Magazinrundschau

Lasst den Himmel Kartoffeln regnen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.02.2020. Gilt das Kriegsvölkerrecht auch für die USA, fragt sich der New Yorker. Himal taucht ein in die Welt der tamilischen Heirat. Der Merkur spürt mit Marx und Heike Geißlers "Saisonarbeit" dem Mechanismus der Entfremdung nach. Resent Advisor versinkt in Space Music und anderen Klangnebeln. Die ungarischen Magazine berichten über den Streit um einen üppig ausgestatteten neuen Literaturpreis. Die LRB schluckt eine in Salzwasser getunkte Vitaminpille. The Baffler arbeitet bei einem Pfandleiher.

New Yorker (USA), 10.02.2020

In einem Beitrag des aktuellen Hefts konstatieren Adam Entous und Evan Osnos eine neue Art des Tötens, derer sich Nationen zur Beseitigung unliebsamer Feinde bedienen: "Seit der Haager Konvention von 1907 ist das Töten eines Angehörigen einer anderen Regierung in Friedenszeiten durch das Kriegsvölkerrecht weitgehend ausgeschlossen. Als die Trump Regierung erstmals die Tötung von Qasem Soleimani verkündete, hieß es aus offiziellen Kreisen, er wäre eine 'immense' Bedrohung für US-Bürger gewesen. Als es Fragen und Kritik hagelte, änderte die Regierung ihre Begründung und verwies auf Soleimanis Rolle in einer 'Serie von Attentaten'. Schließlich verzichtete Trump ganz auf jede Rechtfertigung und twitterte, in Anbetracht von Soleimanis 'schlimmer Vergangenheit' käme es darauf nicht an. Dass der Präsident der Frage der Legalität auswich, enthüllt eine finstere Wahrheit: Die Entscheidung eines Staates zur Tötung hängt weniger von Fragen des Gesetzes ab als von einer Reihe dehnbarer politischer, moralischer und gefühlsmäßiger Erwägungen. Im Fall Soleimani war Trumps Tötungsbefehl der Höhepunkt eines großen strategischern Spiels zur Umgestaltung in Nahost und zugleich der Beginn eines potenziell grauenhaften neuen Weges des Tötens. Dieser Weg begann vor mehr als zehn Jahren mit einer anderen tödlichen Operation: In einer Februarnacht 2008 wurde in einem noblen Bezirk von Damaskus Imad Mughniyya getötet … Er war der militärische Stratege der Hisbollah … und wurde für einige der spektakulärsten Terroranschläge der Jahre 1975-2000 verantwortlich gemacht."

Und ein Text von John Cassidy geht der Frage nach, ob Wohlstand auch ohne Wachstum möglich ist: "Die Degrowth-Bewegung hat ihre eigenen akademischen Magazine und Konferenzen. Einige Vertreter plädieren für die totale Abschaffung des globalen Kapitalismus, nicht nur der fossilen Brennstoff-Industrie. Andere denken an einen Kapitalismus der anderen Art, in dem Produktion für Profit weiterhin möglich ist, aber mit einer ganz anders orientierten Wirtschaft. In seinem einflussreichen Buch 'Prosperity Without Growth: Foundations for the Economy of Tomorrow' ruft Tim Jackson, Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität von Surrey in England, die westliche Welt auf, ihre Wirtschaft von Massenproduktion auf lokale, weniger ressourcenintensive Dienstleistungen umzustellen, Krankenpflege, Lehre und Handwerk. Jackson ist sich der Dimensionen eines solchen Umbruchs bewusst, was soziale Werte und Produktionsweisen angeht, aber er klingt optimistisch: 'Die Menschen können gedeihen, auch ohne dauernd mehr Zeug anzuhäufen. Eine andere Welt ist möglich.'" Aber wird sie einen Sozialstaat finanzieren?
Archiv: New Yorker

Himal (Nepal), 29.01.2020

Der amerikanisch-tamilische Schriftsteller V. V. Ganeshananthan, dessen Verwandte von Sri Lanka bis Kanada, England, Frankreich, Deutschland, Indien, Australien und Norwegen über die ganze Welt verteilt sind, denkt über Heirat nach, deren Zustandekommen extrem kompliziert ist, wenn die Partner aus einer Community kommen, die - vor allem während des Bürgerkriegs - so weit verstreut ist wie die der srilankischen Tamilen. Anlass ist Sidharthan Maunagurus Buch "Marrying for a Future: Transnational Sri Lankan Tamil Marriages in the Shadow of War", der die Praktiken und Probleme anhand von Beispielen beschreibt. Dass auch die Ehe zwischen Tamilen und Nichttamilen denkbar ist, wird im Text nicht mal als Möglichkeit erwähnt. So ist es eine höchst komplizierte Angelegenheit in der verstreuten Community: Zuerst wird ein Heiratsvermittler beauftragt, eine Braut zu finden, der dafür seine Kartei durchforstet, die neben Fotos, Alter, Herkunft, Beruf und astrologischen Daten auch Infos zur Kaste enthält. Kommt es zur Hochzeit, trifft sich das Paar an einem bestimmten Ort, gerne im indischen Tamil Nadu, lernt Ganeshananthan: Dort "kaufen einige srilankische Ehepartner für sie bestimmte Hochzeitspakete. 'Die srilankische tamilische Gemeinschaft wird hier während der Hochzeitssaison immer wieder neu hergestellt und gestaltet. Tamilinnen und Tamilen aus Sri Lanka, die in Chennai leben, beteiligen sich oft durch die Bereitstellung des sozialen Gefüges (z.B. Essen, Hochzeitsdienstleistungen und Gästehäuser) und helfen so, während der Hochzeiten eine srilankisch-tamilische Dorfatmosphäre zu schaffen.'" Nach der Hochzeit fährt er wieder nach Kanada und sie nach Sri Lanka, oder Australien oder Norwegen oder wo immer sie gerade leben, während sie darauf warten, Visas für den Ort zu bekommen, an dem sie leben möchten.

Außerdem sei hier noch einmal auf Taran N. Khans achtteilige Reportage über afghanische Flüchtlinge in Deutschland hingewiesen.
Archiv: Himal

Merkur (Deutschland), 04.02.2020

Im Merkur sucht Kevin Vennemann dem kapitalistischen Arbeitsmarkt und dessen Mechanismen der Entfremdung mit Hilfe von Heike Geißlers 2014 erschienener autofiktionaler Erzählung "Saisonarbeit" auf die Spur zu kommen. Karl Marx' Arbeitstheorie im Gepäck und Maya Derens Kurzfilm "Meshes of the Afternoon" von 1943, beleuchtet Vennemann die erzählerische Besonderheiten Geißlers, die das Thema Arbeit und Selbst, wie Vennemann es im Titel fasst, eindrucksvoll literarisiert: "In 'Saisonarbeit' gibt es zwei Hauptfiguren: eine Ich-Erzählerin und eine erzählte Figur. Die Erzählerin berichtet von der Zeit der erzählten Figur bei Amazon, vom ersten Moment bis zum letzten und darüber hinaus. Dabei benutzt sie aber nicht die dritte Person Singular - sie. Sondern die direkte, formale Anrede - Sie. Die Erzählerin leitet also die angesprochene, erzählte Figur an, ihre Welt gemäß den Instruktionen der Erzählerin zu errichten. Ein Beispiel, ganz zu Beginn: 'Ihr Freund hat Ihnen vorm Losgehen viel Glück gewünscht und nochmals gesagt, Sie müssten das nicht machen. Aber das stimmt nicht, Sie müssen das machen, Sie müssen jetzt das Erstbeste versuchen, um Geld ins Haus zu bekommen.' ... Heike Geißlers Erzählerin denkt im Namen ihrer Angesprochenen anders: 'Sie bevorzugen es, auf Menschen zu treffen, die sind, was sie tun, und Sie wurden vor einigen Jahren gefragt, ob es Ihnen um Authentizität gehe. Das war die Frage eines etwas irritierten Journalisten, die Sie bejahten.' Teilweise zumindest mag der kritische Erfolg von Saisonarbeit daran gelegen haben, dass es Geißler gelungen ist, die vollkommene menschliche Leere einzufangen, in der das Fließband vor sich hin rattert, jener entauthentifizierende Inbegriff der Arbeitsteilung. Geißler reißt auf diese Weise das entsetzlichste Zukunftsszenario an, das die meisten von uns, die wir in ihrem literarisch gebildeten Publikum aufmerksam zuhören und zustimmend nicken, in Erwägung zu ziehen vermögen: die Möglichkeit nämlich, dass auch wir dereinst unser Privileg einzubüßen gezwungen sein könnten, wirklich fest daran zu glauben, dass wir tatsächlich Menschen seien, 'die sind, was sie tun.'"
Archiv: Merkur

Resident Advisor (USA), 29.01.2020

Ambient und New Age würden die meisten wohl am ehesten mit den Siebzigern in Verbindung bringen - dabei dürfte ein Großteil aller Arbeiten in diesem Feld in den letzten zehn Jahren entstanden sein, mutmaßt der Pophistoriker Simon Reynolds in einem großen Rückblick auf die Zehnerjahre als Jahrzehnt der Entspannungs-Renaissance (und ist sich dessen dabei wohl bewusst, dass es zugleich das Jahrzehnt ist, in dem der Siegeszug des mobilen Ständig-Online-Seins ganz neue Stresslevel erzeugt hat). Dabei sah es Anfang der Zehnerjahre in der Musik noch völlig anders aus: "Auf den ersten Blick ist die dominante Geschichte in der Welt der elektronischen Musik der digitale Maximalismus. Die Zehner setzten mit dem Aufstieg von EDM ein: Festivalheadliner wie Skrillex und Deadmau5 machten sich mit ultra-grellem, aufgedrehtem Krach über das Publikum her, der synchron zu die Augenlinsen verschmorenden CGI-Bildern lief. ... Von Iglooghosts Kawaii-Fantasien bis zu Flumes barocken Komplexitäten stieß man auf eine Ästhetik einer völlig übergestalteten Produktion und von Overkill-Effekten, die darauf ausgerichtet waren, Deine Aufmerksamkeit zu packen. Und dennoch könnte man ohne weiteres ein Gegennarrativ zu diesen Zehner-Jahren in Stellung bringen, in dem sich ein komplett gegenteiliger Zusammenhang minimalistischer Werte herausbildete - Reduktion, Ereignisarmut, Ruhe, was auch immer das Gegenteil zu 'eins auf die Zwölf' darstellt. Wer das Internet durchforstet, stößt auf Dutzende von Geschmacksrichtungen und Subgenres von Ambient Music - idyllisch und schimmernd in einer klassischen Abstammungslinie, die sich über die Chillout-Musik der Neunziger bis zu Eno, Harold Budd und Steve Hillage zurückverfolgen lässt. Space Music in der Tradition von Steve Roach und Sky Records. Klangnebel modularer Synthesizer, der zurück geht zu den analogen Anfängen. Düsterer Drone mit einer geisterhaft heidnischen Atmosphäre. Arbeiten, die diffus liturgisch und prä-modern wirken, mit weihevollem Gesang und der Klangtextur akustischer Instrumente. Und dann hat man sich noch gar nicht zu den benachbarten Genres vorgearbeitet, die ähnlich ambiente und leicht goutierbare Klangqualitäten aufweisen (Vaporwave, Hauntology, Nu-Shoegaze) oder Ambient-Subgenres bilden (Post-Metal)."

Eine sehr schöne Platte hat zum Beispiel Skee Mask im Jahr 2018 gemacht:



Oder die "Themes" des großen Roman Flügel:

Elet es Irodalom (Ungarn), 31.01.2020

Vergangene Woche wurde die Etablierung eines staatlichen Literaturstipendiums für Schriftsteller der mittleren Generation (zwischen 35 und 65 Jahren), samt einer Liste von dreißig plus 15 Stipendiaten verkündet, die von den unterschiedlichen Schriftstellerorganisationen zwischen Weihnachten und Neujahr nicht öffentlich nominiert worden waren. Das Stipendium wird aus dem Budget des Petőfi Literaturmuseums (PIM) unter der Leitung von Szilárd Demeter finanziert und trägt den Namen des kürzlich verstorbenen Schriftstellers und Dichters János Térey. Ein Stipendiat soll für fünf Jahre etwa 1000 Euro monatlich erhalten. In der ersten Woche haben fünf der Nominierten unter anderem aufgrund der unklaren Vergabekriterien das Stipendium zurückgewiesen. Einige Kritiker, wie der Schriftsteller Gergely Péterfy sprachen einer Ausbezahlstelle für politische Günstlinge. Andererseits gibt es Schriftsteller und Dichter mit beachtlichen Werken, wie etwa István Kemény, Attila Bartis oder Dániel Varró, die das Stipendium schweigend annahmen. In der heftigen Debatte um dieses Stipendium meldet sich jetzt der Lyriker Ferenc Szíjj zu Wort, der seine Nominierung abgelehnt hat: "Es soll dreißig Stipendiaten geben, sie sollen fast genauso viel Geld bekommen, wie die Mitglieder der Digitalen Literaturakademie, sie sollen das Geld für fünf Jahre erhalten, in dieser Zeit werden sie die Nation mit vielen Werken beschenken. Wie die Dreißig ausgewählt werden sollen, ist für einen Direktor kein wirkliches Problem, es sollen sowohl von hier als auch von drüben welche dabei sein, aber von hier sollen es halt mehr sein, das ist ja natürlich. (…) Ich lese weiterhin, dass einige meiner Freunde unter den Stipendiaten sind - ich verdamme sie nicht, ich denke, dass jeder Einzelne seine Gründe hat. Es gibt einige, von denen ich weiß, dass dieses Stipendium ihr Leben retten wird. Doch ich bin der festen Ansicht, dass dieses Stipendium so, wie es verwirklicht wurde, der perfideste Zug der gegenwärtigen Literaturpolitik war. Und ich habe keinen Zweifel, dass weitere perfide Züge folgen werden."

168 ora (Ungarn), 01.02.2020

Auch die Publizistin Eszter Hreskovits kritisiert das Zustandekommen des neuen staatlichen Térey-Literaturstipendiums: "Was sollen wir über den Kulturkampfführer Szilárd Demeter denken, der an einem Tag vom Térey-Stipendium träumt und dann vergibt er es, aufgrund von nur ihm bekannten Kriterien an jene, die er für verdienstvoll genug hält? Noch dazu gibt es welche auf der Liste, die tatsächlich verdienstvoll sind. Das Térey-Stipendium ist nicht schwarz-weiß, wie könnte es auch sein, denn der tragisch früh verstorbene Namensgeber war kein einfacher Schriftsteller, vielmehr eine zeitgenössische kulturelle Ikone. Seine Witwe, die Vorsitzende des Entscheidungskomitees, will sicherlich das Beste für jene, die ihrer Meinung nach das Erbe ihres Mannes fortführen. Das genau ist das Widerliche daran, denn der moralisch unbefleckte Schreibriese wollte nicht, dass die Politik den kleinsten Schatten auf seinen Namen wirft. (…) Es ist ziemlich schwierig, denn einerseits essen wir bereits alle von derselben Hand, wir sind alle durch das System zu Komplizen geworden, andererseits ist es nicht egal, ob einen der Sumpf des Systems verschlingt, oder nur ein wenig beschmutzt. (…) Nun entstehen gerade in der Literatur schlimme Schmutzflecken."
Archiv: 168 ora

London Review of Books (UK), 03.02.2020

Auf manchen Pazifikinselns können Einsiedlerkrebse hundert Jahre alt und ein Meter breit werden. Aber sie sind gar keine Einsiedler, sondern sehr gesellige Lebewesen, und ihr Sozialleben ist so vielschichtig geordnet, dass die Politik an einem Renaissance-Hof dagegen wie ein Kinderspiel aussieht, schreibt Katherine Rundell. Leider wird auch der Krebs bald ein Opfer menschlicher Dummheit oder auch des Unvermögens: "Die Kokusnuss-Krabbe, eine sehr seltene Art der Einsiedlerkrebse, ist vor allem deshalb vom Aussterben bedroht, weil ihr Fleisch für ein Aphrodisiakum gehalten wird. In diesem Glauben, ganz wie bei Tigerkralle und Nashorn, steckt so viel menschliche Dummheit, dass ein ganzes Ökosystem dadurch zerstört zu werden droht. Tatsächlich beläuft sich die Zahl aller natürlichen Aphrodisiaka auf: Null. Zugesprochen wurden aphrodisische Kräfte seit ewigen Zeiten a) allem, was selten, exotisch, neu oder teuer ist, b) scharf gewürztem Essen, das den Stoffwechsel anregt und Hitze im Körper erzeugt, c) Essen, das wie ein Penis oder eine Vagina aussieht oder d) Essen, das wirklich ein Penis oder eine Vagina ist oder ein Ei. Austern zum Beispiel bestehen größtenteils aus Wasser, Eiweiß, Salz, Zink, Eisen und kleinen Anteilen aus Kalzium und Kalium. Sie sind nicht mehr Aphrodisiakum als eine in Salzwasser getunkte Vitaminpille, sehen aber verführerischer aus. In der Vergangenheit sprachen wir sexuelle Potenzsteigerung recht wahllos Schokolade zu, Spargel, Karotten, Honig, Brennnesseln, Senf oder Spatzen. Für Shakespeare war die Kartoffel noch etwas Seltenes und Exotisches, und in seiner Zeit galt sie als Aphrodisiakum: 'Lasst den Himmel Kartoffeln regnen, ruft Falstaff in den 'Lustigen Weibern von Windsor', 'lasst ihn donnern zur Melodie von Greensleves, lasst ihn Muskatnuss hageln und Mannstreu schneien, lasst ihn einen Sturm der Erregung entfachen.' Ach, wenn wir nur dahin zurück könnten, zurück zur Kartoffel, wie viel wäre gewonnen."

Weitere Artikel: Adewale Maja-Pearce schickt einen deprimierenden Bericht aus Liberias Hauptstadt Monrovia, wo sich die korrupten Eliten auf den Fußballer George Weah als nächsten Präsidenten geeinigt haben und der mörderischste Kriegsverbrecher jetzt als geläuterter Pastor posiert. Stefan Collini lernt beim Blick auf die Geschichte des Economist, wie man eine profitable Print-Marke betreibt und einschlägige Leitartikel verfasst: "Wie schreibt man denn im Economist-Stil, fragt ein neuer Redakteur vor einigen Jahren, als er seinen ersten Leader anging. Woraufhin ein älterer Kollege antwortete: 'Tu einfach so, als wärst Du Gott'."

Eurozine (Österreich), 03.02.2020

Katarina Luketić stellt zwei kroatische Schriftstellerinnen vor, Olja Savičević und Robert Perišić, in deren Romanen sie Beispiele für ein freies, komplexes und psychologisch nuanciertes Erzählen sieht. Schade nur, dass Autoren vom Balkan selten als Individuen wahrgenommen, klagt sie, sondern als Stellvertreter eines politischen Exotismus, wie es schon Danilo Kiš in seinem berühmten Aufsatz "Homo poeticus" kritisierte: "Wie Kiš schrieb, sind 'wir Jugoslawen' in der Literatur für die Rolle des Homo politicus bestimmt, während 'sie den Rest bekommen, das heißt jede andere Facette dieses wunderbaren, vielseitigen Kristalls, als den wir den homo poeticus kennen, das poetische Tier, das unter der Liebe genauso leidet wie unter der Sterblichkeit, unter der Politik genauso wie unter der Metaphysik'. Kiš beließ es jedoch nicht dabei, andere zu kritisieren, er lehnte die Rolle des Opfers ab. 'Haben wir unser Schicksal verdient?', fragte er und antwortete sogleich mit einem 'Ja'. Denn 'wir haben nicht der Versuchung widerstanden, unsere kleinen (oder größeren) Probleme des Nationalismus und Chauvinismus zu exportieren'. Wir haben unserer Unterschiede so sehr dramatisiert, dass es kein Zurück mehr gibt, wir haben uns einen nationalistischen Unterschlupf geschaffen, in dem wir fröhlich eingesperrt sind, betäubt und im Abseits, während wir unsere dunklen identitären Träume träumen. Mit anderen Worten, wir haben uns auf ein gefährliches Spiel eingelassen, in dem bestimmte Themen und bestimmte Diskurse für bestimmte Menschen aus bestimmten Regionen reserviert sind. 'Wir Männer vom Balkan' (Männlichkeit versteht sich in diesem patriarchalen Stereotyp von selbst) dürfen über unsere 'politisch-exotischen Kommunistski-Probleme' schreiben, aber Geschichten von Tod, Romantik, Alltag, Verlangen, Trost, Entscheidungen und Unterschiede - ganz zu schweigen von poetischen Experimenten oder modernistischen Formen - sind reserviert für andere Dichter, für europäische und westliche Schriftsteller, die große Literatur in Wichtigen Sprachen schaffen. Wir spüren, dass ihnen alle Themen und Debatten gehören, sie allein dürfen über Komplexität. Wandel, Mehrdeutigkeit und Heterogenität schreiben, kurz: ihnen allein steht individuelle Wahl und literarische Freiheit zu."
Archiv: Eurozine

The Baffler (USA), 31.01.2020

Nach der Finanzkrise, die seine berufliche Karriere in New York erst mal beendete, kehrte Jonathon Sturgeon zurück ins heimisch-ländliche Bloomington in Indiana, das nicht weniger krisengeschüttelt war und heuerte bei einem Pfandleiher an. Nachdem er die Crew kennengelernt hatte - "niemand hier erkennt den Herrn an, aber sie alle glauben aus tiefstem Herzen an Aliens" - fuhr er einigermaßen durchgeschüttelt im Bus zurück zur Schlafcouch bei seinem Bruder. "Auf der Busfahrt nach Hause ging mir der Ausdruck 'Erlösungsquote' durch den Kopf. Es schien mir, als hätte ich unwissentlich das Reich des New Yorker Linken verlassen hatte, wo Marx als abwesende Gottheit regiert, die für immer bereit ist, rachsüchtig zurückzukehren. Hier, im Land von Weber, würde ich wie ein guter amerikanischer Protestant an dem Abschaum des kleinlichen Wuchers saugen, unerlöst, aber wieder zu meinen unglücklichen Wurzeln zurückkehrend. Ich war an diesem Tag als gebrochener und verzweifelter Mensch in das Pfandhaus eingetreten; als ich es verließ, war ich ein Subprime-Kreditgeber." Das ergibt sich aus dem Geschäft eines Pfandleihers, der weniger interessiert daran ist, Ware zu kaufen, als sie zu beleihen, lesen wir. Er verdient an den Zinsen. "Der Pfandleiher weiß genau über die Waren Bescheid, die von bestimmten Kunden in einem bestimmten Gebiet verpfändet werden. Selbst das berüchtigte Feilschen des Pfandleihers hat wenig mit dem Wert der fraglichen Ware zu tun; es geht vielmehr darum, die Absichten des Kunden einzuschätzen. Vor allem muss der Makler auf Sicht oder durch Einsichtnahme in sein Buch entscheiden, ob der Kunde zurückkehrt, um sein Eigentum abzuholen. Wenn er das nicht tut, bekommt der Pfandleiher das Darlehen mit dieser Wuchergebühr nicht zurück; vielleicht wird das Objekt später verkauft, aber das ist nicht annähernd so profitabel, als wenn der Kunde es einlöst und es dann irgendwo wieder verpfändet. Statt eines Wissensspeichers über die Geschichte der Waren trägt der Pfandleiher also ein geistiges Verzeichnis der lokalen Armen mit sich: ihre Probleme, Beschwerden, Rechtfertigungen, Ausreden und die Art und Weise, wie sie ihr Geld verdienen. Mit diesem Index versucht er, die Rückzahlungsrate einer armen Person vorherzusagen."

Außerdem in dieser Ausgabe: George Scialabba liest die Essays des Antimodernisten Wendell Berry. Und James Pogue diagnostiziert einen Niedergang des unabhängigen Sachbuchs und der Reportage, seit sie für die Streamingdienste verfilmt werden.
Archiv: The Baffler

Foreign Policy (USA), 21.01.2020

Von V.D. Savarkar, dem Erfinder des Hindunationalismus, war in unseren Presseschauen erst neulich die Rede. Eviane Leidig berichtet nun von einer Reise rechtspopulistischer Europaabgeordneter (darunter ein Abgesandter der AfD) nach Kaschmir, zu einer Zeit, als dieses Gebiet für Journalisten unzugänglich war und der Bevölkerung das Internet gesperrt wurde. Diese internationale Vernetzung der extremen Rechten ist zugleich neu und sehr alt, erläutert Leidig: Schon "In den 1930er Jahren arbeiteten Hindu-Nationalisten mit Schlüsselfiguren im faschistischen Italien und in Nazideutschland zusammen, um ihre rechtsextremen Projekte voranzutreiben. Einer der Pioniere des Hindunationalismus, V.D. Savarkar, schrieb einmal, dass sich Indien bei der Lösung seines 'muslimischen Problems' am deutschen Ansatz bei der Lösung der 'Judenfrage' orientieren solle."
Archiv: Foreign Policy

Respekt (Tschechien), 02.02.2020

Anlässlich ihres 200. Geburtstags widmet Respekt seine aktuelle Ausgabe der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová, deren Klassiker "Babička" ("Die Großmutter") in Tschechien jedermann bekannt ist (in Deutschland wohl eher ihr Märchen "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel"), deren Komplexität in Leben und Werk jedoch kaum wirklich bekannt und erfasst ist. Silvie Lauder erinnert daran, dass jede Epoche eine andere Seite von Němcovás Werk hervorhob und sich zu eigen machte: Franz Kafka verehrte Němcová als "klarsichtig kluge" Meisterin des Wortes, der Schriftsteller und Widerständler Julius Fučík nannte sie "die erste Sozialistin", für die Schauspielerin Vlasta Chramostová war sie eine "Inspiration im Kampf gegen totalitäre Macht". In den Akten der damaligen österreichischen Polizei konnte man lesen, dass "diese exalitierte Tschechin das Volk aufwiegle", gleichzeitig nannten sogar die Polizeispitzel sie "eine bemerkenswerte Persönlichkeit". Zweihundert Jahre nach ihrer Geburt, so Silvie Lauder, gewinnt Němcová nun wieder eine neue Bedeutung, und zwar "nicht anhand der ideologischen Schablonen, mit denen sie während des letzten Regimes vereinnahmt wurde, sondern wegen der Geschichte ihres besonders dramatischen und überraschend aktuellen Lebens. Die erste tschechische Schriftstellerin von Kaliber war nämlich nicht nur literarisch innovativ und außergewöhnlich schön, sondern bewies zivilen und politischen Mut mit festen Grundsätzen - und dies zu einer Zeit, als ihr das die Ächtung und existenzielle Probleme einbrachte."
Archiv: Respekt

New York Times (USA), 02.02.2020

In der aktuellen Ausgabe des Magazins berichtet Sarah A. Topol vom Verschwinden eines uigurischen Ehepaares in China und dem Kampf der Tochter um ihre Eltern: "Seit 2016 hat China Millionen Dollars für Einrichtungen zur 'Veränderung durch Bildung' ausgegeben, in Wahrheit Internierungslager mit Wachtürmen und elektrischen Zäunen. Das Konzept 'Veränderung durch Bildung' kommt von Maos katastrophaler 'Umerziehung durch Arbeit' während der Kulturrevolution. China-Beobachter brauchten lange, um zu verstehen, dass es sich bei den Lagern um etwas Außergewöhnliches handelt, etwas jenseits der Sicherheitsmaßnahmen in der Region Xinjiang, der Überwachung und den willkürlichen Verhaftungen seit den Aufständen in Urumqi. Im Mai 2018 erkannte der Deutsche Adrian Zenz das ganze Ausmaß des Lagernetzwerks, indem er Bautätigkeiten der Regierung an über 40 Orten analysierte. Die Anzahl der Menschen in 'politischen Erziehungslagern' schätzte er auf über eine Million, ca. zehn Prozent der uirgurischen Bevölkerung von Xinjiang. Fast alles, was über das Wesen der Lager bekannt ist, stammt von früheren Gefangenen, die aus China in Richtung Kasachstan geflohen sind. Nur sehr wenige von ihnen haben sich öffentlich geäußert. In Almaty konnte ich sieben ehemalige Gefangene befragen, alle erzählten ähnliche Geschichten. Einer wurde im Keller einer Polizeistation gefangen gehalten und geschlagen, bis er das Gehör verlor. Andere wurden gekreuzigt oder in 'Tiger-Stühlen' verhört, Metallstühlen mit Fußeisen und Handschellen, und gefoltert. Transportiert wurden sie maskiert und in Ketten. Zeugen berichteten von Zwangsmaßnahmen, die darauf abzielten, der Religion abzuschwören und Selbstkritik zu üben. Einer musste Nacht für Nacht Xi Jinping für die Chance zur Erleuchtung danken. Es gibt Berichte über sexuelle Gewalt und Familientrennung. Kinder eingekerkerter Eltern werden in staatlichen Institutionen dazu gzewungen, Mandarin zu lernen - ein weiterer Versuch, die Bevölkerung zu 'sinologisieren'."

Außerdem: Im Style Magazine der NYT beschreibt Mike Mariani die neuen Aussteigerkommunen im ländlichen Amerika.
Archiv: New York Times