Magazinrundschau

Aus dem Nachttopf von Sedna

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.05.2020. Corona ist alles, nur kein Gleichmacher, erkennt das New York Magazine. In Indien können Wanderarbeiter sich kaum vor Epidemien schützen, informiert La vie des idees. Erntehelfer in Deutschland auch nicht, kritisiert A2larm. Der New Yorker erklärt die Bedeutung von "Rauchmeldern" für Pandemien. Il Post forscht nach, warum gerade in der Lombardei so viele Menschen sterben mussten. Collector's Weekly bewundert die Rockkonzert-Plakate von Randy Tuten. Die LRB hält sich vor einem Grönlandhai die Nase zu.

New York Magazine (USA), 27.04.2020

Corona ist keineswegs der große Gleichmacher, der für alle Amerikaner tödlich ist, schreibt Zak Cheney-Rice in einem bitteren Artikel. Strafgefangene oder Obdachlose sterben in den USA in horrenden Zahlen. "Aber das Leiden ist noch größer als das Sterben. Jüngste Umfragen zeigen, dass bis zu zwei Drittel der erwachsenen Latinos aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs ihren Arbeitsplatz verloren oder ihr Einkommen verringert haben. Ein Großteil davon ist auf ihren hohen Anteil im Dienstleistungs- und Gastgewerbe zurückzuführen, die in der Krise oft schließen mussten. ... Vorläufige Daten deuten darauf hin, dass schwarze Amerikaner am stärksten von dem Virus betroffen sind, wie jeder hätte vorhersagen können, noch bevor diese Daten ins Spiel kamen. Obdachlose, inhaftierte und verarmte Menschen in den USA waren und sind unverhältnismäßig schwarz, mit den damit einhergehenden Gesundheitsrisiken: höhere Raten von Diabetes, Bluthochdruck und Herzkrankheiten, alles zuverlässige Indikatoren dafür, ob ein ansonsten beherrschbarer Fall von COVID tödlich enden könnte. Schwarze Opfer machen zum Beispiel 40 Prozent der infizierten Toten in Michigan aus, aber 14 Prozent der Bevölkerung des Bundesstaates. Es sind 70 Prozent der Toten in Louisiana, einem der größten Epizentren des Landes außerhalb New Yorks, aber nur 33 Prozent der Bevölkerung. In Chicago und Milwaukee - wo im letzteren Fall die durchschnittliche Lebenserwartung für Schwarze 14 Jahre kürzer war als für Weiße vor der Pandemie - machen die Todesfälle durch schwarze COVID 55 Prozent bzw. 81 Prozent der Gesamtzahl aus, obwohl Schwarze in beiden Städten weniger als 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen."

La vie des idees (Frankreich), 04.05.2020

Wie soll ein Land wie Indien, in dem 92 Prozent der Menschen in "informellen" Verhältnissen arbeiten, einen Lockdown durchstehen, fragt eine Gruppe von Indienforschern in einem gemeinsamen Artikel. Als informell gelten Arbeitsverhältnisse ohne Vertrag, die keinen Schutz und keine Gewähr auf Kontinuität bieten. Unter diesem Aspekt gerät die Coronakrise in Indien mit ihren bisher noch harmlos wirkenden Zahlen in ein dramatisches Licht: "Viele Medien haben kulturalistische Klischees bemüht und machen eine 'kulturelle' Unfähigkeit aus, das Prinzip der sozialen Distanz zu akzeptieren. Aber lange, bevor dies eine 'kulturelle' Frage ist - sofern dieses Argument überhaupt triftig ist -, sind Bewegung und soziale Bindung in einem Umfeld, wo nur eine Minderheit sozial abgesichert ist, schlicht notwendig für Überleben und Sicherheit." Die Autoren schätzen allein die Zahl der Wanderarbeiter auf 100 Millionen: "Dies schließt Bewegungen über lange Distanzen und zwischen Bundesstaaten mit starken Strömen aus den ärmsten Staaten im Nordosten Indiens in Richtung der Staaten mit größerer Beschäftigung im Westen und Süden ein."
Stichwörter: Indien, Coronakrise, Lockdown

New Yorker (USA), 11.05.2020

In einem Text der neuen Ausgabe fragt David Quammen, warum die USA so schlecht auf Corona vorbereitet waren: "Die katastrophal späte, inadäquate, wirre und für viel verwirrende Reaktion der Regierung vor wie nach dem ersten Fall, hat mit zu vielen Faktoren zu tun, hier sind zwei: Das Versagen, die Warnungen durch SARS und MERS Ernst zu nehmen. Und der Verlust an politischen Kapazitäten in den letzten Jahren, die die Bedeutung und die Dringlichkeit von pandemischen Bedrohungen verstehen. Beth Cameron, ehemalige Vorsitzende des Direktoriums für Weltgesundheits- und B-Schutz am National Security Council, nennt es die Abwesenheit eines 'Rauchmelders'. Die Verantwortlichen, die für die Beobachtung von Notfallagen zuständig sind, müssen den Rauch riechen und das Feuer ersticken, solange es klein ist, sagt sie. 'Gegen den Ausbruch gibt es kein Mittel, aber wir können verhindern, dass er sich zu einer Pandemie auswächst.' Seit der Ebola-Epidemie bis März 2017 war Cameron federführend im Direktorium. Ihr Nachfolger führte es ein Jahr weiter, dann, unter John Bolton, wurde es aufgelöst. Ein Rauchmelder funktioniert nicht, wenn die Batterie fehlt. Der Virologe Dennis Carrol leitete 15 Jahre lang ein Pandemie-Projekt an der US-Behörde für Internationale Entwicklung. 2009 entwickelt er ein 200 Millionen Dollar schweres Programm, das der Entdeckung potenziell gefährlicher neuer Viren vor ihrer Verbreitung auf den Menschen diente. Dieses Programm endet 'wegen risikoscheuer Bürokraten', sagte er der Times vergangenen Oktober. Die Regierungen Bush und Obama seien 'enorm hilfreich' gewesen, aber dann kam ein kalter Wind."

Außerdem: Evan Osnos geht der Frage nach, wann die Country-Club-Republikaner Trump lieben lernten. Adam Kirsch erinnert an den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard und seine Vorliebe fürs Unglücklichsein. Jill Lepore schaut die Sesamstraße und überlegt, ob das Format noch trägt. Und Anthony Lane träumt von den Vorzügen der Nachtzüge.
Archiv: New Yorker

Il Post (Italien), 04.05.2020

Das Team von Ilpost.it bringt eine fantastische und geduldige Recherche zur Frage, wie ausgerechnet die technisch und administrativ so moderne Lombardei zum Epizentrum der Coronakrise in Italien werden konnte: Die Hälfte der Toten sind in dieser Region zu beklagen. Die von ferne häufig gestellte Diagnose, dass die Privatisierung schuld sei, reicht nicht ganz aus, es handelt sich um ein ganzes Bündel von Faktoren. Aber ja, der charismatische von 1995 bis 2013 regierende Präsident der Region Roberto Formigoni von Berlusconis Forza Italia war ein Fürsprecher der Privatisierung - allerdings in unguter Promiskuität von Staat, Unternehmern - und wie die Reporter nur andeuten - katholischen Einflusskreisen. Das Gesundheitssystem obliegt in Italien den Regionen. Formigoni reformierte das System so, dass es zur Hälfte privat, zur Hälfte staatlich ist. Nur bekamen die privaten Kliniken die prestigeträchtige Apparatemedizin und die überforderte staatliche Hälfte die Alltags- und Notfallmedizin. Aber als ein bedeutender Faktor kam auch unterschiedliche Kompetenz in den Regionen hinzu: "In der Lombardei leben mehr als doppelt so viele Menschen wie in der Region Venetien, es gibt viermal so viele bestätigte Infektionen (und das, obwohl fast nur Menschen mit Vorerkrankungen getestet wurden) und genau zehnmal so viele Todesfälle. Dennoch wurden im April in der Lombardei im Durchschnitt etwa 8.520 Tests pro Tag verarbeitet, im Veneto etwa 7.880. Diese Einschränkungen in der Kapazität, Patienten zu testen und einer Ansteckung auf die Spur zu kommen, erwiesen sich als besonders problematisch." Dennoch weigern sich die Reporter am Ende ihres Artikels sehr fair, eine eindeutige Schuldzuweisung zu treffen - es handle sich auch um eine unglückliche Verkettung, die diese Region besonders früh und hart getroffen hat. Bei einem schlechteren Gesundheitswesen hätte es noch wesentlich mehr Tote gegeben, so die Autoren.
Archiv: Il Post

A2larm (Tschechien), 01.05.2020

Der tschechische Journalist Jan Mareš sieht die deutsche Praxis der Erntehilfe in Coronazeiten höchst kritisch. Es hätten sich viele deutsche Studenten, Freiwillige und derzeit Arbeitslose als Erntehelfer angeboten, an denen die Landwirte jedoch ein auffällig geringes Interesse gezeigt hätten. "Die Spargelernte etwa, so heißt es, sei besonders anspruchsvoll, und Studenten hätten angeblich zu wenig Lust und Zeit, um sich anlernen zu lassen. Der deutsche 'Michel' ist anscheinend zu verweichlicht und zu wenig an harte Arbeit gewöhnt. Dagegen sind Alexandru und Andreea aus Rumänien ja bereits angelernt, nicht so verwöhnt und vor allem bereit, zehn oder auch zwölf Stunden sechs oder sieben Tage die Woche auf dem Feld zu arbeiten. (…) Wie sich aber in der letzten Tagen in Deutschland zeigt, hatte die Scheu der Landwirte vor inländischen Arbeitern auch einen anderen Grund. Viele von ihnen betreiben nämlich seit Langem ein System, das in etlichem an die guten alten Zeiten des Feudalismus und der Fronarbeit erinnert. Und ganz offensichtlich wäre es ihnen nicht recht, wenn von diesen Praktiken auch eine breitere Öffentlichkeit erfährt." Von "strengen hygienischen Maßnahmen" etwa könne kaum eine Rede sein, so Mareš. Die Erntehelfer würden etwa in einem überfülltem Bus zum Feld gebracht oder einem Viehanhänger, in den bis zu 70 Leuten passten. "Die Anweisung, dass die Arbeiter die ersten 14 Tage in Quarantäne verbringen müssen, wird von den Landwirten so interpretiert, dass sie die Helfer zu dritt in Wohncontainern unterbringen, für die die Osteuropäer noch zahlen müssen. Auf dem Bauernhof können sie Lebensmittel und andere nötige Dinge kaufen, die sind allerdings manchmal dreifach so teuer wie im nächsten Supermarkt. Dorthin dürfen die Arbeitskräfte jedoch nicht - wegen der Quarantäne. Auch diese Praktik kennen wir von woanders: aus den Zeiten des Frondienstes, wo die Untertanen Waren nur von ihrem Herrscher kaufen durften." Ob solche feudalen Praktiken auch in Tschechien existieren, ist Mareš bisher nicht bekannt, und er schließt: "Hoffen wir, dass wir mit den Ukrainern bei uns besser umgehen als die Deutschen mit den Rumänen."
Archiv: A2larm

London Review of Books (UK), 07.05.2020

Jacqueline Rose liest auch noch einmal Albert Camus' "Pest", und denkt über seinen Humanismus nach, der ihm den Spott und die Verachtung von Jean-Paul Sarte und Simone de Beauvoir einbrachte: "Camus weigerte sich, den Einzelnen willkürlichen numerischen Berechnungen zu unterwerfen. Darin bestand für ihn die Kreativität: sie folgte der Entscheidung, die Welt über die Qualen des Moments hinaus zu imaginieren. Das erste echte Anzeichen im Roman für einen Rückzug der Krankheit scheint auf, wenn die Zahlen nicht mehr aufgehen oder keinen Sinn mehr ergeben: Am Montag steigen die Todeszahlen, während es am Mittwoch aus irgendeinem Grund keine mehr gibt; in einem Viertel sterben noch Hunderte, an anderen Orten scheint die Pest leise entwischt zu sein. Die Pest, bemerkt Camus' Erzähler, verlor ihre Kontrolle, ihre gnadenlose mathematische Effizienz, die bis dahin ihre Trumpfkarte war'. Mathematik ebnet ein. Sie ist eine tödliche Kunst. Menschen zählen, tot oder lebendig, heißt, eine Welt der Abstraktion zu betreten, das erste Anzeichen dafür, dass die Dinge eine verzweifelte Wendung genommen haben. Zählen kann natürlich auch das genaue Gegenteil bedeuten. Wenn jemand zählt, kommt es auf ihn an, mit der weiteren Implikation, dass er für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann. Nicht zu zählen, heißt dann, übersehen zu werden oder unsichtbar zu sein, wie die Araber von Oran. Deren Abwesenheit in Camus' Porträt der französisch-algerischen Stadt, in welcher der Roman angesiedelt ist, scheint mittlerweile sein gravierendstes Versäumnis zu sein. Damals lebten in Oran mehr als hunderttausend."

Ein Grönlandhai kann bis zu fünfhundert Jahre alt werden, Katherine Rundell ist trotzdem froh, keiner zu sein. Besonders schön sind diese Tiere nämlich nicht. "Sie riechen auch. Ihre Körper weisen hohe Konzentrationen an Harnstoff auf, die sicherstellen soll, dass sie die gleiche Salzkonzentration wie der Ozean bewahren, um zu verhindern, dass sie durch Osmose Wasser verlieren oder gewinnen, aber es bedeutet auch, dass sie nach Urin riechen - so sehr, dass der Hai in der Legende der Inuit aus dem Nachttopf von Sedna, der Göttin des Meeres, entstanden sein soll."

Weiteres: Colm Toíbín liest die "Dolphin Letters", den Briefwechsel zwischen Elizabeth Hardwick und Robert Lowell über das schreckliche Ende ihrer Ehe. David Renton erzählt, wie schnell man in diesen Zeiten obdachlos werden kann. Und Irina Dumitrescu bespricht ein Buch über "Obszöne Pädagogik" im Spätmittelalter.

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.04.2020

Die Philosophen Péter Bajomi-Lázár und Mihály Szilágyi-Gál beklagen das Fehlen von gesellschaftlichen Debatten und somit die Möglichkeit der Kontrolle von politischen Amtsträgern durch die Öffentlichkeit: "Es wurde zum organischem Teil, ja zum Organisationsprinzip der Kommunikationsstrategie der ungarischen Regierung, beim kleinsten Anzeichen einer Krise Sündenböcke zu markieren, auf die sich dann die Frustration und Wut der Gemeinschaft richten kann. Die Bedürfnisse jener Gruppe verlieren somit in den Augen der Gemeinschaft ihre Legitimation, sie werden bagatellisiert. (...) Regierungskritische Medien werden bezichtigt, Falschmeldungen zu produzieren. Das wiederholte Eintrichtern fertiger Kommunikationsbausteine wie "Soros-Agent" und "Migrantenstreichler" - verbunden mit Angst und Anpassung - erzeugt einen Kommunikationsdunst, in dem rationale Argumente keinen Platz mehr haben. Ein Beispiel dafür ist die Antwort der Regierung auf internationale Kritik. Statt rationaler Argumente gewinnen Autoritätsargumente an Geltung. Die Frage ist, wer spricht und nicht, was gesagt wird. Nach Brian McNair ist die politische Kommunikation nichts anderes als eine gesellschaftliche Debatte über die Verteilung der Ressourcen. In Ungarn gibt es solch eine Debatte nicht. Und ohne Debatte gibt es auch keine Demokratie."

Collectors Weekly (USA), 27.04.2020



Ben Marks porträtiert den Grafikgestalter Randy Tuten, der in den 60ern und 70ern mit seiner ganz spezifischen Ästhetik den Look von Rockkonzert-Plakaten entscheidend prägte: Während viele seiner Berufskollegen sich in der Surf- und Autokultur bedienten oder in der Kunst- und Kulturgeschichte wilderten, "fand Tuten seine Inspiration auf Bierflaschen. 'Bierflaschen hatten einfach tolle Grafiken', erzählt er mir und bezieht sich dabei auf die ausgeklügelten Schriftzüge, die dekorativen Umrandungen und die verwegene Bildsprache auf den Etiketten, die während der Prä- und Post-Prohibitionszeit auf die Seiten der Bierflaschen aufgeklebt wurden. Auch war Tuten ein Fan der Etiketten auf Obstkisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Monsterfilmplakaten aus den 50ern und Reisepostern aus derselben Zeit, insbesondere jenen, die Schifffahrtslinien und Reisen auf exotische, tropische Inseln bewarben. 'Alles, was irgendwie gut aussah, beeinflusste mich', sagte er. Zwischen Bierflaschen aus der Zeit vor der Prohibition und Reisepostern aus den 50ern mögen Welten liegen, dennoch fanden Werbeästhetiken verschiedenster Sorten ihren Weg in Tutens Arbeiten. Insbesondere seine in den späten 60ern für den in San Francisco ansässigen Rockpromoter Bill Graham entstandenen Poster waren ungeheuer eklektisch - in der einen Woche zeigten sie eine sinkende, von Lettern aus der Zeit der Jahrhundertwende umrahmte Titanic, in der anderen eine Avocado mit Glotzaugen."