Magazinrundschau

Die Probleme sind verstanden

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
22.01.2019. Buzzfeed erzählt, wie die amerikanischen Spin-Doktoren Arthur J. Finkelstein und George Birnbaum Viktor Orban dabei halfen, George Soros zum Feindbild der Antisemiten zu machen. In 168 ora wünscht sich die Dokumentarfilmerin Agnes Sos mehr Wirklichkeit im ungarischen Fernsehen. Der New Yorker sieht in die Zukunft des Journalismus und erkennt nur einen Trump-Tweet. In La vie des idees beschreibt der Urbanist João Sette Whitaker die dunklen Kräfte Brasiliens. Die NYT lernt vom Genetiker David Reich, dass wir alle eine Kreuzung sind. Tablet feiert am 40. Jahrestag der islamischen Revolution im Iran die jüdisch-persische Musik.

Buzzfeed (USA), 20.01.2019

Hannes Grassegger erzählt, wie die amerikanischen Spin-Doktoren Arthur J. Finkelstein und George Birnbaum Viktor Orban halfen, den Milliardär und Philanthropen George Soros zum verhassten Feindbild der Antisemiten zu machen, um Orbans Popularität auch nach seinen Wahlsiegen hoch zu halten, und noch schlimmer: wie es ihnen gelang, alle Erwartungen zu übertreffen. Finkelstein, einer der Gründerväter des Spindoktorentums hatte Orban über ihren gemeinsamen Freund Bibi (Benjamin Netanjahu) kennen gelernt. Er ist 2017 gestorben. Sein Kollege Birnbaum hat mit Grassegger freimütig über die Kampagne gesprochen: "Trotz allem, was folgte, ist Birnbaum stolz auf die Kampagne gegen Soros. 'Soros war ein perfekter Feind. Es lag auf der Hand. Es war das simpelste aller Produkte. Man musste nur anfangen und es vermarkten.' Das Produkt war so gut, dass es sich von selbst verkaufte und global wurde.... Birnbaum bestreitet, dass er außerhalb Ungarns Kampagnen gegen Soros lancierte. Aber vielleicht musste er das gar nicht tun. Jeder konnte die Ideen aufnehmen und mit ihnen arbeiten. Finkelstein und Birnbaum hatten Soros zu einem Meme gemacht. Rechte Websites wie Breitbart oder das Kreml-kontrollierte Russia Today konnten die ungarische Kampagne für ihre Zwecke anpassen, in ihre Sprachen übertragen und mit lokalen Argumenten anreichern." Birnbaum, wie Finkelstein selbst Jude, behauptet, er habe beim Kampagnenstart nicht gewusst, dass Soros Jude sei. Und auch heute bedauert er nichts: "'Antisemitismus ist etwas Ewiges, Unvergängliches', sagt Birnbaum. 'Unsere Kampagne hat niemanden antisemitisch gemacht, der es vorher nicht war. Wir haben vielleicht nur ein neues Ziel gezeichnet, mehr nicht. Ich würde es wieder tun.'" Grasseggers Reportage ist zuerst in Das Magazin erschienen, wo sie aber hinter einer Paywall steckt. Inzwischen erscheint die Geschichte auf deutsch auf einer weiteren Adresse: deskopt12app.ch. Die Open Society Foundation verbreitet den Link per sponsored posts über Twitter.
Archiv: Buzzfeed

168 ora (Ungarn), 20.01.2019

Ende Januar findet in Budapest das internationale Dokumentarfilmfestival BIDF statt. Im Interview mit Zsuzsanna Sándor schildert Ágnes Sós, Filmproduzentin und Mitbegründerin des BIDF,  den schweren Stand des Dokumentarfilms in Ungarn. "Wir haben viele ausgezeichnete Regisseure, und einzelne Werke schaffen es regelmäßig zu den bedeutenden Festivals. Die Gattung findet aber bei uns keine Anerkennung. Jährlich werden mehrere hundert Millionen Euro für die Filmförderung ausgegeben, aber es werden lediglich ein bis zwei Dokumentarfilme gefördert. Das ist sehr wenig. Diese Werke werden entweder gar nicht in den Kinos gezeigt oder nur für eine sehr kurze Zeit, und damit bleiben sie kaum erreichbar für das hiesige Publikum. (…) Zusätzlich zur Förderung müssten die Fernsehsender eine Ausstrahlung zusichern, mit Sendedatum. Die staatlichen Sender zeigen jedoch praktisch keine Dokumentarfilme, obwohl dies ihre Pflicht wäre. (…) Bei der Entscheidung des Medienrates spielt nicht selten die ideologische Anpassung eine Rolle. Ein Dokumentarfilm zeigt die Wirklichkeit und die stimmt nicht unbedingt mit den Interessen der Macht überein. Oft hören wir, dass das ungarische Publikum an Dokumentarfilmen nicht interessiert sei, was sicherlich stimmt, da es ja keine sehen kann. Wir haben das BIDF ins Leben gerufen, damit sich dies ändert."
Archiv: 168 ora

London Review of Books (UK), 24.01.2019

Die Brexiteers kennen nur eine Taktik, glaubt William Davies: "Raus, und wenn das nicht klappt, dann raus." Das Problem mit dem Ausstieg sei, dass er keine politische Lösung ist, meint Davies und begründet dies mit dem Standardwerk "Exit, Voice and Loyalty" des Ökonomen Albert Hirschman, der untersuchte, wie Menschen in einem Markt ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen können: "Meistens halten wir uns Exit und Voice als Optionen offen, eher als theoretische Rechte denn im täglichen Verhalten. Viele Konsumenten wechseln ihr Waschmittel nicht (Exit), wie auch nur wenige Wähler ihre Abgeordneten mit Forderungen und Beschwerden behelligen (Voice). Aber entscheidend ist, dass wir das Recht haben, dies zu tun. Das garantiert uns ein Minimum an Macht. Aber diese Rechte haben jeweils ihre eigene Domäne: Exit gehört in die Sphäre des Marktes, Voice in die Sphäre der Politik. Wie konnte also die Ideologie des Exits - oder seine Fantasie - die britische Politik verschlingen? Wie konnte ein Prinzip des Marktes, der Ausdruck der eigenen Unzufriedenheit durch den Ausstieg, die größte Verfassungskrise seit 1945 hervorrufen? So gesehen ist der Brexit weniger eine Demonstration von Souveränität und Demokratie, als ein neuer Schritt in der Marktwerdung der Politik. Wenn es das fundamentale Recht eines jeden Investors, Kunden oder Händlers ist, zu gehen, wann es ihm passt, warum dann nicht auch das einer Nation?"

Weiteres: Auch mit achtzig Jahren lässt Reporterurgestein Seymour Hersh nicht locker: Diesmal geht er Hinweisen nach, wie George H.W. Bush als Vizepräsident von Ronald Reagan verdeckte Operationen am Kongress vorbei lancierte. Besprochen werden Zachary Leaders Biografie des Schriftstellers Saul Bellow und die beiden neu aufgelegten Großewerke "The Great Terror" und "The Harvest of Sorrow" des britischen Historikers Robert Conquest.

Aktualne (Tschechien), 20.01.2019

Der tschechische Regisseur Petr Zelenka stört sich an der unkritischen Haltung der Tschechen gegenüber dem Kapitalismus. Sie hätten nur die unbegründete Angst vor Einwanderern und die begründete Angst vor Russland, aber keine Angst, dass der Kapitalismus etwa zur Klimakatastrophe führe. "Die tschechische Gesellschaft war immer sehr passiv und ist es immer noch. Sie hat passiv den Sozialismus über sich ergehen lassen, und so erlebt sie auch die Gegenwart. Freiheit begreift sie eher als die Freiheit, nichts zu tun, denn als die Freiheit, etwas aktiv zu gestalten. Der Kapitalismus stellt sich als gottgegebenes System dar, das naturgemäß keine Alternative besitzt. Er behauptet von sich, er sei untrennbar mit den Werten der Demokratie und der Menschenrechte verbunden, was aber eine Lüge ist. Es hat sich gezeigt, dass es dem Kapitalismus am besten geht in Ländern, die nicht demokratisch sind, wie etwa China, und dass er sich besonders in Zeiten diverser Krisen festigt."
Archiv: Aktualne

New Yorker (USA), 28.01.2019

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker schaut Jill Lepore mit Jill Abramsons Buch "Merchants of Truth" in die Zukunft des Journalismus, und die sieht nicht rosig aus. Unschuldig sind die Zeitungen daran nicht: "Je stärker Trump die Presse angreift, desto stärker wird die Presse? Leider nicht ganz. Redaktionelle Entscheidungen werden immer häufiger Facebooks News Feed, Chartbeat oder anderen Formen redaktioneller Automatisierung überlassen. Die Hände der Redakteure sind an Algorithmen gebunden. Nicht zuletzt wegen des rasanten Tempos des Journalismus im 21. Jahrhundert tauchen heute routinemäßig Geschichten auf, die vielleicht vor einer Generation nie veröffentlicht worden wären … Das größte Problem ist, dass die Drohgebärden, die Verderbtheit, Verlogenheit und Vulgarität der Trump-Administration viele Reporter und Redakteure aus dem Konzept gebracht haben. Die gegenwärtige Krise, die nichts Geringeres als die totale Verwirrung des öffentlichen amerikanischen Lebens ist, hat viele Leute im Journalismus dazu veranlasst, Entscheidungen zu treffen, die sie bedauern oder noch bedauern werden. Im Zeitalter von Facebook, Chartbeat und Trump haben ältere Nachrichtenorganisationen, kaum weniger als Start-ups, ihre redaktionellen Standards in einer Weise herabgesetzt oder verändert, die das politische Chaos befördert. Drehen Redakteure am Montagmorgen den Globus und entscheiden, welche Geschichten wichtig sind? Oder lassen sie Trumps Twitter-Feed entscheiden? Oft scheint letzteres der Fall. Manchmal macht das, was nicht umbringt, nicht stärker, sondern alle krank. Je streitlustiger die Presse, desto treuer die Anhänger von Trump, desto kaputter das öffentliche Leben. Je verzweifelter die Presse um Leser ringt, desto ähnlicher wird sie der Politik. Die Probleme sind verstanden, die Lösungen schwer zu erkennen. Gute Berichterstattung ist teuer, aber der Leser will nicht dafür zahlen."

Außerdem: Yascha Mounk rekapituliert den Mordfall Susanna Feldmann und wie die politische Rechte in Deutschland ihn instrumentalisiert hat. Jia Tolentino befragt den Schriftsteller Marlon James zum Verhältnis von Realität und Fantasie. Anthony Lane sah im Kino M. Night Shyamalans "Glass". Adam Gopnik erklärt, wie man "heilige Bücher" liest. Und Alex Ross hört neue Opern, darunter Philip Venabless' "4.48 Psychosis" nach dem gleichnamigen Stück von Sarah Kane.
Archiv: New Yorker

La vie des idees (Frankreich), 18.01.2019

Der brasilianische Urbanist und Ökonom João Sette Whitaker liefert im Gespräch mit Olivier Compagnon und Anaïs Fléchet interessante, wenn auch für Außenstehende nicht immer völlig verständliche Hintergründe zur politischen Lage in Brasilien, die zum Wahlsieg des Extremisten Jair Bolsonaro führte. Eine Menge dunkler Kräfte waren da im Spiel, etwa die beiden kriminellen Kartelle, die über die Favelas von Rio de Janeiro herrschen, und das dritte Kartell, das Sao Paolo im Griff hat, dann die traditionelle Rechte, die gegen Dilma Roussef putschte, die evangelikalen Kirchen und die Korruption, ohne die auch Silva Lulas Partido dos Trabalhadores (PT) nicht auskam. Aber immerhin, so Whitaker: Während sich bei Bolsonora und der Rechten keine konstruktive Idee erkennen lässt, hat die Linke immer noch ein Projekt. Leicht wird es nicht: "Die Konfrontation wird sehr hart, denn sie findet nicht mehr auf demokratischer Basis statt. Brasilien steht vor dem Zusammenbruch seines Rechtssystems. Dafür ist nicht Bolsonaro verantwortlich, sondern die Rechte, die den Coup d'Etat von 2016 anführte, aber auch Sergio Moro, der sich Bolsonaro anschloss, nachdem er Lula, seinen Hauptrivalen, ins Gefängnis gebracht hatte. Das höchste Gericht Brasiliens verbirgt seine politischer Richtung nicht mal mehr und hält Lula um jeden Preis im Gefängnis. Lula konnte noch nicht mal alle Rechtsmittel einlegen, was verfassungswidrig ist. Und angesichts all dieser Angriffe auf die Demokratie tun die Medien so, als sei nichts geschehen."
Stichwörter: Brasilien, Bolsonaro, Jair, Putsch

Ceska pozice (Tschechien), 17.01.2019

Anlässlich einer Ausstellung über den tschechischen Philosophen Jan Patočka vermisst der christdemokratische Politiker Petr Pithart intellektuelle Stimmen wie die von Patočka damals. Gelehrte, Wissenschaftler, vor allem Philosophen und Historiker würden sich, mit wenigen Ausnahmen, alle zurückhalten. Man höre keine sokratischen Warnungen, obwohl es genug zu warnen gebe. "Mit Unbehagen nehme ich den relativ neuen Begriff des 'öffentlichen Intellektuellen' wahr. Ich dachte, ein Intellektueller sei immer der, der die Öffentlichkeit anspricht, einer, dem die Vergewaltigung der Wahrheit und Pervertierung der Moral nicht gleichgültig ist. Er kann sich bei seiner Ansprache auch täuschen - aber er kann nicht schweigen. Das neu hinzugefügte Adjektiv entwertet ihn meiner Meinung nach, es klingt nach jemandem, der sich, statt sich ernsthafter Arbeit zu widmen, zum öffentlichen Gebrauch andient, ja aufdrängt."
Archiv: Ceska pozice

Tablet (USA), 22.01.2019

In diesem Jahr hat die Revolution im Iran vierzigsten Jahrestag. Tablet widmet dem Ereignis und seinen Folgen gleich ein ganzes Dossier. In einem der Artikel stellt Asher Shasho Levy die jüdisch-persische Musikerin Maureen Nehedar vor, die 1979 im Alter von zwei Jahren mit ihren Eltern nach Israel emigrierte. Die Liebe zur persischen Musik aber blieb, zumal diese schon lange stark von Juden geprägt war: "Die Ära der Ṣafavid-Herrschaft (1501-1736), die den schiitischen Islam als offizielle Religion des neu vereinten Iran etablierte, brachte einen dramatischen Wandel im sozialen Status der Musik mit sich. Während dieser Zeit galt die gesamte nicht-liturgische Musik als haram (religiös verboten); die einzige erlaubte Musik war die von Geistlichen für religiöse Veranstaltungen genehmigte. Dieses Verbot bedrohte die Entwicklung und das Überleben der reichen Traditionen der persischen Musik. Doch die persische Musik gedieh und entwickelte sich in den Händen derer, die nicht an diese Einschränkungen gebunden waren: Dhimmi wie Zoroastrier, Armenier und vor allem Juden."

Hier singt Nehedar ein altes Liebeslied: "Juni Juni"


Archiv: Tablet

New York Times (USA), 19.01.2019

Im Magazin berichtet Gideon Lewis-Kraus über die Arbeit mit prähistorischer DNA, was sie uns über die Vergangenheit sagen kann und was nicht: "Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Geschichte in Afrika beginnt. Später, vor bis zu 100.000 Jahren, setzte sich die menschliche Geschichte auf den anderen Kontinenten fort. Nach Meinung des Genetikers David Reich hat das Studium alter DNA die Vermutungen über das, was dann geschah, widerlegt. Einer Prämisse zufolge haben sich Gruppen des frühen Menschen an bestimmten für sie passenden Orten niedergelassen. Dies ist nicht nur eine Lieblingstheorie der Prähistoriker, sondern auch die natürliche Art und Weise, wie der Mensch im Lauf der Jahrtausende seine Identität mit dem Ort seines Daseins zu verbinden suchte. Für die Ni-Vanuatu Ozeaniens etwa ist ihre Bindung zum Archipel selbstverständlich. Ihre mündlichen Überlieferungen führen ihren Ursprung auf ein nichtmenschliches Merkmal der Landschaft zurück, ihre ersten Vorfahren sind beispielsweise aus einem Stein oder einem Kokosbaum entstanden. Nicht-Indigene suchen die gleiche Verwurzelung bei biotechnologischen Diensten wie 23andMe (wo jedermann die Untersuchung seiner genetischen Informationen anfordern kann, d Red.), die ihnen erklären, dass sie 'Spanisch' oder 'Yoruba sind. Reich hingegen ist der Meinung, bewiesen zu haben, dass die Menschheitsgeschichte nicht von Stillstand und Reinheit geprägt ist, sondern von Bewegung und Kreuzung. Menschen, die heute an einem Ort leben, haben oft keine genetische Ähnlichkeit mit Menschen, die dort vor Tausenden von Jahren lebten, so dass die Vorstellung, etwas im Blut mache einen zu einem Spanier, absurd erscheint …Nach dem Aussterben der Neandertaler vor etwa 40.000 Jahren waren die archaischen menschlichen Populationen, Reich nennt etwa die alten Nordeurasier, völlig anders als die Populationen von heute."
Archiv: New York Times