Magazinrundschau

Bestens erprobte Kontrolltaktik

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.09.2019. In der NYRB zeigt J.M. Coetzee wenig Sympathie für die effiziente, aber inhumane Flüchtlingspolitik Australiens. In Magyar Narancs erinnert sich Bela Tarr an keinen einzigen Namen der 30 ungarischen Kulturminister seit 1978, der Name Peter Esterhazy aber bleibt. In La vie des idees prägt der Soziologe Rémi Lefebvre den Begriff der "désintermédiation". Osteuropa weiß, warum die Kultur des postsowjetischen Underground wieder angesagt ist. Die LRB lernt von Berthe Morisot, wie kindisch der Kampf zwischen Farbe und Linie ist.

New York Review of Books (USA), 26.09.2019

In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books stellt J. M. Coetzee das Buch des Iraners Behrouz Boochani vor, der darin von seinen Erfahrungen als Flüchtling in einem australischen Lager in Papua Neuguinea berichtet. Und auch wenn Coetzee versteht, dass Einwanderung in ein anderes Land begrenzt werden können muss, so denkt er doch - mit Blick auf Südafrikas im Prinzip unfreundliche, in der Realität menschlich-chaotische Einwanderungspolitik -, dass die australische Regierung effizientere, aber auch besonders inhumane Methoden einsetzt: "Gejagt vom iranischen Regime aufgrund seines Einsatzes für die Belange der Kurden floh der Autor 2013 über Indonesien, wurde in letzter Sekunde von einem nicht seetüchtigen Boot gerettet und in eins der Lager des Commonwealth von Australien im Pazifik verbracht, wo er bis heute ausharrt … Das Betreiben der Lager war von Anfang an geheim. Die Insassen wurden nicht beim Namen genannt, sondern erhielten Nummern, Fotografien waren verboten. Für Informationen über das Leben in den Lagern sind wir auf Berichte wie den Boochanis und die von australischen Ärzten und Sozialarbeitern angewiesen, die trotz Verbots mitteilen, was sie dort erlebt haben. Auf Basis dieser Informationen müssen wir folgern, dass es sich bei den Lagern in Manus und Nauru nicht nur um temporäre Unterbringungen handelt, sondern um Straflager, wo die Insassen oder bürokratisch gesprochen 'Klienten' eine unbegrenzte Strafe dafür absitzen, dass sie Australien ohne Papiere angesteuert haben. Die Haltung der australischen Wachen, viele von ihnen Veteranen aus Afghanistan und dem Irak, scheint geprägt von ständiger Gewalt, die durch die Vermutung, unter den Häftlingen befänden sich als Flüchtlinge getarnte islamische Terroristen, noch befeuert wird. Die Lokalbevölkerung betrachtet die Flüchtlinge nicht minder feindselig. 2014 wurde das Lager auf Manus von der Polizei und von Zivilisten gestürmt, die Insassen angegriffen und einer von ihnen getötet … Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise waren auf Manu 1353 und auf Nauru 1233 Menschen interniert. Für Nauru ist das Lagergeschäft lukrativ. Für jeden Internierten verdient es 1400 US-Dollar Visagebühren pro Jahr, Australien kostet ein Gefangener rund 38.000 US-Dollar jährlich. Für denselben Gefangenen würden die Kosten auf dem Festland nur 7000 Dollar jährlich betragen."

La vie des idees (Frankreich), 10.09.2019

Wie übersetzt man den Begriff der "désintermédiation"? Geprägt wird er in einem brillanten Essay von dem Politologen Rémi Lefebvre, der zeigt, was man gewinnen kann, wenn man mal nicht in erster Linie über die Inhalte und Forderungen, sondern über die Strukturen neuer politischer Bewegungen nachdenkt, ob populistisch oder nicht. Sein eigentlicher Gegenstand sind die Gilets jaunes, die er aber im Kontext mit Macrons "République en marche" sieht: Die beiden sind zwei Seiten einer Medaille, beide stehen eben für diese "désintermédiation", also eine Deinstitutionalisierung, die Entstehung von politischen Bewegungen ohne und gegen vermittelnde Instanzen, so Lefebvre: Beide "haben Teil an einer 'Demokratie des Volkes' ('démocratie du public'), die sich von vermittelnden Institutionen und traditionellen Eliten befreit. Diese Bewegungen sind keine Produkte organisatorischer Traditionen oder politischer Kulturen oder vorgefundener intellektueller Leitideen, sondern sie sind aus einer bestimmten Konjunktur und Aktualität, einer Logik der Situation, scheinbar aus dem Nichts entstanden. Mit nur wenigen Monaten Abstand haben sie das ganze politische System untergraben und destabilisiert: von oben, was die Bewegung von Emmanuel Macron angeht, die elitärer ist, von unten, was die Gilets jaunes angeht, die einer populären Basis näherstehen." Lefebvre zeigt in der Folge auf, dass beide Bewegungen auch große Unterschiede aufweisen (LRM schart sich um eine charismatische Hauptfigur, die Gilets jaunes verweigern sich der Personalisierung), dass sie aber auf ähnliche Grenzen stoßen: denn beide drohen an der mangelnden Verankerung in vermittelnden Strukturen zu scheitern, gegen die sie anderseits gerade aufgestanden sind.

168 ora (Ungarn), 08.09.2019

Im Interview mit Zsuzsanna Sandor spricht der Schriftsteller Pál Závada u.a. über die Stellung der Kultur vor der Wende und im gegenwärtigen Ungarn. "Im Kádár-System wurde die kulturpolitische Kategorie des Verbotenen zunehmend eingeengt und die des Geduldeten wurde ausgedehnt. Das Kádár-Regime schätzte das Talent und freuten sich wenn sie im Ausland stolz darüber berichten konnten, wie viele ausgezeichneten Filmemacher und Theaterschaffende, Komponisten und Schriftsteller, die auch internationale Beachtung fanden und Preise bekamen, hier arbeiteten. Man konnte damit angeben, dass auch in einem sozialistischen Land das Niveau der Kultur hoch sei. Doch das gegenwärtige System ist ganz anders. Heute hängt alles vom Willen eines einzigen Menschen ab, der denkt, dass er alles kann. Er hält alles für feindlich, was ohne seine Kontrolle, unabhängig und frei existieren möchte. Wie die wirkliche Kultur, die in dieser Situation nicht anders sein kann, als oppositionell. Heute kann die Staatsbibliothek aus der Burg verbannt, die Akademie der Wissenschaften zerschlagen, die Hochschulbildung, die unabhängigen und privaten Theater können kaputtgemacht werden. Wir können tausende Beispiele nennen. Alles, was in der ungarischen Kultur aufgebaut wurde, wird gegenwärtig mit einer solchen Geschwindigkeit zerstört, dass wir es kaum begreifen können."
Archiv: 168 ora

London Review of Books (UK), 12.09.2019

Edma Morisots Porträt ihrer Schwester Berthe (1865-68)

Julian Barnes ist hingerissen von der Ausstellung, die das Musée d'Orsay der Malerin Berthe Morisot widmet. Morisot war unter ihren impressionistischen Freunden und Kollegen stets anerkannt, betont er, und zwar nicht, weil sie mit Edouard Manets Bruder Eugène verheiratet war. Es lag an ihrem unleugbaren Talent, ihrer Willenstärke, ihrem Eigensinn: "Mit Lob war sie nicht schnell bei der Hand. Die strenge Konzentration und kaum gezügelte Heftigkeit, die schon Edma im Porträt ihrer jugendlichen Schwester Berthe festhielt, zeigt sich auch in ihren Notizbüchern. Wie viele andere auch hielt ich den Kampf zwischen Farbe und Linie stets für den großen Bogen in der französischen Malerei zwischen 1820 und 1920. Für die Farbe stand Delacroix, für die Linie Ingres. Mit den Impressionisten nahm die Farbe Oberhand, mit den Kubisten die Linie, dann gab es die große Vereinigung, als die Kubisten wieder die Farbe zuließen. Es ist ernüchternd und nützlich zugleich, für solch grobe Pinselstriche von Morisot zurechtgewiesen zu werden: ''Alle Malerei ist natürlich eine Kopie der Natur, aber ist sie von Boucher kopiert die Gleiche wie von Holbein? Einer ist so wahr wie der andere, egal ob diese Wahrheit durch die Linie oder die Farbe ausgedrückt wird. Diese ständige Unterscheidung von Linie und Farbe ist kindisch, aus dem einfachen Grund, dass Farbe nicht weniger und nicht mehr ist als ein Ausdruck von Form.' In einem Eintrag von 1893 schreibt sie: Moderne Romane und moderne Malerei langweilen mich; Ich liebe nur extreme Neuheit oder die Dinge aus dem vorigen Jahr.'"

Außerdem: Stephen Sedley, früherer Richter am Berufungsgericht, konstatiert nicht nur den "funktionalen Zusammenbruch und moralischen Niedergang" der britischen Politik. Er mag auch wenig Hoffnung auf die Justiz setzen, wenn der Verfassungsrichter Jonathan Sumption in seiner BBC-Lecture prophezeit: "Wir stehen vor einer möglichen Katastrophe. Und es gibt nichts, was das Recht dagegen tun könnte."

Osteuropa (Deutschland), 09.09.2019

In der russischen Kultur ist der postsowjetische Untergrund wieder angesagt, bemerkt Maria Engström, das metamorderne Schwanken zwischen Hoffnung und Melancholie, Empathie und Apathie, das etwa die Musik der Band Kino oder Aleksej Balabanovs "Brat"-Filme verkörperten, aber auch antiwestliche Denker wie Aleksandr Dugin und Ėduard Limonov: "Das ideologische und symbolische Vakuum, in dem der Mangel an Zukunftsperspektiven immer deutlicher spürbar wird, geht einher mit der Angst vor einem neuen großen Projekt. Die Wiederbelebung, Nachahmung und Remythologisierung der Kultur der 'Zeit der Veränderungen' erscheint verlockend und ungefährlich angesichts der Unentschlossenheit und der befürchteten Wiederkehr einer leibhaftigen großen Utopie. Es ist der Rückgriff auf eine Zeit, in der ein vager Utopismus ohne konkretes Ziel herrschte ('Wir wollen Veränderung!') oder politisch-ästhetische Projekte wie der Nationalbolschewismus, der Neo-Eurasianismus und der Neoakademismus verfolgt wurden, die aufgrund ihrer Radikalität kaum eine Chance auf Verwirklichung hatten. Das derzeitige Recycling der Gegenkultur der 1980er und 1990er Jahre als 'Kleiner Utopie' befriedigt das Bedürfnis nach Drive, Bewegung, Veränderung, politischer und ästhetischer Klarheit und garantiert gleichzeitig Sicherheit."
Archiv: Osteuropa

Wired (USA), 06.09.2019

Auch die Gamingszene hat ihr #MeToo - und darin jüngst eine tragische Wendung genommen, da einer der Beschuldigten, Alec Holowka, sich Ende August das Leben nahm. Zoë Quinn, die Frau, die dem betreffenden Mann Vorwürfe gemacht hatte, sieht sich nun - entgegen dem expliziten Aufruf der Hinterbliebenen des Verstorbenen - massiven Anfeindungen ausgesetzt. Es läuft - mal wieder - auf männliche Fragilität hinaus, ärgert sich Laurie Penny. "Die Belästigungen, denen sich Quinn und andere ausgesetzt sehen, haben mit der Anteilnahme für Holowka und seine Familie nicht das geringste zu tun, wohl aber sehr viel damit, an Frauen und queeren Menschen, die es wagen, an die Öffentlichkeit zu gehen, ein Exempel zu statuieren. Die Botschaft ist eindeutig: Die mentale Gesundheit von Männern zählt mehr als die von Frauen. Männliches Leid und Selbstmitleid wird als öffentliche Angelegenheit begriffen, denn Männern ist es gestattet, echte Menschen zu sein, deren Innenleben und Träume von Belang sind. ... Die Drohung, dass Männer seelisch auseinanderfallen oder sich verletzen, wenn Frauen sich weigern, sich ihren Wünschen zu fügen, ist eine uralte, bestens erprobte Kontrolltaktik. ... Menschen, die für ihr missbräuchliches Verhalten zur Verantwortung gezogen werden, leiden - aber ihre Opfer sind für dieses Leid nicht verantwortlich. So wie auch Zoë Quinn nicht dafür verantwortlich ist, dass der mutmaßliche Täter sich dazu entschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Es war seine Entscheidung, sie zu verletzten und seine Entscheidung, sich selbst zu verletzen."
Archiv: Wired

Magyar Narancs (Ungarn), 05.09.2019

Im Interview mit Tibor Legát spricht der Filmregisseur Béla Tarr über Bedingungen künstlerischen Schaffens im heutigen Ungarn: "Ich müsste Kompromisse schließen, weil für meine Tätigkeit grundsätzlich Geld nötig ist. Wir können sehen, dass es in Ungarn für vieles Geld gibt und es ist offensichtlich, dass auch ich Geld bekäme, wenn ich darum bitten würde, doch dafür müsste ich einige Spielregeln akzeptieren, wozu ich allerdings nicht fähig bin. Wenn ich es schaffte, mein bisheriges Leben ohne Kompromisse zu leben, dann soll es auch so bleiben. (...) Selbst wenn die Erfolge - zwei Oscars, sowie der Goldene Bär und die Silbernen Bären - aufgrund des Vajna-Systems entstanden wären, würden sie das antidemokratische System nicht legitimieren; so wie Rubiks Zauberwürfel Kádár und sein Regime nicht legitimierte. Diese Filme sind persönliche Erfolge, sie wurden von talentierten Menschen gemacht, die selbst wissen, welche Kompromisse sie dafür eingegangen sind. Aber es ist ausschließlich ihr Erfolg und nicht der des Systems. Kultur kann nicht zentral gelenkt werden. (...) (Darum) bin ich auch nicht um die ungarische Kultur besorgt, denn sie entsteht autonom und nicht auf Bestellung. Das Petőfi Literaturmuseum kann enthauptet werden, sie können über Esterházy sagen, dass er 'kulturfeindlich' sei, sie werden trotzdem nicht gewinnen. Seit 1978 kenne ich das Kulturleben, seitdem gab es um die 30 Kultusminister und ich weiß gar nicht wie viele 'Zuständige'. Wer erinnert sich an sie? Wir haben uns nicht mal ihren Namen gemerkt. Und mit den jetzigen wird genau dasselbe passieren, während wir uns an Esterházy erinnern werden, solange es ein geschriebenes ungarisches Wort gibt."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Tarr, Bela, Ungarn, Lega

New York Times (USA), 08.09.2019

In der aktuellen Ausgabe des Magazins erörtern Ronen Bergman und Mark Mazzetti die geheimen Vorgänge zwischen Israel und den USA in Sachen Erstschlag gegen den Iran: "Die aktuelle Krise hat die beiden Nationen und ihre politischen Führer enger zusammengeschweißt. Hatte er einst Vorteile darin gesehen, den Präsidenten der USA offen anzugreifen, so nutzt Netanjahu seine enge Beziehung zu Trump jetzt im Kampf um sein politisches Überleben. Trump ist in Israel sehr populär … Der in heiklen Zeiten zwischen den beiden Staaten vermittelnde ehemalige CIA-Direktor und Verteidigungsminister Leon Panetta spricht von einer entgegengesetzten Gefahr: 'Wenn die USA alles tun, was Israel will, verlieren sie jedes Druckmittel. Wir müssen unsere nationalen Sicherheitsinteressen wahren, wie immer die aussehen. Und ja, wir sind Freund und Verbündeter Israels, aber wir dürfen nicht den Blick aufs Ganze verlieren, auf den Frieden in der gesamten Region.' Neuerdings benutzt Trump die Unterstützung für Israel als Lackmus-Test für amerikanische Juden, indem er alle als unloyal bezeichnet, die sich ihm entgegenstellen - sowohl Israel als auch dem jüdischen Volk gegenüber. Seine Entscheidung vom Juni, in letzter Minute auf einen Angriff zu verzichten, ließ die Falken in Israel und den USA im Zweifel, ob der Präsident die Entschlossenheit hätte, im Fall einer Bedrohung auch zu reagieren … Mehr als zehn Jahre nach der erstmaligen Thematisierung eines unilateralen Angriffs gegen den Iran erwägen israelische Offizielle das Szenario. Anders als mit Bush und Obama gibt es eine größere Zuversicht, dass Trump sich nicht einmischen würde. Netanjahu lässt in Nahost die Muskeln spielen, indem er gegen iranische und Hisbollah-Truppen und Waffenlager in Syrien vorgeht … Die Kriegsdrohung könnte ein Bluff oder Wahltrick sein, aber sie zeigt auch eine gefährliche Verschmelzung von Interessen: Hier ein US-Präsident, der zögert, militärische Gewalt einzusetzen, und dort ein israelischer Premier, der offene Rechnungen begleichen will."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Iran, Israel, USA, Hisbollah, Nahost