Magazinrundschau

Du verstehst mich einfach nicht

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.01.2019. Der New Yorker lernt verstehen, wie Viktor Orban die EU ausbootet. Und er lernt von Meisterdieb Vjeran Tomic die Kunst des stillen Einbruchs. In HVG betrachtet der Schriftsteller Gergely Péterfy das populistische Teufelchen in seinem Innern. New Republic fragt entgeistert, wie die Linke auf die gelben Westen hereinfallen kann. Der New Statesman amüsiert sich über die Rache der Biografen an den Erben berühmter Schriftsteller. In Film Comment erklärt Kameramann Fabrice Aragno, wie Jean-Luc Godard seine Bilder zum Zittern bringt.

New Yorker (USA), 14.01.2019

In der neuen Ausgabe des New Yorker untersucht Elisabeth Zerofsky Viktor Orbans Pläne für Europa, die sich seit 2014 immer weiter ausdifferenzieren. Und sie lässt sich erklären, wie Orban immer wieder erst das ungarische Rechtssystem und die EU austrickst: "Im Jahr 2010 führte Orbán Fidesz wieder an die Macht. In den nächsten Jahren verabschiedete er mehrere tausend Seiten Gesetze. Er erhob Steuern auf ausländische Unternehmen und beendete das hybride öffentlich-private Rentensystem Ungarns und verstaatlichte damit rund zwölf Milliarden Dollar an Vermögen. Er hat die Anzahl der M.P.s. fast halbiert, ein Zug, der von den meisten Ungarn unterstützt wurde - und dann ging er weiter", indem er die Verfassung änderte und so auch das Verfassungsgerichts nach gusto neu besetzen konnte. 'Sie tun alles nach dem Gesetz - es wird nie eine illegale Handlung geben, sagte mir [Princeton-Juristin] Kim Lane Scheppele. "Jedes einzelne Gesetz sieht für sich genommen nicht so schlimm aus, aber wenn man sie zusammenlegt, entsteht dieses Netz. Deshalb ist die EU nicht in der Lage, damit umzugehen. Sie schauen sich eine Sache nach der anderen an, aber Orbán ist ein systemischer Denker.' Orbán schuf eine Antiterroreinheit, die zunächst scheinbare verfassungsmäßige Einschränkungen ihrer Überwachungsbefugnisse hatte. Anschließend hat er diese Beschränkungen in mehreren Abschnitten, die in ein Gesetz über Speicher und Wasserwerke eingefügt wurden, aufgehoben. Scheppele hat gezeigt, wie Fidesz die Bezirke manipulierte und Wahlgesetze einführte, die das Verhältniswahlrecht verzerrten. Im Jahr 2014 erhielt die Partei weniger Stimmen als in den Jahren 2002 und 2006, als sie die Wahlen verloren hatte, aber am Ende hatte sie eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Scheppele benutzte den Begriff 'Verfassungscoup', um das Regime von Orbán zu beschreiben. 'Es ist absolut genial', sagte sie.""

Außerdem geht Jake Halpern der Kunst des Meisterdiebes Vjeran Tomic nach, der 2010 das Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris um einige seiner besten Stücke erleichterte: "Tomic versteckte sich hinter einem Tuch, das er wie einen Vorhang außen vor das Fenster hängte. Dann begann er mit seiner Arbeit. Zuerst legte er die Schrauben des Fensterrahmens mit Säure frei. Dann beseitigte er den Rost, entfernte die Schrauben und füllte die Löcher mit Knete. Es dauerte sechs Nächte. Kurz vor Sonnenaufgang kehrte er mit zwei Saugnäpfen zurück und zog das Fenster heraus. Mit Bolzenschneidern brach er das Schloss auf. Er betrat das Museum, navigierte um die Bewegungsmelder herum und zog sich zurück. Er wartete, um sicherzugehen, keinen stillen Alarm ausgelöst zu haben. Als er wieder hineinging, sah er das Léger-Gemälde, nahm es von der Wand und aus dem Rahmen. Im schwachen Licht und der Stille des Museums entdeckte er Matisses 'Pastoral'. 'Ich starrte auf eine tiefe, lebendige Landschaft', erinnert er sich. 'Und der kleine Teufel spielt seine Flöte wie ein Magier, als wäre er der Hüter der Umgebung.' Er nahm es von der Wand."

Weiteres: Jerome Groopman empfiehlt Rose Georges Buch "Nine Pints" vor, eine Medizin- und Kulturgeschichte des Bluts. James Wood liest Guy Gunaratnes Debütroman "In Our Mad and Furious City", der "ungefähr pro Seite ein neues Wort enthält", das britischen, indischen, pakistanischen und irischen Slang mixt. Und Anthony Lane sah im Kino Julian Landis' Verfilmung der "Aspern Papers" von Henry James.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 04.01.2019

Was genau zeichnet eigentlich Populismus aus, fragt sich der Schriftsteller Gergely Péterfy, vor allem den Populismus, der in uns allen stecken mag: "Kommunismus und Faschismus mochten inmitten ihrer satanischen Taten als Engel der Kraft und der Schönheit erscheinen; der Populismus lernte soviel vom Liberalismus, dass er sich darum nicht bemüht. Er ist kein vor Kraft strotzender und von der erdrückenden Last der Traditionen befreiter Proletarier, der die Laufrichtungen der Flüsse ändert, Stahl gießt, den Bourgeois zertritt und Gleichheit und Brüderlichkeit erschafft; er ist auch nicht der blonde blauäugige Arier, der mit Siegfried'scher Urkraft die Herrschaft des spöttischen Zynismus, der verdorbenen Gene und des Geldes beendet. Das revolutionäre Ideal des Populismus ist eine plattfüßige, fettwanstige, prinzipenlose, egoistische, feige, hässige, lügnerische, habgierige und hirnlose Gestalt. Darin liegt seine Zauberkraft: endlich ein Ideal, dem man entsprechen kann. Das Menschenideal der liberalen Welt ist ironisch, tolerant, neugierig, solidarisch, offen und selbstreflexiv. Dieses Ideal lädt gewaltige Lasten auf den Menschen. Die Hälfte der Menschheit kann damit nichts anfangen: manchmal vielleicht auch ich nicht, oder auch du nicht, lieber Leser. Jene, die sich liberal nennen, wären alle und immer so? Bei weitem nicht! Das Teufelchen ist im Inneren. Von dort muss es verbannt werden."
Archiv: HVG

Rolling Stone (USA), 13.12.2018

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Wie Artikel sich überkreuzen können. Alles ist Schuld der neoliberalen Eliten, schreibt Matt Taibbi im Rolling Stone mit Blick auf die "Gelben Westen" einerseits und "neoliberale" Elite-Autoren wie Max Boot andererseits. Die Gelben Westen, so Taibbi, seien ja gerade der Aufstand gegen diese Eliten: "Macron hat noch eine Zustimmungsquote von 23 Prozent, Paris scheint in Flammen zu stehen, und die Leute besprühen sogar den Arc de Triomphe. Wie konnte all dies einem so coolen Politiker widerfahren, fragt Boot. Und dann erwiderte ihm ein Online-Kommentar, dass 'Zentrismus' vielleicht nur ein anderer Name für 'Elitismus' sei.
Archiv: Rolling Stone

New Republic (USA), 07.01.2019

Und auch Alexander Hurst schreibt in der New Republic über die "Eliten" und die Gelben Westen. Aber er sieht die Eliten auf der Linken und kritisiert sie dafür, aus politischem Opportunismus die ziemlich rechtsextremen und antisemitischen Anwandlungen bei vielen "Gelben Westen" geflissentlich zu übersehen: "Es liegt für die Linke eine Herausforderung im Wesen der Gelben Westen, in der Gewalt, die einen unleugbaren Anteil an ihrem Erfolg hat... Leider ist die Linke dieser Herausforderung nicht gewachsen. So wie Populisten 'das Volk' als etwas Reines den korrupten Eliten entgegenhalten, so wünschen sich andererseits einige Eliten einen Aufstand der entfremdeten Massen im Namen einer solchen essenziellen Reinheit." (...) Man mag erwarten, dass die extreme Rechte in einem Umfeld von Fake News und diffusem Ärger aufblüht, aber auch große Teile der Linken reagieren auf die Idee, Macron sei ein 'Ultraliberaler' und machen sich zu Weggefährten der rechten Destabilisierungsstrategie."
Archiv: New Republic

Merkur (Deutschland), 01.01.2019

Robin Detje erinnert sich an seine Zeit als Schauspielschüler an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule, wo er einem doppelten Trauma ausgesetzt war, der erdrückenden Spießigkeit der ZDF-Fernsehwelt und der scheinheiligen Bürgermoral der Kammerspiele: "Die Ausbildung ist so: Ich soll ganz ich selbst sein, aber auch verwertbar, und am verwertbarsten bin ich, wenn ich an einen Erfolgsschauspieler erinnere, das aber ganz aus meiner Mitte heraus. (Ich bin 'der neue Edgar Selge'.) Außerdem soll ich mich öffnen, auch das möglichst ganz. Ich soll meinen Körper kontrollieren, aber auch entgrenzen lernen, und zwar um die Fantasien eines Regisseurs zu verkörpern, der mich kontrollieren wird. Ich soll verfügbar sein, egal ob für Derrick oder Dieter Dorn. Ob man Fortschritte macht, entscheiden Lehrer und Lehrerinnen, die bei Bedarf durchaus auch mit einem schlafen wollen. Es fällt mir heute schwer, das alles nicht als Einübung von Missbrauchsbereitschaft zu verstehen."

Und Harun Maye beerdigt mit der Spex und den Printausgaben von New Musical Express, Intro, De:Bug, Neon und jetzt eigentlich auch gleich die Popkultur: "Sobald sich Nonkonformität und Dissidenz finanziell auszahlen, erzeugen sie kein symbolisches Kapital mehr. Die Popkultur wurde zur Avantgarde ihrer eigenen Abschaffung. Spätestens seit Kurt Cobain ist der Rock'n'Roll-Rebell, den David Bowie, Ozzy Osbourne und andere einst gefeiert haben, zum Idol der Kulturindustrie und des Mainstream geworden. Alternative Lebensmodelle, Nonkonformität und Dissidenz waren plötzlich mehrheitsfähig. Die ehemaligen Spex-Redakteure Tom Holert und Mark Terkessidis haben diese Entwicklung auf den Begriff 'Mainstream der Minderheiten' gebracht: 'Wo sich Dissidenz einmal des Konsums bediente, so bediente sich nun der Konsum der Dissidenz … Pop ist in diesem Sinne nichts anderes als eine Shopping Mall.'"
Archiv: Merkur

Respekt (Tschechien), 06.01.2019

Der französische Journalist Philippe Lançon, der vor vier Jahren den Anschlag auf Charlie Hebdo knapp überlebte, antwortet auf die Frage, wie sich die französische Satire nach dem Anschlag verändert habe: "Den hassvollen Reaktionen auf den Inhalt einer Nummer entnehmen wir Kollegen oft, dass es immer schwerer wird, mit einem Scherz auf aktuelles Geschehen zu reagieren, sich über etwas Ernstes lustig zu machen. Ich würde das aber nicht nur dem Attentat zuschreiben, sondern der Mischung langjähriger ökonomischer und gesellschaftlicher Krisen in Frankreich, dem Gefühl vieler Menschen, in der gegenwärtigen globalisierten Welt die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben, dies alles verknüpft mit den sozialen Netzwerken, die den Respekt vor der Komplexität der Dinge und dem Maßvollen zunichte machen. Die französische Gesellschaft hat eine Überempfindlichkeit gegenüber der umgebenden Welt entwickelt, und kaum einer mag über wirklich alles lachen. Es ist eine schlechte Zeit für die Satire, aber so ist es." Nach dem Januar 2015 hatte Charlie Hebdo keine Karikatur zum Islam mehr auf dem Titel - hat man damit der neuen Empfindlichkeit nachgegeben?, fragt Kateřina Šafaříková. "Das ist wohl so", antwortet Lançon, "aber der Hauptgrund ist prosaischer - die Morddrohungen gegen Charlie gingen auch nach dem Anschlag weiter. Und nicht nur eine, es gab relativ viele, fast jede Woche eine neue. Diese Zeitschrift und ihre Mitarbeiter stehen unter einem extremen Druck und wollten eine weitere Tragödie vermeiden. Außerdem wollte die Redaktion jenen - meiner Meinung nach Dummköpfen - nicht rechtgeben, die behaupten, Charlie Hebdo sei eine antimuslimische, antiarabische Zeitschrift."

Respekt bringt außerdem ein langes Interview mit der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarková anlässlich ihrer neuen Romanpublikation, die von mehreren China-Aufenthalten der Autorin inspiriert ist. "Wie soll man das nennen, was in China geschieht und was die ganze Welt uneingestanden bewundert?", fragt sich Denemarková. Sie hat sich mit Dissidentenkreisen um den Redakteur Xi Zhiyuan befreundet, in der Folge wurde sie von einer Pekinger Veranstaltung wieder ausgeladen. "Ich bin in China allem begegnet, was man sich unter einem brutalen Polizeistaat vorstellen kann. Das überstürzte Wirtschaftswachstum vollzieht sich in Form einer riesigen industriellen Verunreinigung, Umweltzerstörung und eines Städteausbaus unglaublichen Ausmaßes, der die Umgebung verschlingt. Als würde ich Schlittschuh laufen und hören, wie unter mir das Eis knackt und in der Ferne die Schollen ächzen - ein alter Zyklus geht zu Ende, und die Welt dreht sich in einem Wirbel der Zensur und Autozensur."
Archiv: Respekt

New Statesman (UK), 07.01.2019

Die Erben von Schriftstellern haben es Biografen schon immer schwer gemacht, mit dem Nachlass zu arbeiten, stellt Leo Robson fest, entweder um das Ansehen der Gestorbenen nicht zu gefährden - wie Percy Shelleys Witwe oder Jane Austens Schwester. Oder um besser bei Broadway und Fernsehen abkassieren zu können - wie die Erben von T.S. Eliot, die keinen Biografen an dessen unveröffentlichte Manuskripte ließen, aber nichts dabei fanden, dass Andrew Lloyd Webber Eliots Gedichte gegen dessen ausdrücklichen Wunsch für "Cats" vertonte. Mittlerweile ziehen sich immer mehr Biografen an die Universitäten zurück oder schreiben wie Peter Ackroyd über unbelebte Sujets wie "London" oder "Die Themse", aber manchmal rächen sie sich auch fürchterlich, erzählt Robson fröhlich: Die Autorin Lee Israel etwa wurde beim Schreiben einer Biografie von Estée Lauder übel ausgebootet, verlor alles Ansehen und endete als Alkoholikerin: "Israel war von Bestseller-Apanagen auf Sozialhilfe abgestürzt, wie sie in ihren Erinnerungen 'Can You ever Forgive me' beschwingt schreibt, und sie entschied sich, um ihre Brötchen zu verdienen, zu einer Form symbolischer Biografen-Vergeltung: Mit Hilfe alter Schreibmaschinen begann sie, Dutzende von literarischen Briefen zu fälschen, die sie an unerfahrene oder skrupellose Händler in New York verkaufte. Israels Fälschungen richteten sich vor allem gegen eine Person, die besonders hartnäckig biografische Anstrengungen vereitelt hatte: die Dramatikerin Lillian Hellman, eine eiserne Testamentsvollstreckerin ihres Mannes Dashiell Hammett und ihrer Freundin Dorothy Parker. Israels Quelle für die Hellman-Imitationen war ein Brief, den sie selbst erhalten hatte und der ihr ein Interview für ihr Bankhead verwehrte: 'Sie war eine schwierige Frau, aber zum Glück war ihre Handschrift einfach.'"
Archiv: New Statesman

Film Comment (USA), 02.01.2019

Fabrice Aragno ist buchstäblich die rechte Hand von Jean-Luc Godard: Seit einiger Zeit gibt der Kameramann und Editor nach Auftrag und Weisung des Filmemachers dessen Collagefilmen ihre letztendliche Form, so auch dem aktuellen Film "Le Livre D'Image": Was Godard mit seinem alten Equipment analog vorgibt, setzt Aragno schließlich im Digitalen um. Im Gespräch mit Amy Taubin gibt Aragno Einblick in seine Werkstatt: "Sie kennen das doch, wie man in der Postproduktion eigentlich die Farbwerte des Bildes korrigieren soll, sodass am Ende alles geschmeidig und ebenmäßig aussehen soll? Jean-Luc will das glatte Gegenteil. Er will den Bruch. Farbe, dann Schwarzweiß, oder unterschiedliche Farbintensitäten. Oder jetzt gerade in diesem Film ändert sich manchmal das Bildverhältnis, nachdem das Bild bereits eingefangen ist. Dies geschieht immer dann, wenn er das Bild von seinem TV-Gerät mit seiner alten, analogen DVCAM-Maschine abfilmt, die so alt ist, dass wir dafür keine Ersatzteile mehr auftreiben können. Der Fernseher braucht seine Zeit, um das Bildformat der DVD oder BluRay zu erkennen und sich anzupassen - ob es nun ein 1.33- oder 1.85-Bild ist. Und eines der Geräte in seinem Fundus ist noch langsamer als das andere. Das will er alles behalten. Ich könnte es anpassen, aber das will er nicht. Diese eine, aus 'Krieg und Frieden' entnommene Sequenz: Die rot-weiß-blaue Farbüberlagerung hat er mit einer alten, analogen Videoeffektmaschine erstellt. Daher auch die Unschärfe. Das digital zu rekonstruieren ist mir nicht gelungen. Die Kanten waren zu scharf. Und dann das Zittern des Bildes - wie er das hinbekommen hat, weiß ich nicht. Vielleicht hat er am Kabel gespielt. Handgemacht. Das will er sehen. Es ist ein Geschenk seiner alten Maschine. ...In 'Livre D'Image' gibt es im Kapitel 'The Central Region' eine sehr bewegende Passage aus einem Dowschenko-Film. Der Voiceover spricht von der Zeit und der Abwesenheit von Zeit. Ich bin auf etwas gestoßen, was ich für eine 'bessere' Kopie des Films hielt: Man sieht mehr von seinem Gesicht und mehr von ihren Augen und auch seine Hand auf ihrer Brust. Mich bewegte das alles sehr. Doch Jean-Luc sagte: 'Du verstehst mich einfach nicht. Das ist genau das, was die Leute machen, wenn sie Filme restaurieren. Sie pumpen den Film mit Botox voll.' Also: Ja, es ist wichtig, die Gesichter zu sehen, aber es ist genau so wichtig zu sehen, wie das Bild verschneit ist - all der Verfall. Und man soll das Rauschen im Sound hören. Jean-Luc nimmt seinen Voiceover mit einem alten Mikrofon auf und wir behalten all das Rauschen. So schreibt sich die Zeit als solche ein."
Archiv: Film Comment

Novinky.cz (Tschechien), 31.12.2018

Ein interessantes Projekt verfolgt der tschechische Publizist und Poptheoretiker Karel Veselý mit der Website Institute of Anxiety und seinen Podcasts zu Angst, Traurigkeit und Depression in der westlichen Popmusik (hier eine englische Podcastfassung). Depressive britische Rockbands wie Joy Division oder The Fall sind danach untrennbar mit dem Neoliberalismus der Thatcher-Ära verbunden, optimistischer Pop einer Lady Gaga mit dem verzweifelten Eskapismus in der Nachfolge der Finanzkrise von 2008. Und wie sieht es mit der aktuellen Musik aus?, will Tereza Butková wissen? Darauf zitiert Veselý Studien, nach denen es im Mainstream-Pop derzeit deutlich mehr Songs in Moll gebe sowie mit dunkleren und angstbesetzteren Themen. "Das muss aber nicht unbedingt damit zu haben, dass sich die Lebensbedingungen verschlechtert hätten, sondern auch mit der Fähigkeit, Gefühle auszudrücken und zu verstehen. Künstlern steht heute in der Musikindustrie eine größere Gefühlsbandbreite offen als früher. Das hat auch mit dem Wandel des Männlichkeitsbilds zu tun und damit, wie sich Männlichkeit in der Öffentlichkeit präsentiert."
Archiv: Novinky.cz

City Journal (USA), 01.01.2019

Der Jazz erlebt an der Westküste der USA eine Renaissance, symbolisiert unter anderem von Kamasi Washingtons epochalem Album "The Epic" von 2015. Das eigentliche Geheimnis der Wiederkehr des Westcoast-Jazz ist aber, dass es neuerdings einige wichtige Institutionen gibt, die ihn stützen, schreibt Ted Gioia: "Das sichtbarste Zeichen dieser Veränderung ist ein außergewöhnliches Gebäude: das SFJAZZ Center, die größte allein dem Jazz-gewidmete Institution der Vereinigten Staaten. Der Preis für das fertige Gebäude, das 2013 eröffnet wurde, betrug 66 Millionen Dollar. Jährlich finden hier etwa 400 Jazzveranstaltungen statt, vor einem Publikum von 150.000 Menschen. Früher waren die Jazzfans in San Francisco stolz auf ihre kleinen, eigenwilligen Nachtclubs wie den Black Hawk, der von 1949 bis 1963 in der Hyde Street arbeitete, oder den Keystone Korner, der von 1972 bis 1983 in North Beach blühte. Die Fans liebten die intime Atmosphäre, aber diese kleinen Betriebe konnten die Einbrüche in der Jazzwirtschaft nicht überstehen... 'Das Nachtclub-Modell ist kein Modell, das man auf den gemeinnützigen Ansatz übertragen kann', erklärt Gründer und künstlerischer Leiter Randall Kline. 'Wir mussten uns anderen Vorbildern zuwenden - klassischem Konzert, Oper, Ballett.'"
Archiv: City Journal

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.01.2019

Im Gespräch mit Zoltán Végső erklärt der Komponist und Dirigent Péter Eötvös, was für ihn zeitgenössische Musik ausmacht. "Zeitgenössisch ist, was unser Zeitgenosse ist, worin wir leben, doch dies verteilt sich auf mehrere Generationen. In der selben Ära, zur selben Zeit gibt es unterschiedliche zeitgenössische Musiken, nicht nur bei den Gattungen. Ich arbeite sehr gerne mit jungen Komponisten und Dirigenten zusammen, weil mich die Entwicklung der musikalischen Sprache sehr interessiert. Ich halte es für wunderbar, dass nach Jahrhunderten manchmal ein Ton zu den bereits bekannten hinzugefügt wird, rhythmische Formeln auf einmal komplexer werden - dies gilt verstärkt für die letzten zehn Jahre. Während meiner akademischen Studien waren die Traditionen der Dinge essenziell. Wir lernten, wie man 'etwas zu tun pflegte'. Als ich dann nach Köln kam und anfing, mit Stockhausen zu arbeiten, geschah das Gegenteil. Alles, was sonst 'gepflegt' wurde, wurde hier ein Stück verschoben, nicht negiert, sondern verschoben, damit wir sehen konnten, woher es kam. In Ungarn lernten wir den oberen Teil der Blume verstehen, was über dem Boden ist, was ich aber später in Köln lernte, ist das, was darunter liegt, die Wurzeln, die jene Elemente aufsaugen, aus denen dann die Blume entsteht."

New York Times (USA), 07.01.2019

Für die aktuelle Ausgabe des New York Times Magazines berichtet Hannah Dreier, wie die Trump-Regierung bei der Jagd nach Gangkriminellen unschuldige Highschool-Schüler kriminalisiert: "Seit Einführung der Operation Matador spielen Schulbeauftragte eine tragende Rolle bei der Inhaftierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Sie helfen der Polizei, Informationen in Schulen zu sammeln, ohne gegen den 'Family Educational Rights and Privacy Act' zu verstoßen, das Schulen verbietet, Schülerdaten an Regierungsbehörden weiterzugeben … In Bellport und Brentwood, Städten, in denen Schüler Gang-Morden der MS-13 zum Opfer fielen, waren die Schulen besonders hilfsbereit. Handlungen, die früher kaum der Rede wert waren, können heute zu einem Schulausschluss führen. Nach einer Polizeischulung im Jahr 2017 überprüfte ein stellvertretender Schulleiter der Bellport High School die Facebook-Seite eines 15-jährigen Schülers und sah die Zahl '503' auf einer Abbildung der salvadorianischen Flagge und dem Hut einer Videospiel-Figur. Man einigte sich darauf, dass das Bild mit MS-13 zusammenhing. Der Schüler wurde wegen 'störender Vorfälle' suspendiert, obwohl er beteuerte die Beiträge stammten aus seiner Mittelstufen-Zeit und hätten einfach für El Salvador gestanden."

Außerdem verrät die englische Schriftstellerin Rachel Cusk am Beispiel ihrer ländlichen Wohngegend, wie man Autofahrer lesen kann: "Die gewöhnlich sehr langsamen Fahrer können ihre Absichten und Ziele oft nicht effektiv kommunizieren. Sie bremsen ohne erkennbaren Grund auf offener Strecke oder bleiben einfach stehen, vermutlich ohne zu wissen, dass jemand hinter ihnen ist. Wenn sie blinken, tun sie es zu spät. Man muss herausfinden, was sie tun oder meinen zu tun, indem man ihr Fahrverhalten liest. Eine Person, die beispielsweise an jeder Kreuzung oder Nebenstraße langsamer wird, mag nach einer Abzweigung suchen. Andere bremsen unvermittelt, weil sie an einer Kneipe oder einem Geschäft vorbeikommen und erwägen hineinzugehen. Die übliche Autonomie des Autos, seine Hermetik, wird umgekehrt: Die Verantwortung des Fahrens, seine visuelle und mentale Herausforderung, wird auf diejenigen außerhalb des Wagens übertragen."
Archiv: New York Times