Magazinrundschau

Vollkommen anderes Ideensystem

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.12.2019. Atlantic erkundet die miese Stimmung in Nordirland kurz vor den britischen Wahlen. Der New Yorker bewundert den neuen Geist offener Renitenz in Hongkong. Die NYRB folgt den Spuren, die die russische "Einheit 74455" in den Eingeweiden des amerikanischen Wahlsystems hinterlassen hat. La vie des idees wirft mit Roman Polanski einen Blick auf den französischen Antisemitismus. Film comment feiert die Schauspielerin Kristen Stewart als Jean Seberg.

The Atlantic (USA), 10.12.2019

Die Nordiren fühlen sich von den Tories verkauft: Statt eines No-deal-Brexits, der wieder eine Grenze zwischen Irland und Nordirland gesetzt hätte, wirbt Johnson jetzt für einen weniger harten Brexit-deal mit der EU, der aber eine Zollgrenze zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel nach sich ziehen würde - also gewissermaßen eine Entfernung vom Mutterland. Für die Loyalisten blanker Verrat, lernt Tom McTague im Laufe seiner Reportage. "Es gibt noch eine grundlegendere Frage: Wenn die Realität des Brexit (im Gegensatz zu seinem Versprechen) die Union bedroht, wie die DUP (die Democratic Unionist Party, die eigentlich pro Tories ist) sagt, warum sollte man ihn dann unterstützen? Ein Alptraum für die DUP: Den Brexit abzulehnen, wäre im Endeffekt eine Unterstützung für Labour, die wichtigste britische Partei gegen Johnsons Deal, und, noch problematischer, für Jeremy Corbyn - einen der profiliertesten britischen Unterstützer von Sinn Fein, dem politischen Flügel der IRA während der gesamten Unruhen."
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 06.12.2019

Der Dichter und Literaturwissenschaftler Dániel Varró spricht im Interview mit Orsolya Karafiáth u.a. über die Herausforderung für Intellektuelle, sich bei Fragen zu positionieren, die beinahe ausschließlich nach der politischen Zugehörigkeit beantwortet werden. "Ich habe immer mehr das Gefühl, dass man der Frage nach der politischen Einstellung nicht mehr ausweichen kann. Die eingestellten oder existentiell bedrohten Zeitschriften, die Theater, all dies betrifft mich unmittelbar. Viele meiner Freunde und Bekannte haben ihre Jobs verloren oder bekamen Arbeiten und Aufträge nicht, weil sie öffentlich Position bezogen haben. Ich spüre, dass dies wie ein Schirm immer mehr unser ganzes Leben überdeckt. Es vergiftet auch vollkommen unschuldige Situationen. Sagen wir mal, ich werde gefragt - und ich werde oft gefragt - nach meinem zeitgenössischen Lieblingsdichter, dann antworte ich auf diese offensichtliche Frage mit zunehmend schlechtem Geschmack im Mund. Denn meine zwei Lieblingsdichter sind - wie ich es in einem Interview las - dieselben, wie die von János Dénes Orbán (der Beauftragte der gegenwärtigen Regierung für Literatur - Anm. d. Red.): Lajos Parti Nagy und Géza Szőcs. Soll ich künftig nur den einen nennen?"
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Varro, Daniel, Ungarn

New Yorker (USA), 16.12.2019

In einem Beitrag des aktuellen Hefts berichtet Jiayang Fan aus Hongkong und stellt fest, dass die andauernden Proteste gegen Peking ein ganz neues Selbstbewusstsein hervorgebracht haben, politisch, aber auch künstlerisch und kulturell: "Da niemand eine Idee hat, wie ein Kompromiss mit Peking aussehen könnte, bleiben die Menschen unnachgiebig und fordern die umkämpften Prinzipien Demokratie und Freiheit mit unverminderter Kraft ein. Kreativität ist überall: Performances, Graffiti, Songs, Slogans, Memes. In diesem künstlerischen Impuls lässt sich erkennen, dass Hongkong eine vom Festland unabhängige Identität ausbildet. Der Theaterregisseur Wu Hoi Fai beschreibt das Hongkong seiner Jugend als kulturelle Wüste. In einer Weltgegend, in der es nur ums Geldverdienen geht, war die Kunst wesentlich kommerzieller Art, Cantopop oder Popcorn Kino, und dafür gemacht, in ganz Asien konsumiert zu werden. Wus Ansatz (in einer Art Dokumentar-Drama über Hongkongs Geschichte, d. Red.) ist lokal. 'Wie wir Hongkongs Vergangenheit erzählen, hat eine politische Bedeutung, weil Kunst politisch und das Hong Kong der Vergangenheit ein anderes Land ist", sagt Wu … Nach einem Jahr Abwesenheit war ich erstaunt über die Veränderungen in der Stadt. Graffiti auf dem Bürgersteig, Protestsongs in den Parks, der Geist offener Renitenz wirkte bei aller Schrillheit festlich. Früher war die Stadt angesichts der allgegenwärtigen Touristen und Geschäftsleute distanziert und höflich wie ein Hotelconcierge. Jetzt schwingt sie im Takt eines Straßenmusikers, der jedem seine Musik vorspielen will."

Außerdem: Joshua Rothman berichtet, dass William Gibson nunmehr Gegenwarts-Sci-Fi schreibt. Kelefa Sanneh porträtiert die filmenden Safdie Brüder aus New York, die gerade durchstarten. Joshua Yaffa stellt uns Putins inoffiziellen Propagandaminister Konstantin Ernst vor. Amanda Petrusich hört Moondog. Thomas Mallon liest die Dolphin-Briefe von Elizabeth Hardwick und Robert Lowell. Und Anthony Lane sah im Kino Benedict Andrews "Seberg" mit einer umwerfenden Kristen Stewart in der Hauptrolle.
Archiv: New Yorker

A2 (Tschechien), 09.12.2019

Die tschechische Zeitschrift A2 widmet ihr aktuelles Themenheft der Bioart, einem speziellen Bereich der Kunst, der aktuelle wissenschaftliche Forschung und Labormethoden nutzt. In diesem Fall geht es etwa um konzeptuelle genetische Modifikation von Taufliegen, Mais oder Bakterien oder auch um die Rekonstruktion von Gesichtern aus DNA-Spuren, die aus von auf der Straße aufgelesenen Zigarettenkippen und Kaugummis gewonnen wurden. Solche Kunstprojekte, die mit Genen und anderem Biomaterial arbeiten, rufen freilich Kontroversen hervor. Doch die ethischen und rechtlichen Fragen, die ihre Rezeption aufwerfen, könnten dabei helfen, die Grenzen für die zukünftige Nutzung dieser Technologien auszuloten - so Karel Kouba in seinem Editorial. Die italienische Bioethik-Expertin Rosangela Barcaro warnt hingegen in ihrem Essay, dass die Bioart sich allmählich dem Bereich annähert, den sie ursprünglich kritisieren wollte. Die Künstler-Wissenschaftler könnten ihrer Meinung nach gewissermaßen "als okkulte Meister genutzt werden, die dadurch, dass sie konkrete Erfindungen und Innovationen in die Gesellschaft einführen, die Wachsamkeit der öffentlichen Meinung und womöglich auch begründete Einwände zerstreuen".
Archiv: A2

New York Review of Books (USA), 19.12.2019

Sue Halpern graut es beim Lesen von Andy Greenbergs Recherche "Sandworm", die den Spuren der berüchtigten russischen Hackergruppe des militärischen Geheimdienst GRU folgt. Greenberg kann zeigen, wie die als "Einheit 74455" identifizierte Truppe in Estland, Georgien und der Ukraine Kraftwerke lahmlegte, Medien ausschaltete, Regierungsrechner blockierte, und schließlich auch die Reederei Maersk und das Pharmaunternehmen Merck sabotierte. Bisher bestand der Cyberwar vor allem in psychologischer Kriegsführung, aber beruhigen kann das Halpern nicht: "Als 2015 zum ersten Mal in der Ukraine die Lichter ausgingen, bestritten amerikanische Regierungsvertreter, dass ein solcher Angriff auch in den Vereinigten Staaten geschehen könnte. Sie verwarfen auch die Möglichkeit, dass das amerikanische Wahlsystem angegriffen werden könnte, weil es zu dezentralisiert organisiert sei - was sie bis heute behaupten, obwohl sich während der Präsidentschaftswahlen 2016 herausstellte, dass genau dies geschehen war. Der Zeitpunkt war günstig. Nicht lang nach dem ersten Angriff auf das ukrainische Stromnetz begannen russische Hacker, das Wahlsystem jedes amerikanischen Bundesstaats zu hacken. Sie schafften es auch in zumindest einen privaten Anbieter für Wahlausstattung. Nach Bekanntwerden des Hacks meldeten die amerikanischen Geheimdienste, dass keine Stimmen verändert wurde, aber das war vielleicht Wunschdenken: Homeland Security untersuchte die Systeme der Bundesstaaten nicht forensisch, dreizehn von ihnen benutzten papierlose Stimmabgabemaschinen, die nicht geprüft werden konnten. Während der ganzen Präsidentschaftskampgane behauptete Donald Trump fortwährend, dass das System gegen ihn arbeitet. Russlands Ukraine-Skript - die Demokratie zu schwächen, indem die Legitimation von Wahlen in Zweifel gezogen wird - war erfolgreich exportiert worden."

La vie des idees (Frankreich), 03.12.2019

Ziemlich originell, trotz mancher Vereinfachungen, finden die Historiker Pierre Gervais und Pauline Peretz Roman Polanskis Herangehen an die Dreyfus-Affäre in seinem Film "J'accuse". Er stellt weder den zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, noch Emile Zola, Autor des Aufrufs "J'accuse" und Ehrenretter der französischen Republik ins Zentrum, sondern den Oberst Marie-George Picquart, einen Offizier katholischer Herkunft, selbst nicht frei von Antisemitismus, der als Ermittler in der Dreyfus-Sache schlicht seinem Begriff von Pflicht folgt und weniger Dreyfus als die Institution, der er dient, die Armee, retten will. Es gab auch früher zuweilen eine Heroisierung Picquarts, erläutern die Autoren: "Diese Heroisierung hatte den Vorteil, den Blick vom Opfer, Dreyfus, auf einen Verteidiger, dessen Identität sehr viel akzeptabler war, zu verlagern und so die Debatte vom massenhaften Antisemitismus in Frankreich abzulenken. Picquart zu ehren, erlaubte in gewisser Hinsicht, Schuld von der Armee und den französischen Eliten zu nehmen, die sich sehr viel vorzuwerfen hatten. Er war eine Konsensfigur, mehr als der Jude Dreyfus, mehr als der naturalistischen Autor Emile Zola. 'J'accuse' stellt die Persönlichkeit Pcquarts in modernerem, weniger schönfärberischem Licht dar und zeigt die ganze Zwiespältigkeit der Person. Seine Revolte kombiniert sich in der Tat mit einem Antisemitismus, den der Film offen zeigt."

Film Comment (USA), 05.12.2019

Die Schauspielerin Kristen Stewart hat sich von ihrem "Twilight"-Image in den letzten Jahren gründlich emanzipiert - als etwas sonderbar gilt sie dennoch für viele, nicht zuletzt weil sie ihre Überforderung mit Auftritten in der Öffentlichkeit nicht zu überspielen versucht und die Bandbreite ihrer Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt scheint. Sheila O'Malley setzt hier zur Ehrenrettung an: "Stewart fühlt die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht: Sie arbeitet auf außergewöhnlich intime und verletzliche Weise mit der Kamera. Es ist ihre grundlegende Beziehung. Ihre Unbeholfenheit macht sie nicht verschlossen oder schmallippig. Ein gewisser Teil von ihr scheint sich immer etwas unwohl dabei zu fühlen, wenn sie den Blicken ausgesetzt ist, aber das Besondere an Stewart ist - und das wird selten erwähnt -, dass sie dagegen nicht anzukämpfen versucht. Sie versucht nicht, das auszugleichen. Sie lässt uns diesen Teil von ihr einfach sehen - ihr Unwohlsein, ihre Schüchternheit. Darin liegt der wirkliche Zauber. Lässt sich das beibringen? Ich denke nicht. Ja, ihre Schönheit ist wichtig. Stewarts Talent ist quecksilbrig. Es gibt aufblitzende Momente der Offenheit, gespickt von Schweigsamkeit. Es gibt schnelle Momente des Rückzugs auf sichereren Boden, Wolken innerer Zweifel und eine messerscharfe Intelligenz, die stets darum kämpft, ihren Ausdruck zu finden. Es ist nie nur eine einzige Sache. ... Sie ist sich dessen so bewusst, was sie da tut, dass ich keinerlei Zweifel habe, dass sie über den bevölkerten Times Square laufen und sich dabei entscheiden könnte, ihre Schönheit, ihre Kristen-Stewart-artigkeit auf 'stumm' zu schalten, um unerkannt zu bleiben. (Marilyn Monroe war bekanntlich genau dazu in der Lage und brachte ihren inneren Lichtstrahler zum Erlöschen)." Gerade hat Stewart eine zweite Schauspielerin gespielt, die im Umgang mit der Öffentlichkeit ebenfalls zurückhaltend war: Jean Seberg. Hier der Trailer:



Außerdem bringt der Film Comment Auszüge aus Priya Jaikumars einem Buch über die filmischen Darstellungen Indiens entnommenen Text über Jean Renoirs Indien und hat einen Überblick aus dem Jahr 1972 samt umfangreicher Filmografie über die Geschichte von Frauen als Filmemacherinnen online gestellt.
Archiv: Film Comment

Elet es Irodalom (Ungarn), 06.12.2019

Fakten sind auch nicht alles! Im Gespräch mit László Kőszeghy hebt die Kommunikationswissenschaftlerin Júlia Sonnevend (New School for Social Research, NY) die Bedeutung von Mythen in der Erinnerung eines Landes hervor - ein Thema, über das sie auch ein Buch geschrieben hat. "Damit ein Ereignis langfristig in der Erinnerung vieler Menschen aufrechterhalten bleibt, müssen wir zahlreiche Fakten davon lösen und ein sauberes, widerhallendes Narrativ aufbauen, also einen Mythos bilden. Obwohl es ein gefährlicher Prozess ist und für viele, die dabei waren und das Ereignis persönlich erlebten oder dessen Komplexität kennen, empörend sein kann, behaupte ich, dass wir ohne zeitgenössische Mythen nicht leben können, was aber seinen Preis hat. Das Buch war grundsätzlich eine Botschaft an die Medienwissenschaften, die die Achtung der Tatsachen und der Objektivität für das höchste Gut der Massenkommunikation hält. Ich konfrontiere diese Aussage radikal und sage, dass Mythen uns - und damit auch die Medien - mindestens genau so bestimmen, wie die Fakten. Es ist eine Illusion zu denken, dass der Mensch grundsätzlich ein rationelles Wesen sei. Der unbedingte Glaube an die Fakten führt wiederholt zu Enttäuschungen, die wir jedes Mal durchleben, wenn wir mit dem Erfolg eines vollkommen anderen Ideensystems konfrontiert werden. Der Wunsch nach Mythen lebt bis heute in uns, was nicht bedeutet, dass Faktenzentriertheit nicht wichtig wäre, aber die Achtung der Fakten allein reicht nicht aus."

New York Times (USA), 08.12.2019

In der aktuellen Ausgabe des Magazins stellt Alexandra Alter den in den USA lebenden chinesischen Autor und Übersetzer Ken Liu vor, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass Science Fiction aus China den Weg zu amerikanischen Lesern geschafft hat: "Lius Übersetzungen haben die lange von US- und britischen Autoren dominierte Sci-Fi-Landschaft verändert. In den letzten 10 Jahren hat er fünf Romane und über 50 Kurzgeschichten von Dutzenden chinesischen Autoren übersetzt und viele davon auch entdeckt … Einige der bemerkenswertesten Sci-Fi-Autoren Chinas publizieren nicht auf dem üblichen Weg, sondern in Internetforen, auf Weibo oder WeChat. Lius Freunde lassen ihm Screenshots von Geschichten aus chinesischen Apps zukommen. Er ist zu einem Herausgeber, Kurator und vermittelnden Interpreten zwischen den beiden Supermächten geworden, indem er durch die politischen Minenfelder navigiert, verklausulierte Sozialkritik überträgt. Einige seiner Autoren nutzen das Genre, um die dystopischen Konsequenzen von Chinas rasanter wirtschaftlicher und technischer Entwicklung zu erkunden. Sie siedeln ihre Geschichte in ferner Zukunft oder auf fernen Planeten an, um Tabuthemen wie die Beschränkung von Freiheit und Gleichheit, staatliche Landnahme oder Umweltzerstörung anzugehen. Einige dieser Geschichten sind in China aus Zensurgründen nie verlegt worden … Dass Sci-Fi in China boomt, ist kein Wunder, das schiere Tempo des technologischen Wandels kann surreal wirken … Es gibt Fabriken, in denen die Hirnaktivität der Arbeiter gemessen wird, um ihre Aufmerksamkeit festzustellen. Vogelartige Drohnen spionieren die Bürger aus, Überwachung durch Gesichtserkennung ist weit verbreitet, und Social-Media-Posts mit unliebsamen Begriffen werden automatisch zensiert."

Außerdem: Josh Owens berichtet reuevoll von seiner Arbeit für den Verschwörungstheoretiker Alex Jones. Kwame Anthony Appiah wälzt die Frage, ob es opportun ist, eine Freundin vor einem betrügerischen Online-Date zu warnen. Und Dorie Greenspan kennt das Rezept für die perfekten Madeleines.
Archiv: New York Times