Magazinrundschau

Urerlebnis der Revolte

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.04.2020. Die New York Review of Books bestaunt Werke des Sowjetrealismus, die schon Matisse imponierten. Eurozine beschreibt das Geschäftsmodell osteuropäischer Klickfabriken. Die New York Times hofft auf panvirale Impfungen im Kampf gegen Corona. En attendant Nadeau studiert Rimbaud und die Commune. Bloomberg begibt sich in die Post-Lockdown-Hölle von Wuhan. Walrus schildert eine Erziehung zur Orgasmusfähigkeit.

New York Review of Books (USA), 14.05.2020

Aleksandr Deineka: Donbass, 1947


Fürs neue Heft besuchte Sopie Pinkham eine Schau über den Sowjetrealismus in der Manege Central Exibition Hall in St. Petersburg. Sie war zugleich zentrale Ausstellung des 8. Internationalen Kulturforums St. Petersburg 2019, wo sie als Fußball-Wettkampf zweier bedeutender Sowjet-Künstler aus rivalisierenden Städten inszeniert wurde: des in Moskau lebenden Malers Aleksandr Deineka und seines weniger bekannten Leningrader Kontrahenten Aleksandr Samokhvalov (hier gibt es eine 3D-Tour durch die Ausstellung). Beide waren gemäßigt modern und hatten damit Erfolg im stalinistischen Russland, aber auch im Westen, erzählt Pinkham. Deineka war in den USA 1934 durch die Wanderausstellung "The Art of Soviet Russia" bekannt geworden: "Die figurativen Tendenzen der Ausstellung kamen gut an in einem Land, in dem die Kunst jener Zeit figurativer und weniger abstrakt war als in Westeuropa. Die Thematik war angenehm vertraut: Ein Besucher soll zustimmend bemerkt haben, dass ein Gemälde von Eisenbahnhöfen 'von einer Einheit des Clubs der Ingenieure von Baltimore gemalt worden sein könnte'. Vanity Fair beauftragte Deineka, nach Lake Placid zu reisen, wo er eine Skisprungszene zeichnete, die als Titelbild für die Zeitschrift diente. (Das Titelbild und die Skizzen von Lake Placid wurden in der Manege gezeigt). Deineka wurde auch in Westeuropa gelobt. Während seine Arbeit für einige seiner eifrigeren Kollegen zu Hause nicht annähernd ideologisch genug war, verstanden und bewunderten die Europäer seinen gedämpften Modernismus und seinen relativ subtilen politischen Inhalt. Matisse bezeichnete Deineka 1934 als 'den talentiertesten' und 'den fortschrittlichsten' aller jungen sowjetischen Künstler. Seine Werke wurden in ganz Europa gezeigt und für wertvolle Devisen verkauft. Rivalen warfen ihm bald wieder Formalismus vor - auch in 'Die Verteidigung Petrograds' (1928), das bereits zu einem sowjetischen Klassiker geworden war -, aber es gelang ihm, die Angriffe abzuschütteln. Er wich den Säuberungen aus, die viele seiner Künstlerkollegen und sogar seine erste Frau, die Künstlerin Pavla Freiburg, die kurz nach ihrer Verhaftung starb, zu Fall brachten."

Weitere Artikel: Susan Tallman besucht zwei New Yorker Gerhard-Richter-Ausstellungen: im Met Breuer und in der Marian Goodman Gallery. Matthew Aucoin schreibt über drei Operninszenierungen: Aribert Reimanns "Lear" in Paris, Manfred Trojahns "Orest" in Wien und Chaya Czernowins "Heart Chamber" an der Deutschen Oper Berlin. Leslie Jamison sah die Ausstellung "Private Lives - Public Spaces" im Museum of Modern Art. Und Joan Acocella sah noch eine Vorstellung von "The White Helicopter", das Alvis Hermanis zusammen mit Mikhail Baryshnikov am Neuen Riga Theater im lettischen Riga inszenierte.

Eurozine (Österreich), 23.04.2020

Vor einem Jahr führten die Proteste der Algerier gegen eine vierte Amtszeit des greisen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika zu dessen Sturz. Hakim Hamzaoui berichtet, wie auch die Journalisten des algerischen Staatsradios während dieser Proteste lernten, gegen die Gängelung der Medien aufzubegehren: "Als das algerische Radio versäumte, über die ersten Hirak-Proteste zu berichten, organisierten Journalisten von Radio Algérienne und Radio Algérienne Internationale (RAI) eine Demo vor dem Hauptsitz des Senders. In einem Brief an den Generaldirektor erklärten sie: 'Wir, die Journalisten von Kanal I, II, III und RAI, bezeugen hiermit, dass in unseren Redaktionen keinerlei Neutralität in der Berichterstattung Rechnung getragen wurde. Die Entscheidung der Senderleitung, die großen landesweiten Demonstrationen vom 22. Februar 2019 nicht zu erwähnen, zeugt von der unheilvolle Art, auf die wir Tag für Tag unsere Pflichten erledigen müssen.' Weitere Proteste folgten. Der Chefredakteur von Kanal III, Meriem Abdou, trat aus Protest gegen das Schweigegebot zurück, das über die Demonstrationen gegen Bouteflika verhängt worden war."

Ein Großteil der Desinformation, die in osteuropäischen Klickfabriken produziert wird, rührt nicht unbedingt aus politischen Motiven, sondern finanziellen, glaubt Judit Szakàcz, die Land für Land und Kapitel für Kapitel den Report des Center for Media, Data and Society an der Central European University studiert hat. Eine Trupp Hasardeure beherrscht den Markt in Ungarn, Rumänien, Moldawien, Bosnien-Herzegowina und der Slowakei, lernt Szákacz, sie produzieren Infomüll, um über Google Anzeigengelder zu scheffeln. Wenn die Geldflüsse gestoppt werden, müssen sie eine neue Seite erfinden, damit Google wieder Dollar ausspuckt: "In Bosnien-Herzegowina und Ungarn hilft Facebook fluiden Webseiten, ihr Publikum zu behalten. Denn auch wenn die Desinformationsseiten flüchtig sind, bleiben die Facebookseiten stabil. Meist haben die Facebookseiten sogar ziemlich wenig Verbindung zu der Desinformation, die auf ihr gepostet wird. In Bosnien-Herzegowina starten Facebookseiten oft als Celebrity-Fanpage und werden dann für Desinformation umgewandelt. In Ungarn posten viele Seiten, deren Themen einst von Holzschnitzerei bis zu Achtzigerjahre-Nostalgie reichten, heute Desinformation. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Facebookseiten einen organischen Wandel durchgemacht haben; der ungarische Report fand vielmehr Hinweise auf einen regen Untergrund-Handel für Facebookseiten und -gruppen. Die Preise legen nahe, dass die Haupteinnahmequelle von Desinformationsseiten die Werbung ist. Und wie es scheint, sind die demografisch wertvollste Bevölkerungsgruppe auf Facebook 'Frauen über fünfzig', weil sie keine Adblocker benutzen."

Weiteres: Rachael Jolley hofft, dass sich die nach zehn Jahren Tory-Regierung ordentlich gerupfte BBC in der Corona-Krise ein neues Standing erobert hat. Will McCallum sucht den Königsweg im Kampf gegen Klimawandel.
Archiv: Eurozine

Bloomberg Businessweek (USA), 23.04.2020

Für die neue Ausgabe senden Sharon Chen und Matthew Campbell ernüchternde Eindrücke in Text und Bild aus der dystopischen Post-Lockdown-Hölle von Wuhan, wo man versucht, die Balance zu finden zwischen viralem Risiko und Wirtschaftlichkeit: "Wuhans Antwort ist die Schaffung einer Version der Normalität, die Menschen in London, Mailand oder New York extrem seltsam vorkäme, zumindest noch. Während die tägliche Routine im wesentlichen zurückgekehrt ist, gibt es Restriktionen bei einer Menge von Aktivitäten, von Hausbesuchen bis Beerdigungen. Gestützt auf Chinas mächtigen Überwachungsstaat werden noch die einfachsten Interaktionen überwacht, um sicherzustellen, dass keine Infektion länger als einige Stunden unbemerkt bleibt. Ob die Menschen überhaupt wieder zu ihrem Leben, wie es einmal war, zurückkehren wollen, ist nach allem, was sie durchgemacht haben, gar nicht sicher. Einkaufszentren, Geschäfte, Restaurant sind wieder geöffnet, aber fast leer. Die U-Bahn ist still, Pkw verkaufen sich gut, auch wenn Staus drohen. Das ist immer noch besser als soziale Nähe … Ein Impfstoff dürfte erst in einem Jahr verfügbar sein, und mit der Erfahrung, wie schnell ein einzelner Erreger alles zu einem Ende bringen kann, ist nicht mal das ein Garant für eine Rückkehr zur Normalität. Wuhan war der erste Ort, der beide Seiten der Covid-19-Kurve durchlaufen hat, und wie es sich jetzt verändert oder auch nicht, sollte für uns alle von Interesse sein."

Magyar Narancs (Ungarn), 26.03.2020

Der Regisseur Árpád Schilling denkt über seine Aussichten in der Coronakrise nach. Sehr rosig erscheinen sie ihm nicht: "Wenn ich mich nicht bewege, kann ich dem Virus entkommen, doch das System wird mich früher oder später finden. Zuerst die Rechnungen, dann die Mahnungen, dann die Anrufe, die Mitarbeiter der Unternehmen, die Vollstreckung, die Polizei… Dem kann ich selbst dann nicht entgehen, wenn ich nicht auf die Straße gehe. Im Gegenteil: genau dann kann ich dem nicht entgehen, wenn ich zu Hause bleibe. Wenn ich die Schutzmaßnahmen einhalte, kann ich meine Arbeit verlieren, ich kann meinen Lohn verlieren und wie soll ich dann für mein Leben bezahlen? Ich bin nicht alleine. Ich stehe nicht schlechter da als viele Millionen andere Menschen, die von Projekt zu Projekt, von Gelegenheit zu Gelegenheit leben. Von den Millionen gar nicht zu sprechen, die bisher dachten, dass sie sichere Arbeit hätten und plötzlich doch alles verloren. Alles bedeutet in diesem Falle, dass hunderttausende Familien in den totalen Zusammenbruch fallen. Hysterie. Stop! Sie werden doch nicht zulassen, dass es soweit kommt! Jene, da oben! Etwas müssen sie doch tun. Oder müssen wir etwas tun?"
Archiv: Magyar Narancs

Propublica (USA), 07.04.2020

Facebook, Twitter und andere Plattformen im Netz sind mittlerweile einigermaßen gut darin, zumindest krasseste Auswüchse rechtsextremistischer Propaganda von ihren Servern zu eliminieren. Einen relativ sicheren Hafen findet das Milieu allerdings im Selbstverleger-Programm von Amazon, schreiben Ava Kofman, Francis Tseng und Moira Weigel: Dort konnten antisemitische Hetzschriften und Romane mit wilden Prepper-Bürgerkriegsszenarien viele Jahre lang weitgehend problemlos zum kleinen Preis als E-Book angeboten werden - und das ganz ohne das Stigma eines rechtsextremen Verlags im Hintergrund. Zwar gibt es bereits vorsichtige Versuche seitens Amazon, das Problem in den Griff zu kriegen, doch spielen diese in der großen Breite kaum eine Rolle. "In der heutigen Welt des digitalen Überflusses genießen rechtsextreme Autoren eine neue Sichtbarkeit. Früher war Gary Lauck, Vorsitzender der NSDAP/AO, einer amerikanischen Neonazi-Partei, vom langsamen Briefverkehr abhängig, um Neonazi-Propaganda nach Deutschland und in andere europäische Länder zu schmuggeln, wo sie verboten ist. Heutzutage sind seine im Verlag seiner Organisation erscheinenden Bücher in den USA und in Europa via Amazon und auf Kindle Unlimited, einem Pauschal-Angebot für Bücher, jedem zugänglich. Das Kindle-Progamm hat auch den älteren Kanon des weißen Nationalismus wiederbelebt. Viele mittlerweile urheberrechtsfreie Bücher historischer Nazis und Antisemiten wurden auf diese Weise wiederveröffentlicht. Nutzer in rechtsextremen Chatforen verlinken rege auf sie. ... Amazon beschreibt das Programm als Service, nicht als Verlag oder soziales Netzwerk. Aber Amazon spielt hier keineswegs nur eine passive Rolle. Der Empfehlungsalgorithmus nutzt die Käufe, Suchanfragen und Lesevorgänge der Kunden, um ihnen unabhängig von Kritikern und Verlagsentscheidungen jene Bücher vorzulegen, die sie wohl am wahrscheinlichsten kaufen werden. 'Mich bringt das wirklich auf die Palme, wenn ich Amazon davon reden höre, dass sie Gatekeeper überwinden wollen, während sie in Wirklichkeit 1000 kleine Gatekeeper durch einen großen ersetzen', sagt Shel Kaphan, der an der Gründung von Amazon beteilgt war und bis 1999 der Technologieabteilung vorstand. 'Sie nutzen einfach andere Kriterien, aber die sind nicht nobler als die Kriterien anderer Leute. In vielerlei Hinsicht ziehe ich redaktionelle Entscheidungen einer Strategie vor, die nur fragt: 'Was bringt uns heute am meisten Geld ein?'"
Archiv: Propublica

En attendant Nadeau (Frankreich), 25.04.2020

Yishai Sarids Roman "Monster" (bestellen) ist auch in der deutschen Kritik auf große Begeisterung gestoßen, und doch hat man den Eindruck, er sei ein bisschen untergegangen. Nun ist der Roman auch in Frankreich erschienen und Natalie Levisalles hat ein ausführliches Gespräch mit dem Autor geführt, der in seinem Roman die Geschichte eines Fremdenführers in Auschwitz erzählt und nebenbei die Fallstricke und Heucheleien heutigen Gedenkens thematisiert. Es geht ihm um Gerechtigkeit, gegenüber den Toten und den Lebendigen. Er erzählt nicht nur, wie widersprüchlich das Verhältnis der jungen Israelis zu Europa ist (man bewundert die Deutschen, aber ganz und gar nicht die Polen) und er schildert, wie in Israel alles von der Geschichte überlagert wird, etwa das Verhältnis von arabischen und osteuropäischen Juden. Ein junges sephardisches Mädchen erzählte ihm, wie der Lehrer "jedes Jahr am Holocaustgedenktag fragte, wer Schoa-Opfer in der Familie hatte. Wer die Hand hob, war meist aschkenasisch und gehörte zu einer Art Elite. Sie konnte nur schweigen, niemand sprach über ihre Geschichte, sie existierte nicht. Wir kann man die Geschichte der Menschen aus Marokko mit der Tragödie in Europa vergleichen? Sie standen im Schatten der Schoa, und das verletzte sie. Wie in einer Familie, wo ein krankes Kind alle Aufmerksamkeit auf sich zieht..."

Interessant liest sich auch Alban Bensas Besprechung einer Neuauflage von Kristin Ross' Buch über Rimbaud und die Commune. Die New Yorker Romanistin, die der knallharten akademischen Linken um Badiou und Rancière nahezustehen scheint, untersucht in dem schon vierzig Jahre alten und jetzt wiederübersetzten Buch Rimbauds Urerlebnis der Kommune, die für die gesamte europäische Linke das Urerlebnis der Revolte war - und sie beschreibt am Beispiel von Rimbauds Poetik der Hand den uralten Traum unglücklicher Jungbourgeois von der Verschmelzung mit anderen Klassen: "In der Hand sah er ein Symbol der Unterwerfung, wenn sie, wie es das Ziel aller Erziehung und Konvention war, nur noch auf einen Zweck hin ausgerichtet wurde." Die Zurichtung auf einen Beruf und Zuweisung zu sozialen Klassen geschah auch über die Zurichtung der Hände, und so wurden sie "vom Körper getrennt". Rimbaud "wehrt sich gegen die Amputation, die Entfremdung ist... Das 'Ich ist ein anderer' ist nicht immer und überall Ausdruck einer kognitiven Verwirrung, sondern ein politisches Bekenntnis."

The Atlantic (USA), 31.05.2020

Alle reden von Corona, aber in den USA ist die Opioid-Krise noch genauso akut wie vor zehn Jahren. Beth Macy stellt in ihrer Reportage eine junge Frau vor, Nikki King, die selbst aus einem drogenverseuchten Teil Kentucky kommt und sich mit schierer Willenskraft zur Gesundheitsexpertin ausgebildet hat, die neue Wege geht, die Drogensucht zu behandeln. Keine Kleinigkeit in einem Land, in dem die Voraussetzungen für die Verschreibung von suchtbekämpfenden Medikamenten viel schärfer gefasst sind als für die suchterzeugenden: "Die heute 28-jährige Nikki ist zu einer der führenden Stimmen zur Opioid-Krise im ländlichen Amerika geworden, wo 20 Jahre nach Beginn der Katastrophe immer noch kaum Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, obwohl die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung weiter steigt. In vielen ländlichen Gegenden wenden sich die Nachbarn gegeneinander, statt die Schuld den Pharmakonzernen zu geben, die die Epidemie verursacht haben, und den machtlosen Regulatoren und gekauften Politikern, die sie ermöglicht haben. (In meiner Berichterstattung über die Krise habe ich diese Haltung immer und immer wieder gesehen. Bei einem kürzlichen Treffen im ländlichen North Carolina zum Beispiel lehnte der Leiter des örtlichen Kiwanis-Clubs einen Plan ab, der vorsieht, die Menschen zu den Behandlungseinrichtungen zu fahren: 'Ich denke, wenn sie rückfällig werden, sollten wir sie sterben lassen und ihnen ihre Organe entnehmen', sagte er.) Die Drogen-Epidemie hat bereits mehr als 800.000 Amerikaner getötet - mehr als an AIDS gestorben sind - aber die Bundesregierung bietet immer noch keine angemessenen Lösungen an, ganz zu schweigen von einer Finanzierung, die die Krise eindämmen könnte. Da es keine Hilfe von oben gibt, hat Nikki einen Weg gefunden, wie Menschen in abgelegenen, unterfinanzierten Gebieten behandelt werden können."

Erklärt wird das im Artikel und in diesem zehnminütigen Video:



Weitere Artikel: H. R. McMaster, General a.D. und ehemaliger Sicherheitsberater im Weißen Haus, versucht uns zu erklären, wie China die Welt sieht. In der Titelgeschichte fragt sich Kate Julian, warum junge Menschen heute so ängstlich sind. Benjamin Taylor erzählt von seiner Freundschaft mit Philip Roth.
Archiv: The Atlantic

Walrus Magazine (Kanada), 28.04.2020

J.A. Cameron erzählt, wie er und seine Tante Pamela, beide mit sehr christlichem Hintergrund, durch die Arbeit in einem Sexshop lernten, dass Sex etwas völlig normales ist und in vielen Varianten praktiziert werden kann. Beide lernten das Metier in Toronto bei Lovecraft. J.A. - keine 1,60 Zentimeter groß, als er den Laden erstmals betrat, "in einem zu großen Hemd und mit der Zahnspange sah ich eher wie ein katholisches Schulkind aus, das sich auf einer Exkursion verlaufen hatte, als wie der neueste Mitarbeiter eines Sexshops" - in den 90ern, Pamela schon in den 80ern: "Ein großer Teil von Pamelas Arbeit bestand darin, den Menschen zu vermitteln, dass Sexualerziehung, Selbsterkundung und selbstbestimmtes Vergnügen akzeptabel und normal sind. Einmal betrat eine Frau in ihren Siebzigern den Laden, von Kopf bis Fuß in beige gekleidet, und erzählte Pamela, dass sie ihren Mann vor einigen Monaten verloren hatte. Nach einigem sanften Seufzen gab sie zu, dass sie noch nie einen Orgasmus gehabt habe. Einige Stunden später trottete die Dame mit einer Tasche voller Spielzeug hinaus, grinsend wie ein Kind an Weihnachten. Pamela hielt später verdeckte Vorträge vor Müttergruppen im Keller der Leaside Church und anderen Kirchen in Toronto. Sie schleppte einen Einkaufswagen mit Waren herein und sorgte dafür, dass jedes Spielzeug aufgeladen war. Manchmal kicherten die Damen lange, und sie musste wie eine Lehrerin warten, bis sie sich beruhigt hatten. Diese Frauen kehrten oft als Kundinnen zurück. 'Alles, was sie brauchten', behauptet Pamela, 'war jemand, der auf ihre Bedürfnisse hörte.'"
Archiv: Walrus Magazine
Stichwörter: Spielzeug

Open Democracy (UK), 28.04.2020

"Die Straßen nach Marange sind unpassierbar. Die örtliche Klinik ist eine Todesfalle ohne Medikamente. Kleine Schulkinder gehen täglich bis zu 10 Kilometer zu Fuß zur Schule und zurück. Die vertriebenen Dorfbewohner erleben eine neue Armut ohne sauberes Trinkwasser und ohne Lebensgrundlage." Und das in einer Region von Simbabwe, die zu den reichsten des Landes gehört. Denn hier liegen die Diamentenminen, die den Bewohnern ein gutes Leben sichern müssten. Doch alle Gewinne teilen sich einige Politiker, das Militär und die großen russischen und chinesischen Minengesellschaften Alrosa und Anjin, erzählt Kudzai Chimhangwa. "'Die Abmachungen sind geheim, weil es sich um korrupte Geschäfte handelt, die einigen wenigen politischen, militärischen und Sicherheitseliten zugute kommen. Die Abkommen sind so schrecklich, dass sie der Öffentlichkeit nicht enthüllt werden können', sagte Farai Maguwu, Director des Centre for Natural Resource Governance und fügte hinzu, dass die chinesische Minengesellschaft Anjin im Laufe der Jahre nie etwas an die Regierung überwiesen hat, was die Behauptungen glaubwürdig macht, dass mit den Erlösen aus ihren Bergbauaktivitäten eine Parallelregierung finanziert wird."

Weitere Artikel: Peter Geoghegan, David Leask und Richard Smith erzählen, wie Britannien mit laxen Gesetzen Geldwäsche ermöglicht.
Archiv: Open Democracy
Stichwörter: Simbabwe

New York Times (USA), 26.04.2020

Ein Beitrag von Jennifer Kahn im aktuellen Heft stellt die Chance auf präventive Impfstoffe gegen verschiedene Viren in Aussicht, sogar eine Vorsorgeimpfung gegen Corona wäre möglich gewesen, heißt es, man hat es nur nicht getan: "Panvirale Impfungen sind möglich. In den letzten Jahren wurde eine Reihe präventiver Grippe-Impfstoffe entwickelt, die nicht auf den kugelförmigen Kopf des Virus' zielen, der leicht mutiert, sondern auf seinen Stiel, der fast nie mutiert. Ein weiterer neuer Ansatz, mRNA-Impfstoffe, nutzt Boten-RNS, die genetische Instruktionen zur Proteinherstellung weitergibt, um eine Immunreaktion hervorzurufen. Die Vorteile von mRNA-Impfstoffen sind enorm, weil sie in nur 1-3 Monaten hergestellt werden können, und zwar in Milliarden Dosen. Ferner sind sie extrem anpassungsfähig: Ausgehend von einem funktionierenden Stoff, etwa gegen das aktuelle Virus, wäre das Redesign für das nächste Virus unkompliziert. Bisher ist kein mRNA-Impfstoff genehmigt worden, doch das wird sich jetzt wohl ändern. Für Jahre, so Vincent Racaniello (Professor an der Columbia Universität, d. Red.), war das Hauptproblem, dass die Entwicklung panviraler Stoffe niemand finanzieren wollte. Für die Pharmaindustrie sind diese Impfstoffe nämlich ein schlechtes Geschäft: Sie muss hunderte Millionen in eine Impfung investieren, die die Leute nur einmal im Jahr bekommen bzw. gar nicht, wenn keine besondere Erkrankung ansteht."

Außerdem: David Marchese spricht mit Stephen King über apokalyptische Szenarien in der Wirklichkeit und in der Literatur. Und in einem Fotoessay fragen Kiana Hayeri und Mujib Mashal, was passiert, wenn die Pandemie nach Afghanistan kommt.
Archiv: New York Times