Magazinrundschau

Geh nicht nach Haiti!

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.06.2019. La vie des idées fragt, ob der Staat rassistisch sein kann oder eher seine Institutionen diskriminierend. Le Monde diplomatique erkundet die Ökonomie der Migration im Niger. Überwachen und Ausbeuten funktioniert aber auch mit Shared Workspaces ganz gut, weiß das New York Magazine. 168 ora steht fassungslos vor der Zerstörungswut der ungarischen Regierung. The Nation spürt dem amerikanischen Liberalismus nach. Die LRB revidiert mit Sibylle Lacan die Imago ihres Vaters. Und die New York Times erinnert an das Feuer bei Universal, das Masteraufnahmen von Duke Ellington bis John Coltrane verschlang.

La vie des idees (Frankreich), 14.06.2019

Im zweiten Teil eines großen Dossiers zum Thema Rassismus lässt La Vie des idées verschiedene Wissenschaftler diskutieren, ob man in Frankreich von institutionellem Rassismus sprechen kann. Die meisten bejahen das, doch die Juristin Gwénaële Calvès besteht auf begrifflicher Klarheit. Systemisch ist ihr zufolge Diskriminierung, wenn sie absichtlich auf den Ausschluss einer Gruppe zielt. Institutionell ist sie, wenn der Ausschluss Folge einer Indifferenz sei. Bei dem Begriff Rassismus ist sie vorsichtig. Vorurteile und Feindseligkeit können am Anfang einer Diskriminierung stehen, aber: "Der normale Betrieb einer Schule, eines Krankenhauses, eines Unternehmens kann nicht im gleichen Sinne 'rassistisch' sein wie die Schriften Alain Sorals oder wie die Weigerung eines Vermieters, Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu akzeptieren. Im ersten Fall wollen wir objektive Auswirkungen ermitteln, unabhängig von den Absichten und subjektiven Vorstellungen der sozialen Akteure. Im zweiten Fall dagegen bildet die subjektive Haltung den Kern des Problems. Ein und dasselbe Wort für diese beiden so unterschiedlichen Perspektiven zu verwenden, bringt meiner Ansicht nach zu viel durcheinander. Die subjektiven Konnotationen des Adjektivs 'rassistisch' erscheinen mir zu stark, als dass sie der Falle des Anthropomorphen entgehen könnten: Der Staat wäre dann wie jede andere moralische Person rassistisch oder phobisch - das ergibt offensichtlich keinen Sinn. Ich halte es übrigens auch für unmöglich, den moralischen Vorwurf zu neutralisieren, der für die meisten mit dem Begriff Rassismus verbunden ist. Ihn für analytische Ziele zu verwenden birgt die Gefahr, ihm eine anklägerische Wendung zu verleihen, was im Widerspruch steht zu der eigentlichen Rolle, die das Konzept des institutionellen Rassismus spielen soll. Besser halten wir uns an den Ausdruck 'institutionelle Diskriminierung', das ist neutraler."

The Nation (USA), 12.06.2019

Kaum ein Begriff ist derart schwer zu fassen wie der "Liberalismus", schreibt der Historiker David A. Bell und greift zu Adam Gopniks "A Thousand Small Sanities", das ihm unter all dem "lexikalischen und politischen Morast" eine Definition bieten soll. Leider belasse es Gopnik ebenfalls bei einer äußerst vagen Definition: Liberalismus versteht er als "Temperament", als den Versuch, mit gewaltfreien Mitteln "egalitäre soziale Reformen und eine immer größere (wenn nicht absolute) Toleranz gegenüber menschlichen Unterschieden zu erreichen". Diese schwammige Analyse aber veranschauliche laut Bell gut das Grundproblem des amerikanischen Liberalismus: "Die meisten Varianten des amerikanischen Liberalismus haben heute ihre Spezifikation, Klarheit und historische Grundlage verloren. Während Progressive und Sozialisten gern die Banner des New Deal und der Great Society aufgreifen, sind selbsternannte Liberale im Allgemeinen vorsichtiger und aufmerksamer gegenüber Bill Clintons Erklärung der Niederlage gegenüber dem Reaganismus: 'Die Ära der großen Regierung ist vorbei'. Wenn es um Sozialprogramme geht, ist ihr Modell nicht die Art von umfassender öffentlicher Hilfe, die von Franklin Roosevelt oder Lyndon Johnson vorgeschlagen wurde, mit der damit notwendigerweise einhergehenden Regierungserweiterung, sondern Obamacare: vorsichtige, schrittweise Verbesserung. Liberale stehen im Allgemeinen der Linken in Bürgerrechtsfragen, einschließlich der Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten nahe, aber in Fragen der Verteilung und Regulierung kommen sie den Republikanern häufig näher. Sie sorgen sich lautstark um die spaltenden Auswirkungen der Identitätspolitik und warnen vor den Exzessen auf dem verlassenen Campus. In dieser Bandbreite von Positionen ist es schwierig, eine tief greifende soziale Analyse zu liefern, geschweige denn eine kohärente politische Antwort."
Archiv: The Nation

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 17.06.2019

Nach den Europa-Wahlen hält es Ivan Krastev für illusorisch, dass die rechtsradikalen Parteien bald wieder in der Versenkung verschwinden. Und noch beängstigender scheint ihm aber, dass sich die illiberale Demokratien in der EU festsetzen: "Die neue Stärke der Rechtsextremen nährt sich nicht nur aus den gewonnenen Wählerstimmen. Sie rührt auch daher, dass die Grenze zwischen dem politischen Mainstream und dem rechtsextremen Lager mittlerweile die in Europa am schwächsten bewachte Grenze ist."

Rémi Carayol beobachtet im Norden Nigers den Zusammenbruch der Ökonomie, seit der Staat auf Druck der EU gegen die Migration vorgeht: "In Agadez gleichen die 'Ghettos', die großen Häuser, in denen die Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen. Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für den Transport haben sich verdreifacht. Sobald die Polizei auftaucht, machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere, darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück. Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert. Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in Agadez von der Migration lebte: Fast 6.000 Menschen verdienten ihr Geld als Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als 'Ghetto'-Besitzer oder Fahrer; tausende andere profitierten indirekt - sei es als Köchin, Händler oder Taxifahrer."

Weiteres: Die Protestbewegungen in Algerien und Sudan hält der Afrikanist Gilbert Achcar politisch für ausgesprochen stark und immun gegen die Vereinnahmung islamischer Fundamentalisten. Aber dennoch werden sie es schwer haben, ahnt er: "Anders als in den lateinamerikanischen oder ostasiatischen Ländern, wo die politische Modernisierung die sozioökonomische Modernisierung komplettiert hat, geht es in der arabischen Welt vielmehr um die Abschaffung eines politischen Systems, das die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung seit den 1980er Jahren blockiert." Akram Kharief erkundet die heikle Lage im Iran.

Eurozine (Österreich), 14.06.2019

Tunesiens islamische Ennahda-Partei wird weltweit gerühmt für ihren moderaten Kurs, ihre Fortschrittlichkeit und die Anerkennung einer demokratischen Verfassung jenseits der Scharia. Doch im Land selbst bleibt die Skepsis groß, wie Layli Foroudi in einem aus dem New Humanist übernommen Artikel berichtet. Viele glauben, dass die deklarierte Trennung von Moschee und Staat nicht aus echter Überzeugung rührt, sondern aus Angst vor einem Militärputsch wie in Ägypten: "Nach der Erklärung der Partei von 2016, verbildlichte der linke Karikaturist Tawfik Omrane die Trennung als die Enthauptung des Parteichef Ghannouchi. 'Für mich sind sie Lügner. Der Islam ist ihr politisches Gepäck', sagte er bei einer Ausstellung in Tunis, 'sie könne ohne ihn gar nicht überleben'. Viele Menschen teilen diesen Verdacht. 'Als sie in der Troika regierten, erlebten sie, dass die Gesellschaft gegen ihre Politik ist, aber was werden sie tun, wenn sie die Mehrheit haben?', fragt ein Aktivist aus Tunis, der anonym bleiben möchte: 'Wir applaudierten der AKP in der Türkei, weil sie so moderat war, aber wir wissen, was passierte.' 'Sie sind eine ganz freundliche islamistische Partei, lieb und nett', sagt der Autor Shadi Hamid, 'sie betonen immer, wie kompromissbereit sie sind, aber eigentlich übertreiben sie es, alles wirkt so demonstrativ'."
Archiv: Eurozine

New York Magazine (USA), 24.06.2019

Dass Shared Workspaces zwar gewinnbringend sein können, aber noch lange nicht Glück für alle bedeuten, erläutert Reeves Wiedeman in einem Beitrag am Beispiel der heftig expandierenden Firma WeWork: "In Dutzenden Interviews bezweifeln aktuelle und ehemalige Mitarbeiter und Führungskräfte von WeWork, ob die Unternehmenskultur die Verbreitung wert ist. Trotz des Unternehmensmottos 'Make a Life, not just a Living', geben Mitarbeiter auf allen Ebenen an, 70-Stunden-Wochen zu haben … Bei der jährlichen Hauptversammelung erfasst das Unternehmen die Anwesenheit seiner Mitarbeiter auf Panels und Veranstaltungen mittels Scannen der Armbänder. Auffällige Abwesenheiten werden gemeldet. Mitarbeitern beschreiben einen fatalen Zyklus bei WeWork: Potenzielle Mitarbeiter werden von der Mission des Unternehmens angelockt, nur um ausgebrannt und durch neue ersetzt zu werden … Für jemanden, der Community als Geschäftsidee verkaufen will, hat CEO Adam Neumann eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Immobilienhai … Und gegen eine Reihe seiner Konkurrenten wie UrWork und WE Labs hat WeWork Verfahren wegen Markenrechtsverletzung eingeleitet."
Stichwörter: Shared Workspaces

London Review of Books (UK), 17.06.2019

Es wundert Lili Owen Rowlands gar nicht, dass Jacques Lacan ein miserabler Vater war, und doch liest sie erschrocken in den Erinnerungen seiner Tochter Sibylle, wie schlecht er seine Familie behandelte. 2013 nahm sich Sibylle nach Jahren der Depressionen das Leben, auf Englisch sind ihre Erinnerungen erst jetzt erschienen, auf Französisch und Deutsch bereits Ende der neunziger Jahre: "Sibylle Prosa ist dicht und kontrolliert. Zum Glück hat sie nicht von der Opakheit ihres Vaters und bedient sich auch nicht seiner Begrifflichkeit. Aber mit der Entdeckung seines Doppellebens geht eine erkennbare Schwächung dessen einher, was Lacan, der Analyst, die Imago des Vaters nennen würde: Das Bild des abwesenden Vaters verzerrt sich zu dem eines erbärmlichen. Mit 21 Jahren wurde Sibylle plötzlich krank, überkommen von einer andauernden und immensen Müdigkeit, und als sich auch nach etlichen Monaten ihre Kondition nicht verbesserte, sucht ihre Mutter Malou Rat bei Lacan und arrangierte seinen Besuch. Am verabredeten Tag wartete Sibylle auf ihren Vater, vom Balkon aus blickt sie auf die Rue Jadin, die Zeit verstrich, aber niemand kam. Endlich sah sie ihn aus einem Bordell am Ende der Straße auftauchen, das 'von Menschen mit Klasse besucht' wurde. Sie schäumte vor Wut: 'Wie kann er es wagen, in der Rue Jadin zu vögeln, nur wenige Schritte entfernt vom Haus seiner Kinder und seiner Exfrau?' Wer mit Lacans Arbeit vertraut ist, wird nicht überrascht sein, dass er launisch und anmaßend sein konnte, ein Womaniser. Aber 'Ein Vater' enthüllt auch Lacans Habgier und seinen Hang, Menschen von niedrigerem sozialen Status mit Verachtung zu begegnen - für ihn waren sie subaltern."

Niemand konnte das Schweigen einsamer Männer so in Szene setzen wie Jean-Pierre Melville, der große Einzelgänger unter den Filmregisseuren. Adam Schatz liest mit großer Bewunderung zwei Biografien von Bertrand Teissier und Antoine de Baecque, in denen er auch viel über Melvilles Zeit in der Résistance und als Kämpfer für das freie Frankreich erfährt. Und er ärgert sich furchtbar, dass Melville als Genre-Regisseur abgetan wurde: "Der Minimalismus von Melvilles Filmen - wie auch ihre Gleichgültigkeit gegenüber psychologischen Beweggründen oder melodramatischen Konventionen - brachte ihm die Bemerkung ein, er imitiere Robert Bresson. Melville antworte darauf gereizt, er habe Bresson'sche Techniken bereits vor Bresson benutzt, also würde Bresson eher 'Melville-sieren'. Die Beobachtung war ziemlich treffend, doch selbst André Bazin, der ihre Richtigkeit anerkannte, attestierte Bresson, Melvilles Innovationen zur Vollendung zu bringen, als hätte erst Bresson aus den Tricks eines geringeren Filmemachers echte Kunst gemacht... Der unschmeichelhafte Vergleich mit Bresson verrät Vorurteile gegenüber dem Genre - und vielleicht auch noch andere. Melville, ein atheistischer Jude, drehte Krimis, Polizeifilme und politische Thriller, während Bresson, der gläubige Katholik, Arthouse-Filme mit spirituellem Ehrgeiz schuf. Die Gnade, die Bressons Charakteren gelegentlich zukommt, wird den Unterwelt-Verschwörern bei Melville niemals zuteil. Sie leben in einer gefallenen Welt, in der Brüderlichkeit die einzige Zuflucht bietet, den einzigen Ausweg der Tod."

Weiteres: Ian Penman liest Jason Drapers Prince-Biografie, hört sich noch mal durch sämtlich Alben und stellt fest: "Da Prince nur zu gern mit seiner Erscheinung spielte, hielt er nichts von der Verehrung des angeblich Authentischen, wie man schwarz, männlich oder soulful zu sein hat." Tom Strevenson liest die Berge von Papier, die ein New-York-Times-Reporter nach dem Ende des Islamischen Staats sichergestellt hat und die auch dem Möchtegern-Kalifat ein ermüdendes Maß an Bürokratie attestieren. David Runciman gibt allen Politikern, die gern den starken Mann markieren, mit auf den Weg, dass Margaret Thatcher Erfolg auf ihrem politischem Pragmatismus gründete.

New Yorker (USA), 24.06.2019

In der aktuellen Ausgabe untersucht Sam Knight, wie Boris Johnson den Blick auf das Karnevaleske in der Politik und eine ordentliche Portion Machtbewusstsein in einer Person vereint: "Vergangenen Monat war Johnson der erste Kandidat, der in das Rennen um Theresa Mays Nachfolge eintrat. Wer sie als konservative Parteiführerin ersetzt, wird automatisch Premierminister. Derzeit sind zehn Tory MPs im Wettbewerb. Ihre Kollegen werden die letzten beiden wählen, die dann um die Stimmen der hundertsechzigtausend hauptsächlich weißen, hauptsächlich älteren, inbrünstigen pro-Brexit-Konservativen im ganzen Land werben werden. Johnson, der versprochen hat, Großbritannien am 31. Oktober aus der EU zu nehmen, mit oder ohne Deal, ist der absolute Favorit. Er hat sich die Haare schneiden lassen und befindet sich im bescheidenen Wahlkampfmodus. Er kann immer noch scheitern. Sein Selbstvertrauen wird nur von seiner Fähigkeit zur Selbstsabotage übertroffen. Bis jetzt sind Johnsons Leben und Karriere eine Art Denkmal für das Wunschdenken - für lächerliche Erwartungen, die schockierenderweise erfüllt wurden. Brexit ist so ähnlich. 'Ich habe nichts', sagt Johnson. Großbritannien ist im Begriff herauszufinden, was dieses nichts bedeutet."

Außerdem: Jiayang Fan stellt den in Peking geborenen Sci-Fi-Autor Liu Cixin vor, der sich mit der veränderten Rolle Chinas im Weltgeschehen befasst. Und Nick Paumgarten besucht das exklusive Golf Masters Turnier in Augusta, Georgia.
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Johnson, Boris, Brexit

168 ora (Ungarn), 16.06.2019

Der Theaterkritiker Győző Mátyás kommentiert bissig das Vorhaben der Regierung, die Forschungsinstitute der Ungarischen Akademie der Wissenschaften trotz nationaler und internationaler Proteste unter staatliche Kontrolle zu stellen: "Sicherlich hörten wir einige wirre Stimmen, die uns erklärten, wie wichtig es sei, dass Wissenschaft sich rechnet. Aber Wissenschaftler sagten dazu bereits, dass dies eine unprofessionelle Sichtweise ist. Und so rätseln alle, woher die Zerstörungswut kommt. Wir wissen, es geht darum, versprochene EU-Gelder für Forschung leichter veruntreuen zu können, denn ein zentrales Element des derzeitigen Systems ist das Abschöpfen. Und es geht wohl auch um die Zerstörung von Autonomie, das Abwürgen des kritischen Denkens. Wir haben dies bei der Central European University gesehen, wir sehen dies bei der Finanzierung von Theatern, bei der 'Umgestaltung' von literarischen Institutionen, eigentlich in fast allen Bereichen von Kultur und Wissenschaft. Und ebenfalls eine wichtige Rolle spielen wohl das Brechen des Widerstands und der Zwang zum Einlenken, zum Niederwerfen und zur Loyalität, damit man zeigen kann, wer der Stärkere sei. Oder nur ... weil. 'Wir zerstören, weil wir es können.' Um die Macht zu genießen. Sie kann ein sehr starkes Zeug sein."
Archiv: 168 ora

New York Times (USA), 16.06.2019

Im New York Times Magazine erinnert Jody Rosen an den Tag vor elf Jahren, als ein Feuer bei Universal in Hollywood ausbrach und nicht nur ein Filmlager zerstörte, sondern auch ein einzigartiges Archiv mit rund 500.000 Musikmasteraufnahmen: "Das Archiv in Gebäude 6197 war UMGs wichtigstes Lager für Masters an der Westküste, die Originalaufnahmen, von denen alle nachfolgenden Kopien stammen. Es handelt sich um einzigartige Artefakte, die unersetzlichen Hauptquellen eines jeden Musikstücks. Laut UMG-Dokumenten befanden sich im Archiv analoge Bandmaster aus den späten 1940er Jahren sowie digitale Master neueren Datums. Es enthielt das aufgenommene isolierte Rohmaterial von Mehrspuraufnahmen, Drums, Keyboards, Saiteninstrumente auf getrennten Bandbereichen, aus dem analoge Masters zusammengesetzt werden. Und es enthielt Session Masters, Aufnahmen, die nie kommerziell veröffentlicht wurden … Nahezu sämtliche Masters von Buddy Holly gingen in den Flammen verloren, der Großteil von John Coltranes Masters für das Jazzlabel Impulse sowie Impulse Masters von Duke Ellington, Count Basie, Coleman Hawkins, Dizzy Gillespie, Max Roach, Art Blakey, Sonny Rollins, Charles Mingus, Ornette Coleman, Alice Coltrane, Sun Ra, Albert Ayler, Pharoah Sanders und anderen Jazzgrößen, ferner Masters von Bill Haleys 'Rock Around the Clock' oder Bo Diddleys 'Bo Diddley/I'm A Man' … Anders als UMG es damals zugeben wollte, handelte es sich um die größte Katastrophe in der Geschichte der Musikindustrie."

In einem anderen Artikel macht sich Nicholas Kristof Gedanken über die Todesstrafe: "Präsident Trump fordert eine Ausweitung der Todesstrafe auf Drogendealer und Polizistenmörder, mit einem beschleunigten Prozess und schneller Hinrichtung. Eine Mehrheit der Amerikaner (56 Prozent laut Gallup) befürwortet die Todesstrafe, weil sie glaubt, dass sie Straftäter abschreckt oder Geld spart, und vermutet, dass sie nur für die schändlichsten Kriminellen gilt und Fehler kein ernstes Risiko darstellen. All diese Annahmen sind falsch … Die Arbeit von Statistikern und Kriminologen hat ergeben, dass Hinrichtungen keine stärkere abschreckende Wirkung haben als lange Haftstrafen. Tatsächlich sind die Mordraten in Staaten ohne Todesstrafe niedriger als in Staaten mit Todesstrafe."
Archiv: New York Times

Film Comment (USA), 11.06.2019



Wenn der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas ein Interview gibt, dann weht einem daraus nochmal der Geist des Autorenkinos entgegen. Sein neuer Film heißt "Nuestro Tiempo", eine Art metaphysischer SlowMo-Western (hier unsere Festivalkritik), der demnächst auch bei uns in den Kinos läuft. Der Titel - "Unsere Zeit" - bezieht sich "auf die Entfaltung von Ereignissen in der Zeit,", erklärt Reygada: "Wie Tarkowskij geschrieben hat, ist sie die dritte Dimension des Kinos. Für mich ist das Konzept der Präsenz der zentrale Aspekt des Kinos. Und diese Präsenz bedeutet nicht nur eine physische, von einem bestimmten Blickwinkel aus eingefangene Präsenz, sondern viel mehr etwas, was innerhalb der Zeit existiert. ... Im Kino verhält es sich nun einmal so, dass Sex nicht sonderlich präsent ist, weil es dafür keinen Bedarf gibt. Da ein Großteil des Kinos nur illustrierte Literatur darstellt, ist es Zeitverschwendung, Sex zu zeigen, wenn man ihn auch einfach andeuten kann. In meinem Kino ist die Entfaltung von Ereignissen von zentraler Bedeutung, also müssen Dinge gezeigt statt angedeutet werden - ob die Leute nun essen, sprechen, in Autos sitzen, Sex haben oder einfach nur ihr Leben leben."




Außerdem spricht Jordan Cronk mit dem französischen Filmemacher Bertrand Bonello über dessen Zombiefilmvariation "Zombi Child", die die heutige Gegenwart mit dem ursprünglichen Voodoo-Zombie-Mythos auf Haiti zu verbinden versucht. "Mir gefiel die Idee, so eine berühmte Figur - der Zombie, wie wir ihn kennen, ist ja fast eine Popfigur - zu übernehmen. Mich interessierte es, von diesem Ausgangspunkt aus zu den Ursprüngen zurückzukehren und mit dieser Bewegung zwischen den Epochen über Sklaverei und das Verhältnis zwischen Frankreich und Haiti zu sprechen, dessen Geschichte mit Blick auf die Sklaverei eine sehr schwierige, komplizierte ist. ... Jeder riet mir ab. 'Geh nicht nach Haiti, man kann dort nicht drehen! Es ist das schwierigste Land der Welt für Dreharbeiten!' Aber ich wollte unbedingt dort hin, weil ich von der Produktion her nicht allzu viel dort erledigen musste und wenn ich dies nicht in Haiti umsetzen könnte, dann würde ich die Essenz verlieren. Das ist auf eine gewisse Art ethisch, politisch. Aber ja, es war aus vielen Gründen schwierig. Zunächst einmal aus kulturellen Gründen: Wenn Du dort als Weißer ankommst und sagst 'Ich drehe einen Film über Voodoo', dann haben sie wirklich Angst vor dir. Man braucht lange, um akzeptiert zu werden, um das Projekt zu erklären, die damit verbundene Sichtweise, damit sie wissen, dass man viel gelesen und geforscht hat. Man muss zuhören und geduldig sein - es brauchte viel Zeit, aber wir trafen dort wunderbare Leute."

Weiteres: Sheila O'Malley bespricht Martin Scorseses neuen Film über Bob Dylan. Dan Sullivan spricht mit der Experimentalfilmemacherin Malena Szlam, die für ihre auf 16mm-Material gedrehten Landschaftsfilme bekannt ist - ihr neuer Film "Altiplano" entstand in den Anden, in eben jener Region, die die NASA gerne filmt, um den Mars zu veranschaulichen. Amy Taubin schreibt über Ken Jacobs' "The Sky Socialist", der nach 55 Jahren fertig gestellt wurde. Lawrence Garcia denkt über Edward Yangs "Yi Yi" nach. Christina Newland erinnert an den britischen Film "That'll Be the Day" von 1973 mit dem Popstar David Essex in der Hauptrolle. Außerdem hat das Magazin Deborah Youngs Essay über Ermanno Olmi aus dem Jahr 2001 online gestellt.
Archiv: Film Comment