Magazinrundschau

Keine Ikone

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
27.08.2019. Der New Yorker fragt sich, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich aufgehen kann. Das ungarische System belohnt die Dummheit, kritisiert Paul Lendvai in Elet es Irodalom. In Wired blickt Laurie Penny zurück auf ihre Zeit als Sci-Fi-Nerd in Oxford. In Novinky erklärt Petr Pithart, was für ihn Freiheit ist. The Atlantic versucht Aung San Suu Kyi zu verstehen.

New Yorker (USA), 02.09.2019

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker fragt sich Liaquat Ahamed, ob sich die Schere zwischen Arm und Reich einfach immer weiter öffnet oder irgendwann Schluss ist damit, und vergleicht die Meritokratie der USA und den "politischen Kapitalismus" in China: "In der Meritokratie resultiert Ungleichheit daraus, wie Kapital angehäuft wird. Die Reichen können mehr sparen als die Armen und verfügen so über überproportional viel Kapital und Reichtum einer Wirtschaft. Weil der Kapitalertrag, eine wichtige Einkommensquelle der Reichen, höher ist als der Lohnzuwachs, werden die Reichen immer reicher. Genauso steht es um die Bildung: Reiche sind besser ausgebildet, erhalten höhere Löhne. Sie erhalten auch höheren Zuwachs auf ihr Kapital, weil sie durch die Sicherheit ihres Vermögens risikofreudiger sein können. Sie heiraten andere gut ausgebildete reiche Menschen und geben das Kapital weiter an ihre Kinder, sodass die Ungleichheit weitervererbt wird. Der 'politische Kapitalismus' in China hat seine eigenen, die Ungleichheit befördernden Dynamiken. Obwohl China zutiefst kapitalistisch geworden ist (fast 80 Prozent der nationalen Industrieproduktion findet im privaten Sektor statt), werden die kommerziell aktiven Schichten von einer hoch disziplinierten autokratischen Bürokratie kontrolliert. Die Macht des Gesetzes ist schwach, Entscheidungen oft willkürlich, Besitzrechte unsicher und Korruption allgegenwärtig. China geht durch eine beschleunigte Form der industriellen Revolution und des Goldenen Zeitalters gleichzeitig. Fügen wir die heimtückischen Effekte der Vetternwirtschaft hinzu, dann ist eine extrem ungleiche Gesellschaft das Ergebnis. Die Verteilung des Einkommens in China, so stellt sich heraus, ist noch ungleicher als in den USA und nähert sich den Verhältnissen in den Plutokratien Lateinamerikas an."

Außerdem: Calvin Tomkins porträtiert die stille Künstlerin Vija Celmins. Nick Paumgarten klärt auf über die Hintergründe der jüngsten Masernepidemie in den USA. Dan Chiasson denkt nach über das totgesagte gedruckte Buch, das einfach nicht totzukriegen ist. Madeleine Schwartz liest Nell Zinks neuen Roman "Doxology". Adam Gopnik liest eine Geschichte der Spionage. Amanda Petrusich interviewt Iggy Pop. Und Anthony Lane sah im Kino Issa López' "Tigers Are Not Afraid".
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 23.08.2019

In Kürze erscheint in Ungarn das achtzehnte Buch des neunzigJährigen Publizisten Paul Lendvai (Die Verspielte Welt, Ecowin-Verlag), der in einem ausführlichen Interview mit Peter N. Nagy unter anderem über das Wesen des seit 2010 in Ungarn ausgebauten Regimes spricht. "Dieses auf ungarischem Boden geborene System ist etwas Besonderes. Diener findet natürlich jede Politik und eine dünne Schicht profitiert auch sehr. Insgesamt aber ist ein System entstanden, das die Dummheit belohnt. Es ist unglaublich, was für Menschen sich zum Beispiel über Literatur äußern, während diejenigen, die unangenehm sind, sorgfältig beiseite geschoben werden. Den wenigen (...) bürgerlichen Kritikern missfällt es, dass der zunehmende Reichtum weniger Menschen über allem stehen soll. Es ist wie nach der französischen Revolution, als Minister François Guizot verkündete: Werdet reich! Hier wird ergänzt: und schweigt! Wer das befolgt, dem geht es gut. Aber viele talentierte Menschen in den Medien, den Künsten und in der Literatur haben sie nicht. (...) Vor kurzem ist eine wunderbare Figur der ungarischen Gesellschaft, Ágnes Heller, gestorben, was ein größeres Echo im Ausland hatte als in Ungarn. Die Macht schwieg. Dummheit und Provinzialismus grassieren. Je größer die Lüge, desto glaubhafter ist sie. Dieses Propagandasystem war im Stande aus einem György Soros, einer herausragenden Figur der ungarischen Geschichte, einen Feind zu kreieren. Das funktioniert. Es bedarf auch keiner Gewalt dafür, zumindest bis es keine Wirtschaftskrise gibt. Die Zukunft der ungarischen Gesellschaft hängt im Augenblick vom gesundheitlichen Zustand des Viktor Orbán ab."

Wired (USA), 27.08.2019

Laurie Penny blickt melancholisch-schwärmerisch, in jedem Fall aber sehr persönlich zurück auf die Zeit, als sie als Fantasy- und Science-Fiction-Nerd in Oxford mit Gleichgesinnten einen Fanfiction-Zirkel gründete und hitzig Science-Fiction-Serien und -Romane diskutierte: Für queere Menschen und für Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht zuletzt auch ein tröstender Rückzugsort. Was damals Außenseitertum gewesen ist, weil es die gängigen Erzählmuster in Frage stellte und das popkulturelle Material neu sortierte und perspektivierte, ist heute eine Ressource fürs serielle Erzählen, das mit dem Serienboom dringend Nachschub braucht, erfahren wir. Auch der Monomythos - die Heldenreise, wie sie Joseph Campbell als kulturenübergreifende Grunderzählung destilliert hat und die lange Zeit in Hollywood als Drehbuchformel galt - steht hier zur Disposition: "Viele von uns erkannten ihr eigenes Leben in diesen Mustern überhaupt nicht wieder. Folgt man der Psychotherapeutin Maureen Murdock, dann sagte Campbell selbst, dass Frauen die Heldenreise nicht brauchen - wir sollten einfach akzeptieren, dass Frauen 'der Ort sind, an den Leute zu gelangen versuchen'. Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sprach von den Gefahren, die von einer solchen eingedampften Geschichte ausgehen: 'Eine solche Geschichte schafft Stereotypen. Und das Problem mit Stereotypen ist nicht, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen, sondern dass sie nicht vollständig sind. Aus einer Geschichte wird die einzige Geschichte.' Die menschliche Gesellschaft kann nicht auf Grundlage einer einzigen Geschichte überleben, genauso wenig wie sie mit einer einseitigen Ernährung bestehend aus Adderall gesprenkelten Steaks gedeihen kann."
Archiv: Wired

Novinky.cz (Tschechien), 21.08.2019

Vor 50 Jahren, am 21. August 1969, fanden in mehreren Städten der Tschechoslowakei - ein Jahr, nachdem die Truppen des Warschauer Pakts den Prager Frühling beendet hatten - die letzten Demonstrationen gegen die Sowjetarmee statt, es kam zu Toten und Verletzten. In einem Essay erinnert sich der damalige Dissident und spätere Premier Petr Pithart an die Prager Demonstration. "Es war keine organisierte Zusammenkunft, niemand hatte zu etwas aufgerufen. Wir gingen jeder für sich. Manche hielten sich an den Händen. Wir waren dort, weil es die letzte Möglichkeit war. Hingehen musste man, auch wenn es keinen praktischen Sinn mehr hatte. Nach Jahren erkennen wir, dass diese Momente, in denen es vermutlich um nichts mehr geht, nur noch um Kopf und Kragen, die wichtigsten, vielleicht die besten in unserem Leben sind. In Zeiten der Auszehrung nährt man sich lange von ihnen. Es ist die reine Freiheit (…) Niemand wird schlecht über dich sprechen, weil du dort nicht warst. Eher deswegen, weil du dort warst, und schon hat man sich für dich neue, bislang unbekannte Strafen ausgedacht: Auflösung des Arbeitsverhältnisses aufgrund von Vertrauensverlust, Schulausschluss, verlängerte Inhaftnahme, beschleunigte Gerichtsverfahren, Einzelrichter. Nur weil du dort warst und sie dich erwischt haben. Was für eine Freiheit also? Die Freiheit, sich sein Schicksal zu wählen."
Archiv: Novinky.cz

Guardian (UK), 26.08.2019

Der Anarchismus hat durchaus seinen Anteil am politischen Terrorismus, doch für den britischen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton gehört er auch zu den sympathischsten und erfindungsreichsten Bewegungen. Leider ist er mit seiner strikten Ablehnung von Regierung, Macht und Hierarchie absolut dysfunktional, wie Eagleton Ruth Kinnas hervorragender Geschichte "The Government of No One ends" entnimmt: "Regeln behindern Freiheit nicht nur, sie können sie auch erleichtern: Wenn alle auf der gleichen Seite der Straße fahren, ende ich weniger wahrscheinlich im Rollstuhl. Der Staat ist natürlich eine Quelle tödlicher Gewalt, aber er lässt auch Kinder lernen, wie sie sich die Schuhe zubinden. Nicht jede Macht ist repressiv, nicht jede Autorität abstoßend. Es gibt die Autorität derer, die im Kampf gegen das Patriarchat erfahren sind, die zu respektieren hilfreich sein könnte. Jemandem etwas zu erklären, was er wissen sollte, ist nicht immer hierarchisch. Auch Wissen ist es nicht, wie manche verrückte Libertäre behaupten. Einige antihierarchische Anarchisten glauben, dass alle Meinungen gleich viel wert seien, also auch die Meinung, dass es nicht alle sind. Als der junge Anarchist Noam Chomsky in den späten sechziger Jahren nach Europa kam, mit wichtigen Informationen über die politischen Verwerfungen in den USA, lehnten es einigen Studenten ab, ihm zuzuhören, weil Vorlesungen eine Form von Gewalt seien."
Archiv: Guardian

Magyar Narancs (Ungarn), 25.07.2019

Im Interview mit Anna Szalai sprechen die Hochschullehrerin Zsófia Csomay (Moholy-Nagy Universität für Kunst und Design) und der Architekt, Designer und Bühnenbildner László Rajk über die Situation der Architektur im heutigen Ungarn. "Die Entscheidungsträger und die Architekten hätten wesentlich wichtigere Aufgaben als das Heraufbeschwören der Geschichte, denn sehr schnell müssen Antworten auf die Probleme des Klimawandels und der Wohnungsnot gefunden werden. Andererseits ist es ein Skandal, dass während wir für unglaublich viel Geld alte Träume reinkarnieren lassen, niemand mit der überraschend homogenen Textur von Budapest etwas anfangen kann. Diese einheitliche Baustruktur konnte bisher erhalten werden, obwohl ihre Zerstörung bereits anfing. (...) Doch ohne Zweifel wendet sich der architektonische Geschmack der geistigen Elite rückwärts. Es ist bezeichnend, dass die Moderne für die Intellektuellen der Gegenwart das Bauhaus ist - ein totales Missverständnis, denn es ist der Abdruck einer hundert Jahre alten Epoche. Wenn jemand 1930 gesagt hätte, dass wir den 1830ern Jahre folgen sollten, dann wäre er ausgelacht worden. Heute ist derjenige verdächtig, der davon Abstand halten möchte. Es ist schwer, die Politik verantwortlich zu machen für mangelnde Risikobereitschaft, fehlende Offenheit und Neugier, wenn die Intellektuellen selbst immer nur zurückblicken. Das Schweigen vereinnahmt die ganze Gesellschaft. (...) Doch ich akzeptiere es nicht, dass der einzige Grund hierfür die Angst sei. Nach der Öffnung in der kurzen Periode nach der Wende, dreht sich das Land nach Innen. Die Elite - die Mehrheit der Architekten inbegriffen - orientiert sich nicht, sie ist an ausländischen Trends nicht interessiert und auch ungarische Ereignisse lassen sie kalt."
Archiv: Magyar Narancs

The Atlantic (USA), 30.09.2019

In der neuen Ausgabe des Magazins befasst sich Obamas früherer Redenschreiber und Berater Ben Rhodes mit dem Schicksal der birmanischen Politikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die seit 2016 Regierungschefin von Myanmar ist und wegen ihrer indifferenten Haltung zum Völkermord an den Rohingya in der Kritik steht: "Sieben Jahre nach unserer ersten Begegnung frage ich mich, was Aung San Suu Kyi anstrebt. Zweifellos will sie Präsidentin werden, aber warum? Eine Antwort lautet: Als Aung Sans Tochter will sie die Macht über ein buddhistisches Myanmar, um ihr persönliches Schicksal zu vollenden. Die Demokratie wäre in diesem Fall für sie nur Mittel zum Zweck, und sich für die Rohingya einzusetzen, hieße dieses Ziel gefährden. Eine andere Antwort wäre: Sie möchte das Land wirklich in eine Demokratie verwandeln, Kontrolle über das Militär gewinnen, Frieden unter den ethnischen Gruppierungen stiften und ein Land schaffen, in dem es für die Menschen bergauf geht und wo ethnische Säuberungen der Vergangenheit angehören. Das aber bräuchte Geduld und unangenehme Kompromisse. Beide Antworten scheinen mir zutreffend. Über die Jahre habe ich Suu Kyi als Idealistin und Machtperson gleichermaßen kennengelernt, eine Frau, die von nationaler Versöhnung sprach, von Gewaltlosigleit und Dialog, die darauf bestand, keine Ikone zu sein, sondern eine Politikerin, die eine Partei führt, und zwar in einer erwachenden Demokratie, die mich um eine DVD des Films 'Glory' bat, eine Geschichte tragischen Heroismus' beim Kampf um Freiheit und Gleichheit. Ich erinnere mich ebenso an eine Frau, die dazu neigt, jede Konversation auf ihre eigenen Anliegen zu bringen, die alte Weggefährten aus der Zeit ihrer Inhaftierung fallen ließ, deren Rhetorik über Menschenrechte und Gesetze oft fadenscheinig war, die Frau, die sich so sehr interessierte für das Drama 'The Crown" über das britische Königshaus. David Mathieson von Human Rights Watch, der sie jahrelang unterstützte, sagte mir, dass Suu Kyis Fall eine Lektion enthalte: Unsere Hoffnung, das Gewicht eines ganzen Landes auf ein einzelnes Individuum zu setzen, ist zu viel, gleich wie faszinierend seine Geschichte auch sein mag."

In der Titelstory erzählt Vann R. Newkirk die Geschichte der schwarzen Farmer in Mississippi, die in den letzten Jahrzehnten durch legale und manchmal nicht so legale Tricks ihr Land verloren haben: "Die Besitzer kleinerer Bauernhöfe, schwarze wie weiße, werden überall von größeren Wirtschaftskräften bedoht. Aber was mit den schwarzen Grundbesitzern im Süden und insbesondere im Delta geschah, ist anders und wurde nicht nur durch den wirtschaftlichen Wandel, sondern auch durch weißen Rassismus und lokale weiße Machtinhaber angetrieben. Ein Krieg, der mittels Besitzurkunden geführt wird, hat 98 Prozent der schwarzen Bauern in Amerika enteignet. Sie haben im letzten Jahrhundert 12 Millionen Hektar verloren. Aber selbst diese Aussage verfälscht die Geschichte. Tatsächlich fielen die meisten Verluste in die Zeit ab den 1950er Jahren. Mit Ausnahme einer Handvoll Farmern gehört die Schwarzen in dieser ertragreichsten Ecke des tiefen Südens fast nichts von der Erde unter ihren Füßen."
Archiv: The Atlantic