Magazinrundschau

Weder Mann noch Frau, weder Hund noch Katze

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.09.2020. Wired düst mit MEGA-Antrieb in andere Sonnensystemen. High Country News erzählt, wo es derzeit richtig heiß wird. Complex hört Glitchcore, das ist Musik von Menschen, die noch jünger sind als die jüngsten Millennials. Die London Review erblasst vor dem radikalen Feminismus Nathalie Sarrautes. Der Guardian beschreibt die gruselige Operation Condor. Und: Hunger macht fett, lernt die New York Times.

Wired (USA), 03.09.2020

Was wäre die Welt ohne durchgeknallte Wissenschaftler? Auf jeden Fall beträchtlich ärmer an Irrwitz. Jim Woodward zum Beispiel, den Daniel Oberhaus porträtiert, hat es sich nach etwas, das er für eine UFO-Sichtung hält, in den Kopf gesetzt, einen Weg zu finden, wie sich andere Sonnensysteme erreichen lassen könnten, ohne dass für den Reiseweg alleine schon zum nächsten Nachbarn ein paar tausend Jahre veranschlagt und erhebliche Mengen an Treibstoff durch den Kosmos transportiert werden müssen: den MEGA-Antrieb. Wie soll das gehen? Sein Modell basiert nicht "auf Treibstoff, sondern auch Elektrizität, die im All von Solarflächen oder einem Atomreaktor kommen könnte. Seine Einsicht beruht auf einem Stapel piezoelektrischer Kristalle und einigen kontroversen - seiner Ansicht nach aber plausiblen - physikalischen Annahmen, um Schub zu generieren. Der Stapel Kristalle, die kleinste Mengen Energie speichern, vibriert zehntausende Male pro Sekunde, wenn sie mit elektronischer Stromstärke aufgeladen werden. Einige der Schwingungsfrequenzen harmonisieren sich, wenn sie durch das Gefährt gehen. Und wenn die Oszillationen sich genau richtig synchronisieren, bewegt sich das kleine Gefährt vorwärts. Das klingt jetzt nicht gerade nach dem Schlüssel, der das Geheimnis interstellarer Reisen öffnet, aber wenn der kleine Ruck verstetigt werden kann, könnte ein Raumschiff theoretisch solange Schub produzieren, wie es elektrischen Strom hat. Es würde nicht schnell beschleunigen, aber kontinuierlich für eine sehr lange Zeit bis es schließlich eine Geschwindigkeit erreicht, die es quer durch die Galaxie sausen lässt. Ein Atomreaktor an Bord könnte das Gefährt für Jahrzehnte mit Energie versorgen. Sollte Woodwards Gerät funktionieren, wäre es das erste Antriebssystem, das es denkbar erscheinen lässt, ein anderes Sonnensystem in der Lebenszeit eines Astronauten zu erreichen."
Archiv: Wired

High Country News (USA), 01.09.2020

Dieser Sommer wird auch in Arizona in die Annalen eingehen. Die erste "excessive heat warning" kam am 26. April, sechs Wochen früher als im letzten Jahr. Die Temperaturen können in der Wüste bis zu 50 Grad erreichen. Sie lösen auch immer mehr Busch- und Waldbrände aus, schreibt Jessica Kutz in einem alamierenden Report in den High Country News, einer auf den amerikanischen Westen fokussierten gemeinnützigen Zeitschrift, die gerade ihr fünfzigstes Jubiläum feiert: "Die Rekordtemperaturen und großen Waldbrände waren der Hintergrund für die anderen Spannungen dieses besonders stressigen Sommers. Arizona war eines der Epizentren der Coronavirus-Pandemie; bis August gab es mehr als 4.000 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19. Am 25. Mai, am selben Tag, an dem George Floyd in Minneapolis getötet wurde, wurde in Phoenix ein junger Schwarzer namens Dion Johnson von einem Polizeibeamten in seinem Auto erschossen. Daraufhin besetzten Demonstranten in Arizona die Straßen und stießen mit der Polizei zusammen. Bei einer Veranstaltung, die von 'Black Lives Matter' in Tucson ausgerichtet wurde, erreichte die Temperatur 39 Grad. Freiwillige mit Gesichtsmasken trugen Rucksäcke mit Wasser, mit dem sie die Demonstranten besprühten. Die Epidemien sind alle miteinander verbunden: In Arizona und im ganzen Land sind die Gemeinden, die Polizeigewalt erleben, auch mit den höchsten Covid-19-Raten, den höchsten Arbeitslosenquoten - und den meisten Hitzeschäden konfrontiert. Für viele fühlt sich schon die Gegenwart recht dystopisch an."

168 ora (Ungarn), 05.09.2020

Tamás Somlymosi ist Intendant des Staatsballetts an der Ungarischen Staatsoper und steht immer wieder in der Kritik, weil er die Inszenierungen nicht öfter mit ungarischen Nachwuchstänzern besetzt. Im Interview mit Eszter Herskovits erklärt er, warum das nicht so einfach ist: "Wenn, sagen wir mal, Messi in irgendeiner ungarischen Fußballmannschaft spielen wollte, würden wir uns darüber nicht freuen? Um beim Ballett zu bleiben, wenn der Star des Moskauer Bolschoi bei uns tanzt, ist das schlecht? Wenn ein Tänzer aus einer Schule kommt, die als Hochburg des Balletts gilt, stärkt uns das auch hier (...) Als ich mich beim Staatlichen Ballettinstitut bewarb, wählte man aus tausend Jungen und zweitausend Mädchen jeweils zwölf aus. Wenn heute gleich welche Schule zum Probetanzen aufruft, freut man sich, wenn 50 bis 60 Kinder zusammenkommen. Es ist natürlich nicht sicher, dass alle fünfzig genommen werden und es ist bei weitem nicht sicher, dass all Angenommenen auch dabeibleiben. Aber es ist nicht das gleiche, ob man aus fünfzig oder aus tausend ein Talent aussucht. Es nicht angenehm für mich, in einer Abschlussaufführung zu sitzen, in der es keinen einzigen Jungen als Abschlusskandidaten gab. Wie soll ich da ungarische Jungen anheuern? Und selbst von den angeheuerten Mädchen haben die Hälfte ausländische Wurzeln. Als was zählen sie dann? Ein bisschen ausländisch oder sehr ausländisch? Oder wo ist das Problem?"
Archiv: 168 ora
Stichwörter: Ungarn

Complex (USA), 13.08.2020

"Glitchcore" nennt sich das neueste heiße Ding aus der weiten Welt des Internet-Undergrounds und der Microgenres: Ständig auf die 12, Spaß ohne Ende, kurze Aufmerksamkeitsspanne und eine nostalgische Verklärung der Sounds der 00er-Jahre - so in etwa lauten die Koordinaten dieser Netzkultur, deren Protagonisten im Grunde noch nicht mal Digital natives oder noch Millennials, sondern bereits eine spätere Generation darstellen: Leute, die nicht nur mit dem Web, sondern mit dessen audiovisuellen Overkill aufgewachsen sind. Kieran Press-Reynolds hat sich in dieser Welt, die erst seit ca. Ende 2019 so richtig Wellen schlägt, auf TikTok entstanden ist und ihre Heimat auf Soundcloud gefunden hat, umgesehen. Eine gemeinsame ästhetische Eigenart hat er nicht ausmachen können, vielmehr "hat es den Anschein, dass die hyperintensive, sich fortlaufend verschiebende Natur dieser Musik in die künstlerische Praxis selbst einzuschreiben scheint - die Obsession, mit der diese Künstler jegliche Komponente ihrer Musik zur Perfektion treiben, ist bewundernswert. ...  Ohne TikTok hätte es diese Szene wohl nicht gegeben. Aber es ist kein Zufall, dass gerade ein Stück wie 'Pressure' auf der App derart viral einschlug. In den letzten Jahren hat sich TikTok zu einem Labor für bizarre Sounds gemausert. 'Pressure' war beinahe schon auf TikTok-Appeal zugeschnitten. Von den gefakten Orgasmustrillern in den Stimmen bis zum nervigen Streifenhörnchen-Gequietsche funktioniert alles wie ein Mem: eine instant einschlagende, ansteckende, aufmerksamkeitsheischende Rakete. Und doch - und genau das ist der Punkt - ist das nicht einfach nur ein Gag-Song, der einen mit dem Arsch voran ins Gesicht springt. Einige Elemente von 'Pressure' mögen bekloppt oder quietschig wirken, aber im Ganzen betrachtet ist das Stück ziemlich mitreißend - eine Extradosis Zucker, voller kräuselnder Melodien und kurzgeschlossener Schmachtpassagen. ... Diesen Künstlern ist es gleich, ob ihre Musik dümmlich klingt oder das Thema kitschig tönt, solange die Stücke so richtig hart knallen. Das ist auch der Grund dafür, warum sie sehr aufgeschlossen dafür sind, mit Nightcore-Gesang, Glitch-Effekten und desorientierenden Genre-Zusammenstößen zu experimentieren." Wir hören rein:

Archiv: Complex

London Review of Books (UK), 10.09.2020

Nathalie Sarraute hätte den Nobelpreis bekommen müssen anstelle von Claude Simon, meint Toril Moi ganz entschieden, schließlich war sie die große Pionierin des coolen Modernismus, lange bevor Simon, Michel Butor und Alain Robbe-Grillet ihre antipsychologischen, antirealistischen nouveau romans verfassten. Ganz hervorragend findet Moi auch Ann Jeffersons Biografie "A Life Between". Nur warum wird Sarraute dann heute nicht mehr gelesen? Warum nicht mehr gelehrt? "Ich selbst unterrichte sie auch nicht. Ich bin Feministin und auf Simone de Beauvoir spezialisiert und ich mag besonders gern Beauvoirs Roman 'Die Mandarine von Paris' von 1954, den Sarraute verabscheute... Sarrautes Verhältnis zum Feminismus ist kompliziert. In den dreißiger Jahren kämpfte sie zusammen mit der Sozialistin und Anwältin Maria Vérone für das Frauenwahlrecht (das 1944 gewährt wurde). Aber Sarraute hasste 'Identitätsgerede'. Ihr Schreiben untersuchte und pflegte das Unpersönliche, Anonyme, Antipsychologische, das Allgemeine im Gegensatz zum Besonderen. Allein die Idee, eine weibliche Autorin zu sein, war für Sarraute unvorstellbar. 'Es ist ein schwerwiegender Fehler', sagte sie einmal, 'besonders für Frauen, von Frauenliteratur oder Männerliteratur zu sprechen. Es ist Literatur, Punkt.' Als die écriture feminine 1984 auf dem Höhepunkt ihrer Popularität stand, fasste sie ihre radikal anti-identitätspolitische Haltung mit den Worten zusammen: 'Wenn ich schreibe, bin ich weder Mann noch Frau, weder Hund noch Katze.' Bei Sarraute geht es nie um Frauen, Weiblichkeit oder geschlechtliche Unterschiede. Wer für seine Literaturseminare eine späte Modernistin braucht, wird wahrscheinlich Marguerite Duras vorziehen. Kürzlich legte Annabel Kim in 'Unbecoming Language' nahe, Sarrautes Ablehnung der Identitätspolitik als ein Engagement für radikale Gleichheit zu lesen, auf eine Art, die den Feminismus einer Monique Wittig oder Anne Garréta antizipiert haben könnte."

Weiteres: Ian Penman zeigt sich ziemlich genervt vom Kult um Kraftwerk: "Ihre futuristische Vision sieht heute ziemlich blass aus: Die Roboter, die sie manchmal benutzen, um sich selbst auf der Bühne zu ersetzen, sind spürbar vordigital, und wir haben heute auch einen anderen Begriff von Bots und ihrer bösartigen Wirkung." Christian Lorentzen sucht nach Joe Bidens politischem Feuer.

New Yorker (USA), 14.09.2020

In der neuen Ausgabe des Magazins macht sich Hua Hsu Gedanken darüber, wer im digitalen Zeitalter an der Kreativität verdient. Die Kreativen jedenfalls nicht: "Früher war es leicht, mit dem Finger auf die großen Verlage und Labels zu zeigen, die Gewinne einsackten, heute kämpfen sie selbst ums Überleben. Es gibt heute mehr Menschen denn je, die Bücher schreiben und Musik machen, und mehr Wege, potenzielle Fans zu erreichen. Jeder Post auf Twitter oder TikTok ist ein einfacher, kostengünstiger Kanal in die Öffentlichkeit für Filmemacher, Comedians oder Schauspieler. In 'Der Tod des Künstlers: Wie Kreative im Zeitalter der Miliardäre und Big Tech ums Überleben kämpfen' überlegt der Kritiker William Deresiewicz, wie wir in die Lage gelangen konnten, in der es einfacher denn je ist, Kreativität mit der Welt zu teilen und schwieriger denn je, davon zu leben. Er befragte rund 140 Autoren, Musiker, Künstler und Filmemacher über ihre Erfahrungen in der Kreativwirtschaft. Die meisten verbrachten überproportional viel Zeit damit, ein kleines Business zu betreiben und Aufmerksamkeit zu erhalten durch Selbstvermarktung. Sogar etablierte Künstler arbeiten mitunter gratis, nur für Publicity."

In einem anderen Beitrag wägt Joshua Yaffa die Gefahr einer erneuten Einflussnahme Russlands auf die Präsidentschaftswahlen in den USA gegen die Gefahr der alltäglichen Desinformation durch den Präsidenten himself ab: "Desinformation aus Russland existiert, so gab es zu Beginn der Covid-Pandemie auf russischen Kanälen in den sozialen Medien Theorien über das Virus als Biowaffe des US-Militärs gegen China. Aber verglichen mit Tucker Carlson und Sean Hannity von Fox News oder Trump selbst, ist die empfundene Bedrohung durch russische Trolle weitaus größer als ihr tatsächlicher Einfluss. Wie effektvoll können russische Versuche noch sein, die Briefwahl als betrugsanfällig darzustellen, wenn der Präsident ebendiese These dauernd in ohrenbetäubender Lautstärke herausposaunt?"

Weiteres: Laura Miller liest Susanna Clarkes neuen Fantasyroman "Piranesi". Calvin Tomkins porträtiert Pipilotti Rist. Peter Schjeldahl betrachtet im Clark Art Institute in Williamstown, Massachusetts, die Ausstellung "Lines from Life: French Drawings from the Diamond Collection". Anthony Lane sah im Kino Christopher Nolans "Tenet".
Archiv: New Yorker

Hospodarske noviny (Tschechien), 06.09.2020

Vor wenigen Tagen starb der tschechische Filmemacher, Schauspieler und Oscarpreisträger Jiří Menzel, dessen frühes Werk zur tschechoslowakischen Nouvelle Vague zählt und dessen erfolgreichste Filme Adaptionen vor allem der literarischen Werke von Bohumil Hrabal und Vladislav Vančura waren. Matej Slávik betont die "freundliche und mitfühlende Poetik" von Menzels Filmen und zitiert dessen Ausspruch: "Die Dinge müssen mit Leichtigkeit entstehen, man muss so natürlich arbeiten, wie man atmet." Als Beispiel dafür nennt Slávik Vančuras Novelle "Ein launischer Sommer", die wegen der blumig-archaischen Sprache darin eigentlich als unverfilmbar gegolten habe. Menzel habe die sperrigen Sätze mit Aufnahmen ausgeglichen, "in denen eigentlich nichts passiert, in denen lediglich die Wasseroberfläche des Flusses 'spielt', der Regen oder die nassen Gläser auf dem Tisch." Menzel habe hier zu einem "fragilen Gleichgewicht zwischen Humor und Poesie" gefunden.
Stichwörter: Menzel, Jiri, Nouvelle Vague

Himal (Nepal), 01.09.2020

Nach der Gleichschaltung der Kaschmir-Region betreibt Indien auch eine Politik der Kolonisierung und des Bevölkerungsaustauschs, die die Region im Sinn des Hindunationalismus radikal umgestaltet, schreibt Maknoon Wani: "Indien schaffte mit dem 'Jammu and Kashmir Reorganisation Act' im letzten Jahr auch ein 37 Jahre altes Gesetz ab, das die Rückkehr der Einwohner von Jammu und Kashmir ermöglichte, die zwischen 1947 und 1954 nach Pakistan geflohen waren. Jetzt haben Einwohner von Jammu, die 1947 nach Pakistan geflohen waren, kein Recht mehr, in ihre Heimat zurückzukehren. Dagegen können sich Inder, die seit 15 Jahren in der Region leben oder dort sieben Jahre lang studiert haben..., nun problemlos um einen staatlich bescheingten Wohnsitz bewerben und sich in der Region niederlassen. Bis Juni 2020 sind bereits 25.000 Meldebescheinigungen ausgestellt worden. Solche Gesetze schaffen die Grundlage, um die Bevölkerung von J & K zu unterwerfen."
Archiv: Himal

Guardian (UK), 03.09.2020

"Operation Condor" klingt wie ein Film, war aber tatsächlich das Netzwerk, zu dem sich die Militärdiktaturen Lateinamerikas in den siebziger und achtziger Jahren zusammengeschlossen hatten, um ihre Folterknechte und Todesschwadronen auch über die Landesgrenzen schicken zu können. Giles Tremlett verfolgt die Spuren dieser Operation, über die in den vergangenen Jahre immer mehr Informationen ans Licht kamen. Zum Teil weil immer mehr italienische Gerichte alte Fälle aufgreifen, zum Teil weil Barack Obama Geheimdienstdokumente freigegeben hat. Hunderte Menschen wurden allein im Rahmen der Operation Condor verschleppt, gefoltert und ermordet: "Obwohl die Agenten der Operation Condor ihre Opfer in allen beteiligten Staaten jagten, konzentrierten sie sich vornehmlich auf Argentinien, das den Exilanten der Diktaturen als Zuflucht diente, bis es selbst unter Militärherrschaft fiel. Die von Uruguay oder Chile nach Argentinien entsandten Condor-Schwadronen nutzen eine Reihe von provisorischen Gefängnissen und Folterzentren, die ihnen ihre Gastgeber zur Verfügung stellten ... Condor-Opfer wurden etwa in den Club Atlético gebracht, der Codename für den Keller eines Polizeidepots in Buenos Aires. Hier wurde im Juli 1977 auch die 18-jährige Laura Elgueta mit verbundenen Augen gebracht, zusammen mit ihrer Schwägerin Sonia, nachdem bewaffnete Chilenen und Argentinier sie aus ihren Wohnungen entführt hatten. Zu jener Zeit suchte Elguetas chilenische Familie - die im argentinischen Exil lebte, ihren Bruder Kiko, einen Aktivisten, der ein Jahr zuvor in Buenos Aires verschwunden war. 'Wir wussten, dass er verschleppt worden war, aber das war alles', sagt Elgueta. Im Auto wurde sie sexuell, physisch und verbal malträtiert. Im Club Atlético ging es weiter - dort wurden die Frauen entkleidet und in Handschellen gelegt, ihnen wurden Kapuzen übergezogen und die Nummer K52 und K53 gegeben. 'Wer vorbeikam, beleidigte uns, schlug zu oder warf uns auf den Boden', erinnert sich Elgueta. Sie konnten hören, wie andere Gefangene in Ketten vorbeiliefen. Die chilenischen Folterer machten keine Anstalten, ihre Nationalität zu verbergen, ihre Vernehmungen konzentrierten sich auch ganz auf die chilenische Exilgemeinde in Argentinien. Immer wieder wurden die Frauen in den Folterraum gebracht. Wieder Schläge, Vergewaltigung, Elektroschocks. 'Sie sagten so was wie: Jetzt kann die Party richtig losgehen.' Auch wenn man es weiß und immer wieder liest, kann man sich nicht vorstellen, wozu Menschen fähig sind. Es war ein Haus des Schreckens', sagt Elgueta. 'Als meine Schwägerin aus einem Verhör kam, hatten sie ihr so starke Elektroschocks gegeben, dass sie noch immer zitterte.'"
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.09.2020

Élet és Irodalom druckt die Rede nach, die der Schriftsteller, Dramatiker und Dozent der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE), Gábor Németh,  bei einer Demonstration von Studenten gegen die Änderungen der Trägerschaft sowie der Neubesetzung der Institution durch die Regierung (mehr dazu hier) gehalten hat: "Der Ministerpräsident beendet gemäß seinem Versprechen, was er angefangen hat: nach der Zerstörung der Autonomie in der Wirtschaft, in der Politik, in der Rechtsprechung, in den Medien, in den Wissenschaften, in der Kultur und in der Bildung, folgt jetzt die Auflösung der restlichen Autonomie der Universitäten. (...) Eigentlich verstehe ich es nicht, nein ich verstehe es gar nicht, warum die Ungarn schweigen (den wenigen Ausnahmen gebührt Respekt). Warum sagen sie kein einziges Wort zu dem, was passiert? Warum schweigt die gesamte Hochschulleitung? Glauben sie vielleicht, dass ihnen nichts passieren kann? Warum schweigt die ungarische Rektorenkonferenz?"

New York Times (USA), 06.09.2020

Im aktuellen Magazin der New York Times folgt Adrian Nicole LeBlanc den Spuren des Hungers, nicht etwa in Afrika, sondern mitten in den USA: "Ernährungsunsicherheit sieht heute nicht mehr aus wie eine dürre Mutter im Zelt oder rachitische Kinder. Es sieht aus wie Fastfood, Diabetes, Fettleibigkeit und Bluthochdruck. Die Pandemie hat die Anfälligkeit einer hoch zentralisierten Lebensmittelindustrie aufgezeigt und uns einen Einblick gewährt in die prekären Existenzen all der Produzenten, Bauern, verarbeitenden Firmen und Zulieferern, die uns mit Essen versorgen. Die Pandemie hat auch gezeigt, wie nah wir dem Abgrund sind. Sie hat die Ernährungsunsicherheit verschärft. Die Heilsarmee berichtet über einen Anstieg von ausgegebenen Lebensmittelhilfen um 84 Prozent seit vergangenem Jahr. Meals on Wheels nennt einen Anstieg von 47 Prozent." Dazu gibt es ein Portfolio mit Aufnahmen der Fotografin Brenda Ann Kenneally.

Ein anderer Beitrag von David Chrisinger in einem Dossier mit unbekannten Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert an Edgar Kupfer-Koberwitz, der als Gefangener in Dachau heimlich Tagebuch führte: "Kein Detail war ihm zu unwichtig oder zu grausam. Dank ihm wissen wir, dass die SS gerne das Lager-Orchester zum Appell aufspielen und die erschöpften Häftlinge singen ließ. Es klang wie ein 'Beerdigungswalzer', schrieb er. Er beschrieb den Lagerarzt, der todkranke Häftlinge zwang, die Arme und Hände wie in Habachtstellung anzulegen. Er hielt fest, was geschah, wenn ein Häftling dem Todeszaun zu nahe kam … Mit all den schlaflosen Nächten, in denen er die Geschichten seiner für immer verschwundenen Mithäftlinge aufschrieb, verhalf er ihnen zu einem zweiten Leben."
Archiv: New York Times