Magazinrundschau

Im totalen Zerknirschtheitsmodus

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
21.07.2020. Glenn Greenwald beschreibt in The Intercept die sture Besessenheit der Cancel Culture am Beispiel ihres Opfers Martina Navratilova. In The Atlantic hat John McWhorter genug von der Selbstgeißelung vieler Weißer. In Magyar Narancs kritisiert Dániel Hegedűs das Wohlwollen der CDU/CSU gegenüber Orbans Fidesz. Der Economist weist darauf hin, dass Chancenungleichheit nicht mit der Polizei verschwindet.Die New York Review of Books blickt geblendet auf eine glitzernde schwarze Materie namens Sun Ra.

Intercept (USA), 14.07.2020

Glenn Greenwald ist vielleicht nicht der optimale Kandidat, um über die Auswüchse der "Cancel Culture" zu schreiben: Er beherrscht das Instrument hämischer Kampagnen, um Leute mit anderer Meinung auszuschließen, selbst perfekt - erinnert sei daran, dass er es war, der die Kampagne gegen eine Ehrung von Charlie hebdo durch den amerikanischen PEN Club anleitete und orchestrierte (mehr hier). Seine - allerdings in einem quälend langen Artikel - untergebrachte Geschichte über die ehemalige Tennisspielerin Martina Navratilova ist dennoch lesenswert. Er schildert Navratilova als sein Jugend-Idol, auch weil sie sich längst vor allen heutigen Besserwissern für Schwule, Lesben und Transpersonen einsetzte. Und doch geriet sie mindestens ebenso übel in die Schusslinie der gefürchteten Transbewegung wie J.K. Rowling. Grund: Sie hatte die Radrennfahrerin Veronica Ivy kritisiert, die mit 37 sämtliche jüngere Frauen in deren Leistungsspitze besiegte, weil sie nun mal ein ehemaliger, und zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal operierter Mann war. Ivy selbst führte dann die Twitter-Kampagne an. Navratilova versuchte, zunächst ihre Argumente darzulegen, vergebens: "Navratilova wechselte dann in den totalen Zerknirschtheitsmodus. Sie entschuldigte sich mehrfach für ihren ursprünglichen Tweet. Sie gelobte, sämtliche Tweets zu löschen, die Trans-Leute beleidigend finden könnte und beteuerte, dass sie sich geäußert habe, ohne das Thema ausreichend durchdacht zu haben. Sie gelobte zu schweigen, versprach zuzuhören und sich nie wieder zu äußern, ohne sich angemessen informiert zu haben. Aber das war alles nicht gut genug. Navratilova war und blieb eine transfeindliche Hetzerin."
Archiv: Intercept

Lidove noviny (Tschechien), 21.07.2020

Trotz Coronakrise findet auch dieses Jahr das mitteleuropäische Literaturfestival "Měsíc autorského čtení" (Monat der Autorenlesungen) statt, diesmal mit dem Ehrengast Ungarn. Aus diesem Anlass unterhält sich Radim Kopáč mit dem ungarischen Schriftsteller (und Thomas-Bernhard-Übersetzer) Lajos Parti Nagy über die derzeitige Atmosphäre in Ungarn. "Für einen Schriftsteller dort wird die Luft immer knapper", so Parti Nagy. "Aber er muss so tun, als wäre nichts passiert: im privaten Leben wie in seiner Arbeit. Denn sonst würde er noch das letzte bisschen Freiheit verlieren, das ihm bleibt. Ich bin ein freischaffender Schriftsteller, und niemand sagt mir, worüber und wie ich schreiben soll. In Ungarn existieren immer noch zwei, drei Zeitschriften, die man frei oder, sagen wir, oppositionell nennen könnte, und in denen publiziere ich. Und der Verlag, in dem ich veröffentliche, ist in privater, nicht in staatlicher Hand." In anderen Bereichen sei es schlimmer: "Wäre ich zum Beispiel Theaterregisseur, würde ich mich nicht mehr so viel trauen. Das, was ich hier als Schriftsteller sage, würde dann schon nicht mehr gelten, denn ein Regisseur braucht ein Theater, das Ensemble …" Offiziell existiere zwar keine Zensur, Bücher und Theaterstücke müssen keine Genehmigung passieren, das sei aber auch unter János Kádár so gewesen, und dennoch habe es damals Zensur gegeben. "Etwa achtzig Prozent der Medien befinden sich in Regierungshand. Und in diesen Medien haben regierungskritische Stimmen keinen Platz."
Archiv: Lidove noviny

The Atlantic (USA), 15.07.2020

John McWhorter, der als schwarzer Linker soziale Differenzen als ebenso wichtig ansieht wie Rassismus, liefert eine sehr scharfe Kritik von "White Fragility", einem Buch der weißen Beraterin Robin DiAngelo, das ursprünglich 2018 erschienen war, aber erst jetzt, nach dem Polizeimord an George Floyd, zum Bestseller avancierte. Ihre Vermutung, dass alle Menschen auch unbewusst rassistisch seien, ist richtig, findet er. "Das Problem ist, was nach DiAngelos Meinung daraus folgen muss". Wie eine Sektenführerin so McWhorter, versetze Di Angelo ihre Anhänger in Double binds: Wenn man sagt, man wohnt in einer "üblen Gegend", benutzt man ein Codewort für schwarz. Aber wenn man sagt, man wohnt in einer "schwarzen Wohngegend", ist man Rassist. Und so schickt DiAngelo - die Diversity-Trainerin ist - ihre Kunden auf eine lebenslange Suchmission, an der sie nur scheitern können: "Die Angelo scheint nicht in der Lage zu sein zu fragen, warum diese Seelenerkundung notwendig ist, um die Gesellschaft zu verändern. Man könnte sogar fragen, wie ein Volk den Wandel suchen soll, wenn ihm die ganze Zeit nur beigebracht wird, dass alles, was es sagt oder denkt, rassistisch und darum das Gegenteil von gut ist. Wozu dient diese Selbstgeißelung?  Ungeduldig antwortet DiAngelo auf solche Fragen, dass 'der Wunsch, die harte persönliche Arbeit zu überspringen, um Lösungen zu finden, eine Grundlage der White Fragility ist'. Mit anderen Worten: DiAngelo geht es um das Leiden."
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 16.07.2020

Das ungarische Parlament verabschiedete vor dem EU-Gipfel zum Corona-Hilfspaket, sowie den Verhandlungen für den EU-Haushalt mit der Mehrheit der Regierungspartei Fidesz, einen "Auftrag" an Ministerpräsidenten Orbán, nach dem jegliche Zustimmung des ungarischen Regierungschefs bei den Verhandlungen auf EU-Ebene lediglich unter der Bedingung erfolgen kann, dass die Kommission im Gegenzug das Verfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 - Verletzung der Prinzipien der Rechtstaatlichkeit - aufhebt. Was nach einer Erpressung klingt, analysiert der Politikwissenschaftler Dániel Hegedűs im Gespräch mit Ákos Keller-Alánt als einen großen Verhandlungsspielraum Orbáns, der nicht zuletzt durch das Wohlwollen der deutschen Konservativen gegenüber Orbán möglich wurde. "Deutsche konservative Politiker sind immer noch verblüffend uninformiert was die Situation in Polen und Ungarn betrifft. Ende Juni schrieb der ehemalige Bundesminister Christian Schmidt von der CSU in der FAZ, dass Viktor Orbán es weiterhin verdiene, dass man seine Schritte gutgläubig betrachtet, weil er zum Beispiel das Ermächtigungsgesetz zurückgenommen habe. (...) Allerdings ging er nicht darauf ein, wohin der Dialog mit der ungarischen Regierung in den letzten zehn Jahren geführt hat. Das sind sehr tief wurzelnde Auffassungen, die auch damit zu tun haben, dass Deutschland aufgrund seiner historischer Verantwortung die ost-mitteleuropäischen Ländern nicht in Sachen Demokratie und Menschenrechte belehren darf. Eine Konfrontation wird nach Möglichkeit vermieden, während zum Beispiel die Griechen knallhart für einige Milliarden Euro erdrückt wurden. Jene Positionen, die in Ungarn Orbáns Partei Fidesz vertritt, werden in Deutschland von der rechtsextremen AfD verkörpert. Während die CDU im innenpolitischen Raum diese Positionen für vollkommen inakzeptabel hält und politische Kontakte mit der AfD ablehnt, ist sie bereit über die selben Fragen mit Fidesz einen freundschaftlichen Dialog zu führen. Der rechte Flügel der CDU hat nichts aus den letzten zehn Jahren gelernt, als würde man sein Gedächtnis von Zeit zu Zeit löschen. Sie erinnern sich nicht an den Abbau der ungarischen Demokratie." (Hintergrund:  )
Archiv: Magyar Narancs

Economist (UK), 17.07.2020

Der Economist stemmt sich (leider nur im zahlbaren Bereich) gegen die akademische Linke, der er vorwirft, nur noch darauf zu setzen, Gegner und Kritiker einzuschüchtern. Ausgerechnet im Kampf gegen den Rassismus in den USA sei diese Ideologisierung verheerend, weil sie nicht nur zur weiteren Spaltung des Landes führe, sondern am eigentlichen Problem vorbei: Seit den sechziger Jahren liegt das Einkommen schwarzer Haushalte in den USA unverändert bei sechzig Prozent des Einkommens weißer Haushalte, das Vermögen bei weniger als zehn Prozent. Die Prioritäten müssten also sein: Aufhebung der getrennten Nachbarschaften, bessere Bildung und Kampf gegen die Kinderarmut: "'Es gibt so viele Dinge, die sich nicht ändern werden, wenn wir den Fokus auf Polizeigewalt richten', sagt Clayborne Carson, Historiker an der Stanford University und Herausgeber der Briefe und Schriften von Martin Luther King. 'Natürlich brauchen wir eine Polizeireform, aber das wird die Probleme zwischen Weiß und Schwarz nicht verbessern. Es ist nur die Spitze des Eisberges. Eine höfliche Polizei und Sozialarbeiter sind eine tolle Sache. Aber solange sich die strukturelle Chancenungleichheit nicht ändert, werden wir nicht viel davon haben.' Kinder, die in Armut aufwachsen - was bei 32 Prozent der afroamerikanischen Kinder der Fall ist, eine dreimal höhere Rate als bei weißen Kindern - schneiden oft schlecht ab. Aber Kinder, die in Kommunen aufwachsen, in denen über zwanzig Prozent der Bevölkerung arm sind, schneiden miserabel ab. Egal welcher Hautfarbe laufen solche Kinder Gefahr, als Teenager schwanger zu werden, im Gefängnis zu landen, als Erwachsene ebenfalls in Armut zu leben und früh zu sterben. Für schwarze und indianische Kinder ist die Konzentration der Armut die Norm. Nur sechs Prozent der zwischen 1985 und 2000 geborenen weißen Kinder sind in armen Nachbarschaften aufgewachsen, bei schwarzen Kindern sind es 66 Prozent."
Archiv: Economist

A2larm (Tschechien), 19.07.2020

Ondřej Bělíček bespricht mit dem polnischen Architekturhistoriker Łukasz Stanek dessen Buch über sozialistische Architektur in der Dritten Welt und erfährt dabei, dass die Globalisierung, die wir meistens eher mit dem Kapitalismus verbinden, während des Kalten Krieges auf vielfältige Weise auch über die kommunistischen Ostblockstaaten stattfand. Die Motive dafür reichten von internationaler Zusammenarbeit über Antiimperialismus bis zur wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Es habe sich nicht einfach um eine Fortführung des Kalten Krieges auf erweitertem Terrain gehandelt, bei dem sich afrikanische, arabische oder asiatische Länder entweder für die Abhängigkeit vom Westen oder die vom Osten entschieden, sondern die betreffenden Länder hätten zum Teil sehr gezielt zwischen kapitalistischen und kommunistischen Ländern ausgewählt. "Die nigerianischen Eliten zum Beispiel waren dem Sozialismus feindlich gesinnt", so Stanek, "und luden osteuropäische Architekten und Baufirmen eher deshalb ein, weil sie ein Gegengewicht zum dominanten westlichen Einfluss auf die Entwicklung ihres Landes suchten. (…) Eine ähnliche Motivation finden wir seit Ende der 70er-Jahre auch im Irak oder in den Ländern am Persischen Golf." Auch die gängige Vorstellung von sowjetischer Architektur als schwerfällig, uniform und standardisiert lasse sich nicht ohne Weiteres belegen: "Die Anpassung der Gebäude an die geografischen Gegebenheiten war im Gegenteil ein zentrales Anliegen der sowjetischen Architekten." Für osteuropäische Architekten seien Projekte in Nordafrika und Nahem Osten auch deshalb attraktiv gewesen, weil sie sich dort nicht nur mit der dortigen Baukultur vertraut machen, sondern auch einiges über architektonische Entwicklungen in Westeuropa und Amerika in Erfahrungen bringen, deren Technik und Materialien kennenlernen konnten. "Etliche Architekten, mit denen ich gesprochen habe, erzählten mir, sie hätten damals mit Spannung verfolgt, was die großen amerikanischen Firmen in Bagdad, Kuwait oder Abu Dhabi planten und errichteten." Der Ostblock habe in der Dritten Welt keineswegs einheitlich agiert, die einzelnen sozialistischen Länder standen dort in Konkurrenz zueinander. Stanek zitiert einen ghanaischen Architekten, der damals mit Architekten aus Bulgarien, Ungarn, Polen und Jugoslawien in Accra zusammengearbeitet habe. "Er sagte mir, er erinnere es so gut, weil er es damals zum ersten und zum letzten Mal erlebt habe, dass ein weißer Mann in Ghana einen afrikanischen Chef hatte."
Archiv: A2larm

Wired (USA), 14.07.2020

Sehr ausführlich stellt Garrett M. Graff Trumps Auseinandersetzungen mit dem chinesischen Hi-Tech-Giganten Huawei dar. Eine Säule dieses Kampfes ist der Versuch, Produktionsstätten wieder zum großen Teil auf dem eigenen Boden anzusiedeln: "Auch damit signalisiert Trumps Regierung, dass sie gewillt ist, Feuer mit Feuer zu bekämpfen - im Hinblick mit Angebot und Nachfrage mit wirtschaftlichen Interventionen im fast schon chinesischen Stil, um den Westen von chinesischer Technologie wie Huawei zu entwöhnen. In diesen jüngsten Entwicklungen und angekündigten Maßnahmen liegt eine gewisse Ironie. Eine der großen gescheiterten Annahmen in den letzten zwei Jahrzehnten im Verhältnis des Westens zu China besagte, dass China, wenn es wächst, sich dem Westen angleichen würde - Rechtsstaatlichkeit würde stärker, geistiges Eigentum würde besser geschützt und das Land würde sich produktiv in multilateralen internationalen Organisationen einbringen. Stattdessen verhält sich China geopolitisch einfach ungestümer und tritt autoritärer auf. Um nun diesem China entgegen zu treten, scheint die Trump-Regierung offen dafür zu sein, den Westen China anzugleichen."
Archiv: Wired

A2 (Tschechien), 19.07.2020

A2 begibt sich weiter auf die Spuren des Antifeminismus und führt mit der tschechischen Politologin und Philosophin Zora Hesová ein hochinteressantes Gespräch über reaktionäre Strömungen in Ost und West, aus dem sich hier nur auszugsweise zitieren lässt. Bis auf einige Argumentationslinien der katholischen Kirche sieht Hesová keine einheitliche Ideologie hinter dem neuen Antifeminismus, er zeige sich nicht nur bei Populisten und Faschisten, sondern auch bei Menschen ohne substanzielle politische Ideologie. Konservative Think-Tanks und bürgerliche Lobbyistengruppen, die es besonders in Polen und der Slowakei, in Ungarn und Kroatien, aber auch in Frankreich oder Spanien gebe, hätten "von amerikanischen Erfahrungen gelernt: wenn eine konservative Agenda erfolgreich sein will, darf man sie nicht in religiöser Sprache formulieren und etwa sagen, dass die Liberalen 'sündigten' oder in der Hölle landeten, sondern man muss eine zivile Sprache der Rechte und Freiheiten verwenden. In den USA spricht man seit den 90er-Jahren im Falle von Abtreibungen nicht mehr von der Ermordung von Kindern, sondern von der Verletzung ihres Rechtes auf Leben. In Kampagnen gegen Sexualerziehung in den Schulen wird nicht mehr behauptet, dass man den Kindern 'Sünden' beibringe, sondern dass die Schule in die Entscheidungsrechte der Eltern eingreife, wie die moralische Erziehung ihrer Kinder auszusehen hat. Sich gegen Eingriffe des Staates in die Privatsphäre der Familie zu verwahren, ist aus liberaler Perspektive ein viel schlagenderes Argument als die ewige Verdammnis."
Archiv: A2

London Review of Books (UK), 16.07.2020

Der Ekel vor üblen Gerüchen ist uns nicht angeboren, sondern anerzogen, lernt Keith Thomas aus Robert Muchembleds Kulturgeschichte des Gestanks "La Civilisation des odeurs". Aber dass damit Frauen dämonisiert werden sollten, nimmt Thomas dem französischen Historiker nicht ab. Es waren vielmehr die niederen Stände, die ab dem 17. Jahrhundert verabscheut wurden, seit sich der Adel Parfüms leisten konnte. Bis dahin stanken alle: "Im zehnten Jahrhundert erlaubte der walisische Herrscher Hywel Dda Frauen die Scheidung, wenn ihre Ehemänner Mundgeruch hatten. In späteren Jahrhunderten warnten Benimmbücher Leser davor, bei Tisch die Suppe pustend abzukühlen und so die Sitznachbarn mit ihren Atem zu behelligen. 1579 wurde der Erzdiözese eine Frau aus Essex gemeldet, die sich weigerte, in der Kirche ihren zugewiesenen Platz einzunehmen, weil ihr Nebenmann, einen 'strengen Geruch' hatte. Der Kaplan Königin Annes, der Frau von Jakob I., erklärte, dass 'von allen unangenehmen Gerüchen keiner so abstoßend und unerträglich ist wie der, der einem Männerkörper entströmt... Ganz zu schweigen von dem Schmutz, der aus seinen Ohren, seinen Augen, seinen Nasenlöchern, seinem Mund, seinem Nabel und seinen unsauberen Unterhosen dringt.' Selbst die jakobäischen Bienen reagierten empfindlich auf unangenehme Körpergerüche: Ein Kundiger warnte die Züchter davor, sich einem Stock mit einem stinkenden Atem zu nähern, etwa nach dem Verzehr von Lauch, Zwiebeln, Knoblauch oder Ähnlichem, auch wenn er hilfreich hinzufügte, dass der üble Geruch mit einem Becher Bier behoben werden könne."

Weiteres: Forrest Hylton berichtet mit drastischen Worten, aber etwas unsortiert vom Verschwinden Oppositioneller in Kolumbien, das wieder Ausmaße angenommen habe wie unter Alvaro Uribes Amtszeit zu Beginn der Nuller Jahre: "Die relativ aufgeklärten Eliten der urbanen Modernisierer in Finanz- und Immobilienwelt sind in diesem Horror ebenso zu Komplizen geworden wie die reaktionäre, narko-paramilitärische Gutsbesitzerfraktion in Kolumbiens herrschender Klasse." Pankaj Mishra sieht den Niedergang von "Anglo-Amerika" eingeleitet.

La vie des idees (Frankreich), 14.07.2020

Felipe Brandi führt ein sehr ausführliches und fast trockenes Gespräch mit dem hochrangigen brasilianischen Mediziner Marcello Barcinski über die Corona-Krise in Brasilien. Barcinski betont nicht ohne Stolz, dass es im Gesundheitsministerium des Landes eigentlich eine hohe Kompetenz gibt und dass einige brasilianische Universitäten führend sind bei der Erforschung von Infektionskrankenheiten. Aber da ist auch "ein Präsident der Republik, der völlig unqualifiziert ist, ein Land in der Krise zu führen. Und darum muss Barcinski die Lage so beschreiben: "Das Gesundheitsministerium, das seit dem 15. Mai ohne Minister auskommen muss, versagt total in der Aufgabe, das Land durch die Krise zu führen und Vorgaben zu machen - im Moment steht das Ministerium unter dem Kommando eines Armeegenerals als vorläufigem Minister. Darum sind die verschiedenen Staaten und Kommunen völlig isoliert und müssen jeder für sich eine eigene Politik entwickeln, um die soziale Distanzierung und die Maßnahmen für die Rückkehr zur Normalität zu koordinieren. Es gibt keine Übereinstimmung zwischen der Zentralregierung und den verschiedenen föderalen Niveaus, und diese Divergenz... und der fast völlige Mangel an Information über die Realität der Pandemie haben zu einer enormen Verwirrung in der Bevölkerung geführt. Brasilien ist ohne Zweifel eines der Länder, die die Krise am schlechtesten managen."

Rest of World (USA), 14.07.2020

Kaum ein Land baut solchen Karriere-Druck auf wie Südkorea, erfahren wir von Ann Babe: Wer sich in der Schule nicht konsequent anpasst, an der Uni keine Glanzleistungen hinlegt, im Job nicht buckelt und nicht früh heiratet, gelte rasch als Sonderling. Aber kein Druck ohne Gegendruck: In der Subkultur der honjok drückt sich ein biografischer Gegenentwurf aus - bewusst alleine und für sich leben, kein Fokus auf Erfolg in einem entfremdeten Arbeitsverhältnis, mehr Zeit für kreative Selbstverwirklichung, sozialer Kontakt idealerweise unter Gleichgesinnten und am besten via App und Netz. Längst stellt der Trend einen Wirtschaftsfaktor dar: "Überall im Land versuchen Firmen sich auf diesem lukrativen Markt zu etablieren. Banken bieten Single-Haushalt-Kreditkarten an. E-Commerce-Anbieter bieten 'honjok' als eigenständige Kategorie in ihrem Sortiment an und vermarkten dort Angebote wie kleine Waschmaschinen, Mehrzweck-Möbel und für eine Person ausgelegte Geschirr-Sets. Nachbarschaftsläden, von den honjok sehr geschätzt, weil es sie fast überall gibt und sie kleinere Rationen verkaufen, fahren Sonderangebote und bewerben Fertiggerichte und alkoholische Getränke in kleinen Portionen. Bars und Restaurants versprechen, dass sie Gäste, die alleine kommen, nicht komisch ansehen, und für honjok zugeschnittene Etablissements richten Tische extra für diese Bedürfnisse ein. Spezialisierte Karaoke-Bars verfügen über individuelle, mit Münzen betriebene Kammern. Kinos richten Sitzreihe für Single-Plätze ein. Fernsehshows wie 'I Live Alone' und 'Drinking Solo' werfen einen Blick ins Leben der honjok und Nachrichtenseiten wie 1conomy News decken exklusiv Aspekte eines auf sich alleine gestellten Lebens ab."
Archiv: Rest of World
Stichwörter: Südkorea, Einsamkeit, Möbel

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.07.2020

Der Dichter und Literaturhistoriker (Universität Debrecen) János Áfra spricht mit Jozsef Lapis anlässlich seines aktuellen intermedialen Projekts "Termékeny félreértés/ productive Misreadings" über das Zusammenwirken unterschiedlicher Gattungen als Chance für die Lyrik: "In einen erweiterten Lyrikbegriff passen - öfter als zeitgenössische Gedichte - auch mit klassischen poetischen Mitteln versehene Liedertexte genau so wie visuelle Dichtungen. Das wird von der rezipierenden Gemeinschaft geformt, die jeweils andere Vorstellungen über Grenzen der Dichtungssprache hat. Die Gesten der Ausgrenzung und der Akzeptanz sind beide zielorientiert. Auf alle Fälle schafft aber der Dialog mit einer anderen künstlerischen Ausdrucksform eine Möglichkeit zur Erkennung der (eigenen) Eigenheiten und zum Perspektivenwechsel. Viele bedeutende lyrische Leistungen rufen eine ähnliche Verwirrung bei dem sich an die Genregrenzen klammernden Leser hervor, wie z.B. bei einem ungewöhnlichen Versuch zwischen Kunstgattungen, bei dem der gesprochene lyrische Text lediglich eine Komponente ist." (Hier ein Gedicht von Áfra.)

New York Review of Books (USA), 23.07.2020

In der neuen Nummer des Magazins versucht Namwali Serpell, mit Hilfe der 1978 entstandenen Fotografien von Ming Smith das Mysterium des 1914 in Alabama geborenen Jazzmusikers Sun Ra, geboren Herman Poole Blount, zu ergründen: "Sein Jazz oszilliert wild von Wirrwarr zu Melodie, reitet Dissonanzen in Harmonien, jagt dahin zwischen sprudelnden Noten und plötzlicher Stille - die Synkope, die einen Rhythmus zu einem Rhythmus macht. Sun Ras Kunst in all ihren Erscheinungen bietet diese Herausforderung für seine schwarzen Hörer: Wenn wir alle nichts sind, sondern nur Mythen, warum das nicht in Form übersetzen? Warum nicht glitzernde schwarze Materie erschaffen, glitzernde schwarze Materie sein? … Glaubte Sun Ra tatsächlich, er wäre früher einmal zum Saturn transmaterialisiert worden? Wollte er wirklich seine schwarzen Brüder und Schwestern retten, indem er sie ins All schickte? … Egal. Sun Ra hat niemals einen Rückzieher gemacht und erklärt, alles sei nur ein Witz gewesen. Mit seinen Strategien der Unterlassung verwandelte er einen 'Nigger' in einen 'farbigen Intellektuellen' in einen Gott, machte aus Luft Gold, wurde groß, lebender Mythos, Mensch unter Menschen, ein freundliches Prisma. Das ist es, was die schillernden dunklen Fotografien Ming Smiths von Herman Blount, Sonny, Le Sony'r Ra, Sun Ra enthüllen. Er ist der Junge, der 'Feuer' schrie, er ist das Feuer selbst, er ist das schimmernde Dazwischen."

Für einen musikalischen Einstieg: Sun Ra und sein Intergalactic Arkestra 1972:



Außerdem: Jason DeParle bespricht Bücher, die sich mit dem Problem der Kinderarmut befassen. Und Mark Mazower stellt Biografien über den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm vor.
Stichwörter: Sun Ra