzten Jahrhunderten, die auf das eben Verlorene hinweisen: 'Im Nordatlantik hält ein Dorschschwarm ein großes Schiff fest; vor Sydney segelt ein Schiffskapitän durch Pottwalherden, so weit das Auge reicht; Pioniere im Pazifik beschweren sich bei den Behörden, dass Lachs droht, ihre Kanus zu kentern.' Es gab Berichte über Löwen in Südfrankreich, Walrosse an der Themsemündung, Vogelschwärme, die drei Tage brauchten, um über uns hinweg zu fliegen, bis zu hundert Blauwale auf einmal im Südlichen Ozean. 'Das sind keine Sensationen aus Urzeiten', schreibt MacKinnon. 'Wir reden über Dinge, die das menschliche Auge gesehen hat, die im menschlichen Gedächtnis bewahrt sind.' Was wir verlieren, ist nicht nur das Diverse in der Biodiversität, sondern auch den Bio-Teil, die Masse: das Leben in seiner schieren Menge. Während ich diesen Artikel schreibe, stellen Wissenschaftler fest, dass die größte Königspinguinkolonie der Welt in 35 Jahren um 88 Prozent geschrumpft ist, dass mehr als 97 Prozent des Roten Thuns, der einst im Meer lebte, verschwunden sind. Die Zahl der in Frankreich in einem Jahr verkauften Spielzeuge von Sophie, der Giraffe, ist neunmal so hoch wie die Zahl aller Giraffen, die noch in Afrika leben."
Archiv: New York Times

Magyar Narancs (Ungarn), 03.12.2018

Der Schriftsteller György Dragomán, derzeit Stipendiat des Wissenschaftskollegs zu Berlin, zeigt im Gespräch mit József Kling keine Furcht vor dem viel beschworenen Ende des Lesens: "Die Buchstaben muss man noch nicht zu Grabe zu tragen. Viele Menschen lesen Literatur, wenn nicht in Buchformat, dann auf E-Book oder auf Facebook. Der Textträger ist gleichgültig. Ich halte es für wichtig, dass auch die Tageszeitungen Belletristik abdrucken. Was ist den heute aus einer alten Zeitung mit hoher Wahrscheinlichkeit verwertbar? Die Literatur. Wir schulden uns selbst, dass wir lesen, weil dies der einzige Weg ist, dem Königreich der Schwejkschen Dummen zu entkommen. Texte lehren denken und dass wir nicht der Lüge glauben sollen."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Dragoman, György

London Review of Books (UK), 06.12.2018

Ein Jammer, dass wir die Schriftstellerin Lucia Berlin erst so spät entdeckt haben, seufzt Patricia Lockwood, die Berlins unvergleichlichen Mix aus Minimalismus und Exzess einfach überwältigend findet. Woher der Mix kommt, kann Lockwood in den Memoiren "Welcome Home" nachlesen, die vom tragisch-glamouröse Eheleben einer genialen Frau erzählt: "Ein Bildhauer-Ehemann, der sie an jedem Ort neu arrangieren wollte, ein Jazz-Pianist, der nicht mit ihr sprach. Vielleicht sind das die Ironien der Fünfziger. Auftritt Buddy Berlin, der mit [ihrem damaligen Ehemann] Race Newton Saxofon spielte. Lucia hatte in New Mexiko eine kurze Affäre mit ihm, die endete, als sie mit Race nach New York zog. Lucia verkaufte Kinderponchos, lebte im gleichen Haus wie Denise Levertov und war glücklich - wie könnte sie nicht? -, bis eines Nachts Buddy auftauchte, 'mit einer Falsche Brandy und vier Tickets nach Acapulco'. In jener Welt nannte man das eine Geste, und an eine Person wie Lucia Berlin waren Gesten nicht verschenkt. Am nächsten Tag sandte Race ein Telegramm an Ed Dorn, in dem es unter anderem hieß: 'Lucia und Kinder sind letzte Nacht weg mit Berlin. Absolut keine Warnzeichen vorher. Sie ist irrational.' Ach ja? Vielleicht wollte sie lieber einen Heroinjunkie heiraten als noch einen Lehrer. Geniale Frauen heiraten oft Lehrmeister, vielleicht weil ihr Lernhunger so groß ist, dass sie oft bei Typen landen, die sich gern so stilisieren, auch wenn sie nur Schwindler sind ... Buddy gab ihr auf andere Art Nachhilfe - er war ein Lehrmeister in Lebensfreude und Vergnügen, ein Rattenfänger. Sensationell reich geworden, zuerst durch das Geld seiner Frau Wuzza, dann durch eine Volkswagen-Vertretung, die er durch sie bekam und die eine der ersten im Westen war und so erfolgreich, dass es ihn über alles erhaben machte, worum Menschen sich sorgen müssen."  

Weitere Artikel: James Meek liest Alan Rusbridgers Rückblick auf den Journalismus und dessen Niedergang. Vor allem eine Lehre entnimmt er "Breaking news": "Das Internet hat nicht unbedingt das Verhältnis der Menschen zu den Nachrichten verändert, sondern ihr Selbstbewusstsein beim Lesen. Zuvor waren wir isolierte Empfänger, jetzt wissen wir, dass wir Mitglieder einer Gruppe sind, die in gemeinsamer Weise auf eine Nachricht reagieren. Das erleichtert erfreulicherweise die Solidarität mit Unterdrückten, Aktivisten, Minderheiten. Aber auch die Paranoiden, Misstrauischen, Fremdenfeindlichen und Verschwörungstheoretiker wissen jetzt, dass sie nicht allein sind."

Merkur (Deutschland), 01.12.2018

Mit #MeToo sind auch die letzten Burgen des Regietheaters unter Beschuss gekommen. Gut so, meint der Theaterwissenschaftler Kai van Eikels und holt zu einer Generalabrechnung mit einem Machtgefüge aus, in dem der Regisseur den Autor vom Thron stürzte, um sich selbst als Herrscher der Kunst zu installieren, der seine Vision von einer egalitären Gesellschaft mal subtil, mal krachig von der Bühne verkünden ließ: "Nachdem Begriffe wie Sexismus, Rassismus und Diskriminierung so verbreitet und populär verfügbar geworden sind, dass auch Schauspielerinnen und Assistentinnen sich in kritischer Absicht darauf zu berufen trauen, ruft das Herrschaftsgebaren von Regisseuren schließlich die Empörung hervor, die über Jahrzehnte ausgeblieben war, obwohl viele um die Gewalt im Arbeitsalltag der Stadt- und Staatstheater wussten. In den Reaktionen derer, gegen die Vorwürfe erhoben werden, hört man neben einer Mischung aus Larmoyanz und Anwaltsberatung echte Fassungslosigkeit darüber, dass so konkrete, unzweideutig wörtlich moralische Anschuldigungen auf einmal zählen sollen. Muss man das nicht reflexiver sehen? Nein, lautet die gegenwärtige Antwort, muss man nicht. Die Stärke dieser neuen Auseinandersetzung mit Theaterarbeit - und künstlerischer Arbeit überhaupt - liegt eben im Insistieren auf dem Recht des einfältig Realen, wie die Frage 'Ist das gut?' es zum Vorschein bringt. Das oft als Moralismus Geschmähte wendet sich im Namen von banalen, aber realen Einzelheiten gegen eine Souveränität, die ihre Übergriffe gerne damit legitimiert, einem komplexeren, anspruchsvolleren, Opfer erfordernden Ganzen zu dienen."

Wir müssen reden? Von wegen! Mündliche Kommunikation wird völlig überschätzt, findet Kathrin Passig, oft von Psychologen, aber auch von Leuten mit fiesen Privilegien: "Naturgemäß kommt die Verteidigung der Mündlichkeit vor allem aus Gruppen, die durch physische Anwesenheit Vorteile genießen, also von Personen mit unproblematischen Körpern, die redegeübt und sozialkompetent sind und es sich leisten können, zur richtigen Zeit lange genug am richtigen Ort zu sein."
Archiv: Merkur

Eurozine (Österreich), 29.11.2018

Der in Prag lehrende Politologe Mark Galeotti untersucht (ursprünglich für die bulgarische Zeitschrift Critique & Humanism) die Art der russischen Einflussnahme, die alle westlichen Länder in den letzten Jahren heimgesucht hat und macht - auch unter Zitierung russischer Militärzeitschriften - klar, dass die Russen diese Einflussnahme als "Krieg" verstehen. Es kommt in Putins Doktrin auf die politische Wirkungen an, nicht auf die Mittel, so Galeotti. Aber er weiß auch eine Abwehr: "In vielerlei Hinsicht ist die beste Abschreckung gegen die Form des 'politischen Krieges' nicht so sehr eine direkte Reaktion - obwohl sie zweifellos ihren Platz haben kann -, sondern die Schaffung eines ausreichenden gesellschaftlichen Widerstands, so dass die Subversion wahrscheinlich scheitern wird. Der Kreml ist pragmatisch, und er wird keine politischen und wirtschaftlichen Ressourcen für unrealistische Operationen verschwenden, die zu peinlichem Scheitern verurteilt sind. Wenn das Schlachtfeld also im Bereich des guten Funktionierens von Regierung und Gesellschaft, der Governance, liegt, dann werden sich die Waffen und Maßnahmen erheblich von üblicher Kriegsführung unterscheiden: Entscheidend sind effektive Abwehrdienste, angemessene Aufsicht über den Geldfluss und ernsthafte Kontrolle der Korruption im eigenen Land, Medienbewusstsein für eine neue Generation von Bürgern, um sie weniger anfällig für Manipulationen aus welcher Quelle auch immer zu machen, und vor allem Bemühungen, die Wirksamkeit und damit Legitimität bestehender politischer Strukturen zu erhöhen."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Russische Einflussnahme

Believer (USA), 30.11.2018

Regisseur Barry Jenkins kommt im Gespräch mit Morgan Jenkins auf ein wenig bekanntes Detail der Filmproduktion: An der Filmhochschule fiel ihm auf, dass Schwarze auf Film oft nicht gut rüberkamen. "35mm-Film war nie dafür gedacht, dunklere Hauttöne akkurat zu reflektieren und zu reproduzieren. All den Mist lernte ich, indem ich laufend Filme drehte und mich immer wieder fragte, warum sie so schlecht aussahen. ... Dann gab es da einen Film namens 'City of God' (Szene), mit dem brasilianischen Kameramann César Charlone. Ich erinnere mich daran, den Audiokommentar dazu gehört zu haben. Da gibt es eine Szene, bei der sich die Schauspieler in einem Baum befinden. Es ist ein sehr dunkler Film - dunkel im Tonfall, aber auch, was die Hauttöne betrifft. Und sie fotografierten ihn dennoch... Ich dachte erst, sie haben das im 'Day for Night'-Verfahren gemacht. War aber nicht so. Und ich dachte mir nur noch: Wie schaffen die das - Leute, die dunkler sind als ich, so zu fotografieren, dass sie buchstäblich Mondlicht reflektieren? ... Ich selbst habe einfach wahnsinniges Glück, bin geradezu privilegiert, weil es heutzutage diese Kamera namens ARRI Alexa gibt. Die Alexa wird in Deutschland hergestellt. Wir nutzten diese Linsen, Hogg-Linsen, die ebenfalls in Deutschland hergestellt werden. All die Technik für 'Moonlight' kam aus Deutschland, was schon sonderbar ist. Aber die Kamera ist digital, hält sich also nicht an die Regeln der systemisch rassistischen 35mm-Emotion. So kommt es, dass man eine sehr dunkle Person direkt neben eine sehr helle Person stellen kann. Und dieses Ding hat soviel Belichtungsumfang, dass man in der Postproduktion bis tief in die Schatten vordringen kann. Man kann sie nach oben und die Helligkeit nach unten pegeln, ganz wie man will. Heutzutage kann ich also kalibieren wie ich kalibrieren will. Hätte ich diesen FIlm 2012 gedreht, mit dem Budget, das uns zur Verfügung stand, er hätte ganz sicher nicht so ausgesehen, wie er heute aussieht." Dazu passend ein kleines Video, das insbesondere den Filmaspekt plastisch veranschaulicht:



Ein vergnügliches Gespräch hat Gina Telaroli mit John Waters geführt, dem "Pope of Trash", der einige der bizarrsten Filme der Filmgeschichte gedreht hat. Den Anlass dafür bot eine Retrospektive in Waters' Heimatstadt Baltimore, die vor allem seine Kunst - nicht so sehr seine Filme - feierte. Auch wenn Film seine Kunst informiert - etwa in den aufwändigen Fotocollagen, für die er Filmsequenzen klassischer Hollywoodfilme von alten Röhrenfernsehern abfotografiert. Insbesondere die Schauspielerin Dorothy Malone - und ihre Performance im Melodram "Susan Slade", in dem unfassbarerweise ein Baby in Flammen aufgeht - stellt dabei ein besonderes Interessensgebiet dar, weil sie in allen Filmen ihren Kragen aufgerichtet trägt: "Dieser Kragen war ihre Kennzeichen. Als ich 'Dorothy Malone's Collar' erstellte, ging ich also all ihre Filme durch und achtete dabei nur auf ihren Kragen. Das nenne ich mal ein obskures flüchtiges Detail einer Filmkarriere. ... Meine Kunst ist High-Concept. So, als würde man einen Film bewerben oder wie ich möchte, dass man sich an einen Film erinnert. Niemand erinnert sich bei Douglas Sirks 'In den Wind geschrieben' an Dorothy Malones Kragen. Für mich stellt dies aber das allerwichtigste Detail dar. Das möchte ich zelebrieren und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Weshalb ich immer sage, dass ich ein gescheiterter Publizist bin. Keines der Movie Stills meiner Ausstellungen sollte jemals dasjenige Bild sein, mit dem der Film beworben wird. Weil es nie um jenen Aspekt geht, der einen Film tatsächlich ans Publikum verkauft."

Dorothy Malone in Sirks "In den Wind geschrieben"
Archiv: Believer

Novinky.cz (Tschechien), 30.11.2018

Saverio Costanzo, der Elena Ferrantes international erfolgreiche "Geniale Freundin"-Tetralogie als TV-Serie verfilmt hat (er traf die unter Pseudonym agierende Autorin nicht persönlich, sie kontaktierte ihn über Mail), erzählt im Gespräch mit Iva Přivřelová, worin er die aktuelle Bedeutung von Ferrantes Werk sieht: "Erzählungen über weibliche Freundschaften findet man in der Literatur noch mehr, hier aber steht für mich vor allem das Thema der Bildung und der Bildungswege im Mittelpunkt. Meiner Meinung nach geht es in der ganzen Geschichte weder um Feminismus noch um weibliche Emanzipation, sondern eben um Bildung. Ein Lehrer kann das Schicksal deines Lebens verändern. Wissen und Kultur stellen die einzige Möglichkeit dar, sich als Mensch zu entwickeln. Das ist für mich die politische Botschaft des Buchs. Übrigens fungiert die Bildung darin nicht nur für die Frauen, sondern auch für einige männliche Figuren als Ausweg aus der Armut."
Archiv: Novinky.cz

Reuters (USA), 29.11.2018

Die Verfolgung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang ist in letzter Zeit häufig thematisiert worden. Dennoch ist das große Online-Dossier, das Reuters unter dem Titel "Tracking China's Muslim Gulag" veröffentlicht, lesenswert: Denn es handelt sich um eine ganz trockene, visuell allerdings beeindruckend aufgemachte Bilanz der Bautätigkeiten in der Provinz, die zeigt, das im Lauf von nur 18 Monaten Dutzende von Lagern entstanden sind. Einige davon riesigen Ausmaßes. Zwei Quellen standen den Autoren zur Verfügung: Satellitenbilder und öffentliche Ausschreibungen: "Die meisten Gebäude sind seit Anfang 2017 gebaut worden, sagt Shawn Zhang, ein Jurastudent in Kanada, der die Regierungsdokumente und Open-Soruce-Satellitenbilder nutzte, um Dutzende von Lagern zu identifizieren. Seit neuestem, sagt Zhang, hat die Regierung aufgehört, neue Ausschreibungen zu veröffentlichen, während sie ältere aus dem Internet löscht."
Archiv: Reuters
Stichwörter: Uiguren, Xinjiang, Gulag, Kanada, Tracking

La vie des idees (Frankreich), 23.11.2018

Über die "Gilets jaunes" wird viel Unsinn geredet, schreibt der Geograf Aurélien Delpirou. Es handle sich keineswegs um eine pauperisierte Bevölkerung vom Land, sondern um eine sehr gemischte und teils ganz normal verdienende Population, die am Rand von Städten, auf locker besiedelten Flächen und in Kleinstädten lebt - wo man natürlich auf das Auto angewiesen ist: Die lockere Urbanisierung der großen Flächen sei "weder Zufall noch Schicksal. Sie wurde stark gefördert, einerseits von Bürgermeistern, die nach der Dezentralisierung der Stadtplanung bestrebt waren, ihre Gemeinden auf jeden Fall zu entwickeln, selbst wenn man Eigenheimsiedlungen, Geschäftszentren, ja sogar Behörden über die Peripherien verstreute. Aber diese städtische Ausbreitung, die einzigartig ist in Europa, wurde andererseits auch vom Staat gefördert, der es Bürgern ermöglichte, Eigentum zu erwerben. Anstatt zu versuchen, sich zu Sprechern der Bewegung zu machen, sollten nationale und lokale Mandatsträger zunächst ihre Verantwortung übernehmen."
Stichwörter: Gilets Jaunes, Stadtplanung

New Yorker (USA), 10.12.2018

Im neuen Heft des New Yorker trifft ein bewundernder James Somers die beiden einflussreichen Google-Programmierer Jeff Dean und Sanjay Ghemawat, die das Unternehmen zu dem gemacht haben, was es heute ist. Und die zeigen, dass man sehr gut zu zweit programmieren kann: "Wir sagen, wir suchen 'im Web', aber das tun wir nicht wirklich; unsere Suchmaschinen durchqueren einen Index des Netzes, eine Karte. Als Google noch BackRub hieß, war seine Karte klein genug, um auf ein paar Computer zu passen, die im Wohnheim-Zimmer von Larry Page standen. Im März 2000 gab es keinen Supercomputer, der groß genug war, um die Karte zu verarbeiten. Google musste Rechner kaufen und sie in Reihen zusammenschalten. Da die Hälfte der Kosten für diese Computer für Floppy-Laufwerke und Metallgehäuse anfiel, kaufte man Motherboards und Festplatten und schaltete sie zusammen. Google stapelte 1500 solcher Geräte zu sechs Fuß hohen Türmen in einem Gebäude in Santa Clara, Kalifornien. Aufgrund von Hardwarefehlern arbeiteten allerdings nur 1200 von ihnen. Ausfälle, die scheinbar zufällig auftraten, brachten das System immer wieder zum Absturz. Google musste seine Computer zu einem nahtlosen, robusten Ganzen zusammenzufügen. Jeff und Sanjay übernahmen diese Aufgabe … In 90 Stunden entwickelten sie einen Code, der es ermöglichte, dass eine Festplatte ausfallen konnte, ohne das gesamte System zu killen. Sie fügten dem Crawling-Prozess Kontrollpunkte hinzu, damit er im laufenden Betrieb neu gestartet werden konnte. Durch die Entwicklung neuer Kodierungs- und Kompressionsverfahren wurde die Kapazität des Systems verdoppelt. Sie waren unerbittliche Optimierer. Wenn ein Auto um eine Kurve fährt, muss mehr Boden durch die äußeren Räder abgedeckt werden. Ebenso bewegt sich der äußere Rand einer sich drehenden Festplatte schneller als der innere. Google hatte die am häufigsten aufgerufenen Daten nach außen verschoben, sodass die Bits schneller vom Lesekopf erfasst werden konnten, aber das Innere der Platte leer gelassen. Jeff und Sanjay nutzten den Platz, um vorverarbeitete Daten für gängige Suchanfragen zu speichern. Während der Dauer von vier Tagen im Jahr 2001 bewiesen sie, dass Googles Index mit schnellem Direktzugriffsspeicher anstelle von relativ langsamen Festplatten gespeichert werden konnte; diese Entdeckung veränderte die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens von Grund auf."

Anand Gopal berichtet aus dem syrischen Saraqib, wo der 35-jährige Hussein Regime wie religiösen Fundamentalisten trotzt und demokratische Wahlen organisiert. Keine Kleinigkeit für einen Mann, der nur mit der Staatspresse aufwuchs und riesigen Propaganda-Billboards, von denen Assad auf die Straße hinabblickte, während der Text verkündete: "SYRIEN WIRD VON GOTT BESCHÜTZT": "Syrien zeige, wie töricht es ist, in einer von Religion und Ethnie geprägten Region an die Möglichkeit einer besseren Welt zu glauben, heißt es. Irgendwie hat Saraqib dieses Schicksal vermieden. Es bietet eine alternative Geschichte für den gesamten syrischen Konflikt - und, so Hossein, seine Bürger verkörpern die wahre Seele der Revolution. An diesem Abend stellt er sich vor, dass andere winzige Demokratien in ganz Syrien blühen und der Rest der Welt endlich begreift, dass sein Land mehr zu bieten hat als Blutvergießen und Tragödie."

Außerdem: Zoe Heller erkundet unseren Schlaf und die Frage, warum er manchmal partout nicht kommen will. Anthony Lane sah im Kino Brady Corbets "Vox Lux" mit Natalie Portman. Joan Acocella erinnert an den Schriftsteller Edward Gorey. Und Louis Menand denkt über geschwindelte Autorenbiografien nach.
Archiv: New Yorker