Magazinrundschau

Positiver Katastrophenfall

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
06.08.2019. Der Schriftsteller William T. Vollmann reist auf den Spuren Melvilles nach Französisch-Polynesien. Der Altphilologe Angelo Tonelli beschreibt die fernöstlichen Einfluss auf das antike Griechenland. Chaohua Wang ruft den Demonstranten in Hongkong mit Bruce Lee zu: Sei Wasser, mein Freund! Der Islamwissenschaftler François Déroche stellt Varianten des Koran vor. Georg Seeßlen porträtiert mathematisch hochbegabte Zikaden. Und Javier Marias erklärt, warum "nicht wissen zu wollen" eine Befreiung sein kann.

Smithsonian Magazine (USA), 31.08.2019

Der Schriftsteller William T. Vollmann ist auf den Spuren Herman Melvilles nach Französisch-Polynesien gereist, um mit eigenen Augen die Welt zu sehen, die Melville zu "Moby Dick" inspiriert hatte. Hier der Anfang seines langen Reiseberichts: "Dies ist die Geschichte eines Mannes, der aus verzweifelter Enge floh, auf einer Planke in polynesische Traumländer gewirbelt wurde, zurück in die 'Zivilisation' segelte und dann - da sein Genie vorhersehbar unentschädigt blieb - das Universum in einem kleinen Raum bereisen musste. Sein Biograf nennt ihn 'einen unglücklichen Kerl, der mittellos und schlecht ausgebildet zur Reife gekommen ist'. Leider endete er auch so. Wer hätte die Größe voraussehen können, die vor Herman Melville lag? 1841 schlich sich der ernsthafte junge Mann an seiner unbezahlten Vermieterin vorbei und heuerte bei dem New Bedford Walfänger 'Acushnet' an, der in Richtung Südsee segeln wollte. Er war 21 Jahre alt, eifrig und schockierend aufgeschlossen und sehnte sich nicht nur danach zu sehen, sondern zu leben. In 'Typee' (1846) und 'Omoo' (1847) und den anderen Seefahrerromanen, die von seinen Heldentaten in den nächsten drei Jahren inspiriert und in der halben Dekade geschrieben worden waren, bevor er 'Moby-Dick' begann, schrieb Melville mit großer Neugierde über furchterregende 'Wilde' und kulturelle Andersartigkeit. Um diesen Propheten der Empathie zu ehren, machte ich mich in diesem Frühjahr auf den Weg nach Französisch-Polynesien, um einen Teil des wässrigen Teils der Welt zu erkunden und um so viel wie möglich von diesem Ort und seinen Bewohnern zu sehen, die das moralische Gewissen unseres Romanautors formten und seiner Sprache und seinen Metaphern unendliche Segel aufsetzten. Zurück in Amerika musste er lernen, diese Gaben zu genießen, denn nach einer kurzen Erfolgsphase würde er nicht viel mehr haben, von dem er zehren konnte."

Pangea (Italien), 05.08.2019

Ein leider namenloser Autor unterhält sich mit dem Altphilologen Angelo Tonelli, der in Italien (oder zumindest im Kulturblog Pangea) als Koryphäe seines Faches gilt. In seinem neuen Buch "Attraverso Oltre" stellt er die These auf, dass die griechische Kultur weit stärker als bekannt von östlichen, ja fernöstlichen Kulturen beeinflusst ist als bisher angenommen. Ein Beleg dafür ist für ihn die Abbildung eines mongolischen Gesichts auf einer Vase, die an der Uni Heidelberg aufbewahrt wird: "Die griechischen Philosophen und Denker waren nicht Tarzan und Jane in Onkel Toms Hütte. Sie waren weitgereist (Pythagoras war in Ägypten und Babylon, Platon in Ägypten und so weiter), es existierte eine archaische Seidenstraße, darum fand man bereits im Athen des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung chinesische Seide. Die zugleich barbarischen und kultivierten Skythen waren ein Bindeglied zwischen den nördlichen Randregionen Griechenlands und den mongolischen Steppen, und vor allem haben wir Aussagen über Abaris, der vom 7. bis zum 6. Jahrhundert lebte, einen Schamanen, Reinigungspriester und Diener des hyperboreischen Apollo, der im Besitz übermenschlicher Kräfte war, wie es später unser Empedokles von Agrigent sein sollte: In Abaris verbinden sich das archaische Griechenland, Westsibirien, die Mongolei, China und Tibet. Wie Peter Kingsley in einer grundlegenden Studie zu Abaris feststellte, ist Abaris ein kollektiver Name: Die Awaren waren ein Volk von Bogenschützen und Schamanen an der äußersten östlichen Grenze Europas mit China."
Archiv: Pangea

New York Review of Books (USA), 22.08.2019

Im Blog der New York Review of Books beklagt Sonia Faleiro die Methoden des amtierenden indischen Premiers Narendra Modi, dessen Amtszeit seit Mai 2014 vor allem durch Nichteinlösung seiner Wahlversprechen und das Stummstellen oppositioneller Stimmen auffällt: "Kritische Journalisten müssen mit Mord- oder Vergewaltigungsdrohungen und Verhaftung rechnen. Modi nennt sie 'Prostituierte' … Vergangenen Juli wurde die Show 'Master Stroke' des respektablen Fernsehmoderators Punya Prasun Bajpai auf die schwarze Liste gesetzt, nachdem er nachgewiesen hatte, dass eine Video-Konferenz zwischen Modi und Bauernvertretern, die das Wachstum im ländlichen Raum belegen sollte, gefälscht war. Die Bauern hatten beteuert, ihre Einkommen hätten sich unter Modi vervielfacht, aber Bajpais Reporter fanden heraus, dass die Bauern einem vorgefertigten Skript folgten. Bajpai wurde daraufhin gewarnt, dass Sender, die nur zehn Prozent ihrer Zeit kritisch über Modi berichteten, von seiner Partei  Bharatiya Janata (BJP) gemieden würden. Sprecher der Partei standen dem Sender nicht mehr für Interviews zur Verfügung. Nachdem Bajpai vom Sender angewiesen wurde, Modis Namen und Bild in keinem kritischen Bericht mehr zu verwenden, schmiss Bajpai hin. Für die anderen Medien ein abschreckendes Beispiel. Die Mehrheit von ihnen berichtet seither nurmehr noch über den Indian National Congress (INC), auch wenn die Partei als Opposition ausgedient hat, und kritisiert längst verstorbene Kongressführer wie Nehru. Unterdessen bestimmen eindeutige Falschmeldungen, etwa über Modis Einsatz für Minderheiten die Nachrichten."

HVG (Ungarn), 15.07.2019

Die bekannte Schauspielerin Andrea Fullajtár spricht im Interview mit Rita Szentgyörgyi über die Apathie der Menschen im heutigen Ungarn: "Der Mensch wird apathisch, wenn er unzählige Male gegen die Wand rennt und immer abprallt. In mir zerbrach etwas bei der Demonstration für die Central European University. Ich versank in so einer Depression, in der es keine Amplitude mehr gibt, nur noch Schweigen. Aber man die Hoffnung darf nicht aufgeben. Wir denken immer groß in Begriffen von Widerstand und Opposition, doch manchmal reicht eine Kleinigkeit, um eine riesige Institution von Innen zu destabilisieren. In den vergangenen Tagen ist einer meiner Rosenstöcke verendet, der seit Jahren kämpferisch große Stacheln wachsen ließ und alles dafür tat um sich zu verteidigen. Doch der Mehltau, der kleiner ist als ein Stecknadelkopf, hat ihn eingewoben und besiegt. Auch darum denke ich, dass große Veränderungen nicht unbedingt durch große Dinge entstehen."
Archiv: HVG

Boston Review (USA), 06.08.2019

Egal, wie skandalös Donald Trump auftritt - er hat eine unbeirrbare Basis an Wählern, die nicht wankt, lernt Ronald Aronson, der Zahlen und Bücher zum Thema studiert hat. Und es sind nicht einfach Armut und Hoffnungslosigkeit, die die Leute in Trumps Arme treibt. Das fand die Politikwissenschaftlerin Diana Mutz heraus, die für eine Studie das Wahlergebnis von 2016 im Detail analysiert hat, so Arnonson: "Ihre Schlussfolgerung ist in ihrem Titel zusammengefasst: 'Statusangst, nicht wirtschaftliche Not, erklärt die Präsidentschaftswahl 2016.' Die Beweise deuten überwiegend darauf hin, erklärt sie, dass bei Gruppen mit hohem Status die Angst vor dessen Verlust das wichtigste Motiv für die Unterstützung Trumps ist. Die rückläufige zahlenmäßige Dominanz der weißen Amerikaner in den Vereinigten Staaten zusammen mit dem steigenden Status der Afroamerikaner und der amerikanischen Unsicherheit darüber, ob die Vereinigten Staaten weiterhin die dominante globale Wirtschaftssupermacht sein werden, haben zu einer klassischen Abwehrreaktion unter den Mitgliedern dominanter Gruppen geführt. Mutz' quantitative Analyse ist durchaus kritisiert worden, aber die generelle Stoßrichtung ihres Arguments scheint unbestreitbar. Ein afroamerikanischer Mann wird gewählt, und der Schlachtruf lautet 'Take America back!'. Hispanische Einwanderer werden sichtbarer, und der Kampfruf wird zu 'Bauen Sie die Mauer!'. Eine muslimisch-amerikanische Kongressabgeordnete kritisiert den Präsidenten, und der Kampfruf lautet 'Schick sie zurück!'. Laut Mutz speist sich das nicht aus einem 'Rassismus, der darauf hindeutet, dass Weiße Minderheiten als moralisch oder intellektuell minderwertig betrachten, sondern aus der Angst, Minderheiten könnten mächtig genug sein, den Status quo zu verändern."
Archiv: Boston Review

Elet es Irodalom (Ungarn), 02.08.2019

Der ehemalige Chefredakteur der von der Regierung geschlossenen Tageszeitung Népszabadság, András Murányi, erinnert an die Ereignisse von vor vier Jahren, als die Eigentumsübertragung über einen Strohmann an einen Regierungsoligarchen erfolgte, die letztlich die Schließung der Népszabadság ermöglichte. Auch er spricht über die sich ausbreitende Apathie seiner Mitbürger. "Man schaudert über die immer mehr 'nicht veröffentlichten Bücher, nicht veranstalteten Ausstellungen, nicht entstandenen Werke', über immer mehr auswandernde Intellektuelle, Pflege- und Baufachkräfte. Es wäre einfach, nach Revolution zu rufen, man muss aber einsehen, dass dieses System weder von den verängstigten, nörgelnden Intellektuellen, noch von der besiegten Arbeiterschaft oder von den unabhängig-liberalen-linken (gibt es sie noch?) reichen Schichten, oder durch sonst-jemandem von sich aus geändert wird. Und genauso wenig macht es Sinn, auf die europäischen Checks and Balances zu hoffen. Gegen die Zerschlagung der Forschungsinstitute der Ungarischen Akademie der Wissenschaften haben vielleicht nur die Lebertranproduzenten von Grönland nicht protestiert, und dennoch wird der Plan der Regierung Schritt für Schritt präzise umgesetzt. Den verzweifelten Staatsbürgern bleibt nur, in einer Menschenkette die Zerstörung aus nächster Nähe zu betrachten und sich die Schlagzeilen aus FAZ und Guardian vorzulesen: dies sei aber wirklich der Skandal der Skandale!"

Vanity Fair (USA), 06.08.2019

Saudische Bürger, die den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman kritisieren, leben gefährlich. Nicht nur im eigenen Land, auch im Ausland, wie man spätestens seit dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul weiß. Ayman M. Mohyeldin hat recherchiert und eine ganze Anzahl von Vorfällen zusammengetragen, bei denen saudische Bürger im Ausland entführt wurden. "Durch Interviews auf drei Kontinenten mit mehr als dreißig Personen - Aktivisten, nationalen Sicherheitsexperten, Verwandten der Verschleppten und Regierungsbeamten aus den USA, Europa und dem Nahen Osten - bekommen wir ein klareres Bild davon, inwieweit saudische Behörden Landsleute inhaftiert, gewaltsam nach Saudi-Arabien verschleppt und sogar ermordet haben, die es wagen, gegen die Politik des Königreichs zu protestieren oder das Bild der Nation irgendwie zu missachten. Auf diesen Seiten finden sich die Geschichten von acht kürzlich entführten Personen - und von vier anderen, denen es gelungen ist, sich der Gefangennahme zu entziehen -, die Teil eines systematischen Programms sind, das weit über die Ermordung von Jamal Khashoggi hinausgeht. Die saudische Kampagne ist rücksichtslos und unerbittlich. Und sie hat mehr Ähnlichkeiten mit den Codes eines Verbrechersyndikats als mit denen eines traditionellen, modernen Verbündeten der Vereinigten Staaten von Amerika."

Durga Chew-Bose zeichnet ein sehr schönes Porträt von Kristen Stewart, die nicht nur demnächst als einer von "Charlies Angels" und als Jean Seberg in dem gleichnamigen Politthriller von Benedict Andrews zu sehen sein wird, sondern mit der Verfilmung von Lidia Yuknawitschs Buch "The Chronology of Water" auch ihr Debüt als Filmregisseurin geben wird. "Die Art, wie Yuknavitch über einen Körper spricht, und die Schande, ihn zu haben", erklärt Stewart ihr Interesse an dem Buch. "Die Art, wie sie wirklich schmutzig, peinlich, seltsam, ekelhaft, ein Mädchen ist. Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte, wie ich sie noch nicht gesehen habe. Ich wuchs mit 'American Pie' auf, diesen Typen, die in ihren Socken wichsten, als wäre es das Normalste der Welt, und es war urkomisch. Stell dir vor, ein Mädchen kommt - es ist wie, ja was?, so beängstigend und bizarr."

Außerdem: May Jeong geht der Frage nach, warum Fan BingBing - Chinas größter Filmstar, mit so viel Followern auf Weibo wie die KP - kürzlich ein Jahr wie vom Erdboden verschwunden war (man hatte sie wegen Steuerhinterziehung unter Hausarrest gestellt). Und Keziah Weir besucht Miuccia Prada.
Archiv: Vanity Fair

El Pais Semanal (Spanien), 04.08.2019

Neue Wege in Brasilien. Die Journalistin Naiara Galarraga Gortázar stellt die 25 Jahre alte Nachwuchspolitikerin Tabata Amaral vor, "die brasilianische Alexandria Ocasio-Cortez": "Ihre Wahl zur Abgeordneten war der krönende Abschluss einer sorgfältig geplanten Strategie, die eine andere, neue Art von Abgeordneten ins brasilianische Parlament bringen soll. Nachdem sie einen Ethik-Test bestanden hatte, wurden Amaral und weitere 132 - unter insgesamt 4000 Bewerbern ausgewählte - Personen, die noch nie ein öffentliches Amt innegehabt hatten, sechs Monate in Gesundheit, Erziehung, öffentliche Verwaltung, Wirtschaft und Führungskompetenz ausgebildet, mit dem Ziel, einen Parlamentssitz zu erreichen. Ausgedacht hat sich das Ganze der Unternehmer Eduardo Mufarej, der zu diesem Zweck die Gruppierung 'RenovaBR' ins Leben gerufen hat. Zehn von ihnen schafften es tatsächlich ins Parlament, wo sie nun verschiedenen politischen Formationen angehören, linken wie rechten. Andere Organisationen, die in ähnlicher Weise versuchen Nachwuchstalente in die Politik zu bringen, sind RAPs, begründet von dem Miteigentümer des Naturkosmetik-Riesen 'Natura' Guilherme Leal, oder 'Ocupa Política', die vier junge Abgeordnete der linken PSOL unterstützen. (...) Der Politologe Fernando Limongi gibt allerdings zu bedenken, dass sich hinter manchen dieser Gruppierungen auch altbekannte Vertreter herkömmlicher Interessen verbergen: 'Da Parteispenden seit 2015 verboten sind, versuchen manche Unternehmer auf diese Weise, ihre Leute indirekt an die Macht zu bringen.' Mufarej selbst beschreibt seine Gruppierung so: 'RenovaBR hat kein politisches Programm, unsere Mission ist es, talentierte Menschen für die Politik zu gewinnen,von der sich die brasilianische Gesellschaft in den letzten 30 Jahren abgewandt hat. Wir brauchen neue Bezugsfiguren, egal ob links oder rechts, damit die Leute wieder an die Politik glauben.'"
Archiv: El Pais Semanal

London Review of Books (UK), 01.08.2019

Chaohua Wang, eine Studentenführerin der niedergeschlagegen Tienanmen-Proteste, erinnert an den langjährigen Widerstand der Hongkonger gegen Pekings Versuche, die letzte Bastion chinesischer Demokratie zu schleifen, an die Regenschirm-Demonstrationen oder Occupy Central, und sie besingt dabei auch Aktivisten wie den mittlerweile siebzigjährigen Reverend Chu Yiu-ming, der ihr schon 1989 bei der Flucht aus China half und nun für die Unterstützung von Occupy Central ins Gefängnis muss. Welchen Ausgang die aktuellen, von Millionen getragenen Proteste in Hongkong nehmen werden, wagt Chaohua Wang nicht vorauszusagen, doch sieht sie in ihnen eine "spektakuläre Phase" im Kampf um Hongkongs Demokratie: "Alle haben ihre Lektion aus den früheren Protesten gelernt. Die Behörden versuchen immer, eine Bewegung zu zerstören, indem sie die Anführer identifizieren. Doch die aktuellen Proteste haben keine Führung, sie sind extrem dezentral. Die sozialen Medien sind das Hauptwerkzeug der Massenmobilisierung. Diesmal gibt es auch kein inneres Zerwürfnis. Und die Solidarität gründet nicht auf politischer Disziplin: Selbst wenn Brüder zusammen einen Berg besteigen, muss sich jeder anstrengen. Auf eine Aktion kann sofort eine weitere folgen oder nach einer Pause von wenigen Tagen. Bruce Lees Devise wurde zur goldenen Regel: 'Wasser kann fließen, oder es kann zerstören: Sei Wasser, mein Freund!'"

Thomas Meaney zeichnet mit Blick auf zwei Bücher von Kathleen Belew und Kyle Burke die Bruderschaften von Weißen Nationalisten und Paramilitärs in den USA nach, die seit Vietnam ihren eigenen Krieg gegen Schwarze, Kommunisten und den Staat überhaupt führten, wenn sie sich nicht in Rhodesien, Afghanistan oder Kroatien als Söldner verdingten: Seit dem Attentat von Timothy McVeigh in Oklahoma gelten sie als einsame Wölfe, doch in Meaneys Augen haben sie eher von antifaschistischen Partisanen das Konzept der Leaderless Resistance für ihren Herrenmenschen-Terrorismus abgekupfert.

Merkur (Deutschland), 01.08.2019

Wer sagt eigentlich, dass Europa ganz selbstverständlich mit Liberalismus und Emanzipation einhergeht? Und wer glaubt noch an jene geschichtsphilosophische Sicht, derzufolge die Menschheit sich stetig zur global geeinten Gattung entwickelt? Moritz Rudolph jedenfalls nicht. Für ihn oszilliert die Globalisierung seit dem 15. Jahrhundert zwischen Expansion und Kontraktion, auf jede Öffnung folgten Rückzug und Abschottung, wenn auch nicht unbedingt im selben Zuschnitt: "Der nächste Nationalismus könnte supranational-europäisch sein und sich als Antinationalismus camouflieren. Seine geschichtsphilosophische Funktion ist jedoch noch immer dieselbe: Er unterbricht den Welteinigungsprozess, schließt einen partikularen Raum ab und wendet sich scharf nach außen.... Die europäische Rechte befindet sich damit ganz auf der Höhe der kontrahierenden Zeit, und wenn sie sich einmal auf Europa als Aktionsraum geeinigt hat, wird sich alles Weitere schon finden. Noch bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsparteien: Salvini will mehr Schulden machen, die AfD will ihm das verbieten; Le Pen ist für die Verteidigung des Wohlfahrtsstaats, die Mehrheits-AfD will ihn weiter abbauen; die AfD bejubelt den gemeinsamen Binnenmarkt, Le Pen will ihn einschränken; die AfD ist Klimaskeptikerin, Le Pen schwingt sich zur Großökologin auf; Wilders gibt sich israelfreundlich, antiimperialistische Rechte halten es dagegen mit dem palästinensischen Befreiungskampf, den sie zugleich gegen das internationale Finanzjudentum führen wollen; westeuropäische Rechte schwärmen für Russland, osteuropäische hassen die Russen. Viele Politikwissenschaftler drehen aus diesen Widersprüchen ihre Beruhigungspillen und bezeichnen das neue Bündnis, das es, wie sie selbst zugeben müssen, so noch nicht gab und daher Beachtung verdient, als 'wackelig'. Die Rechte, das macht sie ja so rechts, versammelt sich jedoch gerne unter dem Banner des Mächtigsten, der seine Linie dann schon irgendwie durchdrückt. Für langanhaltende Grabenkämpfe ist sie nicht bekannt."

Weiteres: Der Schriftsteller Per Leo lässt seine verändert Sicht auf die Politik in den USA Revue passieren. Emily Witt schreibt über die Opioid-Krise in den USA.

Archiv: Merkur

En attendant Nadeau (Frankreich), 03.08.2019

Der Koran beansprucht, buchstäblich das Wort Gottes zu sein. Darum stellte sich ziemlich bald nach dem Tod Mohammeds das Problem einer ein für alle mal feststehenden schriftlichen Version, die vom Kalifen Uthman etwa zwanzig Jahre nach dem Tod des Propheten in Auftrag gegeben wurde. Diese Version wird seitdem kaum angetastet, und bis vor kurzem glaubte man, es sei überhaupt keine Abschrift vor dem 9. Jahrhundert überliefert. Aber das ist falsch. In Paris etwa finden sich Abschriften aus dem 7. Jahrhundert, die übrigens ziemlich nah mit dem uthmanischen Kodex übereinstimmen und dennoch ein paar interessante Varianten bieten. François Déroche, Islamwissenschaftler am Collège de France, hat diese Varianten für sein neues Buch "Le Coran, une histoire plurielle" erforscht, und Philippe Cardinal berichtet in En attendant Nadeau ausführlich über seine Ergebnisse: "Die Entscheidung, der Gemeinde eine einheitliche schriftliche Version vorzusetzen, ist dabei durchaus auf Widerstände gestoßen, und 'mindestens bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts tauchten immer wieder Fragen zur Echtheit der uthmanischen Version auf', merkt Deroche an. Trotzdem galt der uthmanische Text, 'sorgsam eingefasst von koranischer Gelehrsamkeit, der alle seine Aspekte minuziös in Register fasste' bald als absolut authentisch. So wurde 'der vielfältige Koran der Anfänge' auf eine einzige Version reduziert."

CulturMag (Deutschland), 05.08.2019

Für seine Sommerausgabe hat das CulturMag einen bunten Strauß an Essays, Rezensionen, Textauszügen und weiteren Varia zum Thema "Natur" zusammengestellt. Georg Seeßlen etwa macht sich beim Sommernachmittag unter einem Baum summende und brummende Gedanken zum Thema Mathematik, Natur und Katastrophen - und erzählt dabei auch von einer schönen Betrachtung aus der Zikadologie, denn Zikaden und Primzahlen haben ein eigentümliches Verhältnis, schließlich schlüpfen die Larven nur alle paar Jubeljahre und zwar im Primzahlen-Abstand. Dies "scheint ein besonders genialer Trick, sich vor den Fressfeinden zu schützen, die auf das Überangebot reagieren. Denn eben diese Fressfeinde vermehren sich in Rhythmen von zwei, vier, fünf oder sechs Jahren, so dass es zu keiner häufigen Synchronität kommt. Schlüpft ein Fressfeind zum Beispiel im Fünf-Jahresrhythmus, dann dauert es mindestens 85 Jahre, nämlich 5 mal 17 Jahre, bis sich die Schlüpfzyklen von Zikaden und Fressfeinden überschneiden."

Der auf Naturbetrachtungen spezialisierte Germanist Ludwig Fischer nimmt uns derweil zu einem Ausflug mit ins Moor, dessen Kulturgeschichte er umreißt: Viel vom Moor ist in Deutschland nicht übrig geblieben, aber auch dessen heutige Bewahrung aus ökologischen Gründen ist in erster Linie eine Kulturleistung, schreibt er: "Erstens: Die ästhetische 'Entdeckung' des Moors (im 19. Jahrhundert) erfasste, sieht man genau hin, gar nicht die 'unberührte Natur' des Hoch- oder Niedermoors. ... Zweitens: Auch diese ästhetische Überhöhung der 'ersten Stufe', also der vorindustriellen Phase der Moorkolonisierung hat, mit ihrer agrar-romantischen Tendenz, einen regressiven Zug, stellt das gesamtgesellschaftlich schon weithin Überholte vor."

Außerdem: Brigitte Helbling hat erstmals den Essay "Die braunen Wespen" des Naturbeobachters Loren Eiseley aus dem Jahr 1956 ins Deutsche übertragen - "ein seltsamer Essay", wie die Übersetzerin im Anhang selber einräumt: Sehr aufmerken lässt allerdings, dass der Text ursprünglich in der von Joyce Carol Oates herausgegebenen Anthologie "The Best American Essays of the Century" berücksichtigt wurde. Und der Schriftsteller Johannes Groschupf, der gerade für seinen Thriller "Berlin Prepper" (unsere Kritik) gefeiert wird, schreibt über seine Reise nach Sibirien auf den Spuren des Naturforschers Georg Steller, über den Groschupf eigentlich einen Roman schreiben wollte. Dazu ergänzend der Hinweis: Beim NDR gibt es derzeit noch Peter Leonhard Brauns wunderbar lakonisch getextetes, sehr radiophonen Feature-Klassiker "Hyänen" aus dem Jahr 1971 zum Nachhören.
Archiv: CulturMag

New York Times (USA), 04.08.2019

In einem Beitrag für die aktuelle Ausgabe des Magazins befasst sich Giles Harvey mit Javier Marias' lebenslanger Beschäftigung mit Spaniens faschistischer Vergangenheit und dem Handel, bei dem die Faschisten 1976 ihre Macht unter der Bedingung abgaben, für keins ihrer Verbrechen haftbar gemacht zu werden: "Dieser moralische Kompromiss und die Kultur des Schweigens, die ihm folgte, hat Marias' Fantasie angeregt. Seine Romane drehen sich oft um Menschen, denen das Vergessen und die Ignoranz zur Lebensform geworden sind. Auch wenn diese Bücher nicht explizit vom Faschismus handeln, untersuchen sie Gefühlsstrukturen, die die Diktatur und ihre Folgen heraufbeschwören … Für den älteren Marias läuft es auf die Frage nach dem Bösen heraus, das in der modernen Welt zum Fetisch geworden ist, wie er glaubt. 'Es gibt eine Tendenz, sich dem Widerlichen, Anomalen, Monströsen auszusetzen und sich daran zu reiben, als besäße es einen Zauber', erklärt er. Das erscheint ihm rückwärtsgewandt: 'Es gibt derart abscheuliche Taten, dass ihre bloße Durchführung uns jegliche Neugier auf die Täter austreiben sollte, anstatt sie erst hervorzurufen.' Nicht wissen zu wollen, dem Bösen seine Macht abzusprechen, die Fantasie zu korrumpieren, ist heute und vor allem in Europa mit seiner schauerlichen Geschichte eine höchst radikale Idee. Wie Tony Judt in seinem Buch 'Postwar' schreibt, ist das historische Erinnern zu einer Art Religion geworden, 'der Grundlage kollektiver Identität'. Natürlich propagiert Marias nicht Ignoranz. Er lädt uns ein die Spannung zu ermessen zwischen einer Erinnerung als andauernder Trauer, die erstickend wirken kann, und dem Vergessen als einer Form der Befreiung."

Außerdem: Jon Mooallem berichtet aus Paradise, Kalifornien, einer Stadt, die bei den horrenden Waldbränden von 2018 fast vollständig zerstört wurde (sehr lesenswert auch Mark Arax' Reportage im California Sunday Magazine zu den menschengemachten Gründen für das Ausmaß des Feuers). Und Carina Chocano erklärt, was an Gender Reveal Partys, bei denen das Geschlecht des Ungeborenen offenbart und gefeiert wird, so fragwürdig ist.
Archiv: New York Times