Magazinrundschau

Amnesie ist keine Lösung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.11.2020. Wired denkt über Impfstrategien nach. Bei Eurozine überlegt der Schriftsteller Arnon Grunberg, wie man vergangenes Unrecht in eine bessere Zukunft ummünzen kann. Die London Review bewundert die Eleganz der Giraffe und staunt über ihre ausgeprägte Homosexualität. En attendant Nadeau liest Larissa Reissners Buch über den Arbeiteraufstand in Hamburg 1923. Warum es etwas anderes ist, ob man in der Lyrik oder im Roman die Hosen runterlässt, erklärt Ádám Nádasdy in Elet es Irodalom. Nach der Ächtung der Abtreibung werden Frauen jetzt auch bei Fehlgeburten kriminalisiert, lernt die NYRB.

Wired (USA), 10.11.2020

Die Nachrichtenlage zum Corona-Impfstoff entwickelte sich in den letzten Tagen sehr erfreulich. Da mit einer global flächendeckenden Impfung mangels Ressourcen und Infrastruktur fürs Erste wohl nicht zu rechnen ist, stellt sich die Frage nach der epidemiologisch sinnvollsten Strategie. Dass man besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen als erste immunisiert, klingt zunächst sehr menschenfreundlich und legt einem der gesunde Menschenverstand auch nahe. Und da andere Lösungen wohl zu aufwändig oder mit dem Datenschutz nicht vereinbar wären, wird es letztendlich darauf wohl auch hinauslaufen, schreibt Christopher Cox. Anregend sind seine Überlegungen über alternative Impfstrategien aber dennoch: Ausgehend von der epidemiologischen Faustregel, dass 80 Prozent aller Ansteckungen auf lediglich 20 Prozent aller Infizierten zurückzuführen sind, wäre es sinnvoll, potenzielle Superspreader zuerst zu impfen. Problem natürlich: Wie diese idenfizieren? "Und selbst wenn eine Strategie, diese ausfindig zu machen, reibungslos funktionieren würde, könnte sie zu Ergebnissen führen, die sich moralisch fragwürdig anfühlen. Mal angenommen, man impft geradlinig durch, hat aber zwei mögliche Kandidaten. Der erste studiert am College, betreibt kein Social Distancing, trägt seine Atemmaske lediglich unter dem Kinn und spielt das ganze Wochenende auf Undergroundpartys Beer Pong mit seinen Kumpels. Kandidat Nummer zwei ist eine 87 Jahre alte, verwitete Großmutter, die alleine lebt und seit März kaum vor der Türe war. Besteht Dein Ziel darin, die Person mit dem höheren Risiko zu schützen, ginge der Impfstoff an Großmutter. Wenn Dein Ziel darin besteht, die Übertragungsraten zu senken, sollte man den Partykumpel impfen. Aus Perspektive der Gesellschaft ist er ein Volltrottel. Aus Perspektive des Netzwerks ein Hauptumschlagplatz."
Archiv: Wired

Eurozine (Österreich), 12.11.2020

Der niederländische Schriftsteller Arnon Grunberg prüft , wie man sich mit Kontroversen über vergangenes Unrecht auseinandersetzen könnte, um in der Zukunft zu besseren politischen Entscheidungen zu gelangen: "Die Vergangenheit hat uns fest im Griff. Als ein Ort der Ungerechtigkeiten könnte man sie fast als ein 'Anderswo' betrachten, das nicht in Vergessenheit geraten und irgendwie 'repariert' werden sollte. Die Geschichte der Sklaverei etwa. Vergangenheit als Reservoir der Ungerechtigkeit wird in den USA teilweise aus Bequemlichkeit in der Black Lives Matter-Bewegung zusammengefasst. Ein anderes gutes Beispiel ist der Zweite Weltkrieg. Für andere ist die Vergangenheit eher eine vergangene Ära der Nostalgie mit großen Errungenschaften, die es heute nicht mehr gibt. Nehmen wir den Begriff 'Goldenes Zeitalter'. Er wurde von niederländischen Politikern instrumentalisiert, um das 17. Jahrhundert als Blüte der niederländischen Republik zu kennzeichnen. Wie sich also zur Vergangenheit verhalten? Mir scheint es unmöglich und sogar falsch, sich davon zu lösen. Amnesie ist keine Lösung. Ob die Vergangenheit ein Quell der Scham und Schuld ist oder des Trostes und der Nostalgie, stets geht es um die Schlüsse, die wir aus ihr ziehen und unsere Entschlossenheit dabei, schon allein deshalb, weil die heute so genannte Gruppenidentität auf eine Sammlung von Schlussfolgerungen aus dem Vergangenen reduziert werden kann, in die noch ein paar Rituale, Bräuche und Geschichten einfließen …Wie man Ungerechtigkeit verhindert und mit welchen Begriffen, ist eine politische Frage. Vergangenheit ist kein neutraler Ort. Sogar wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, wo Gut und Böse so eindeutig getrennt scheinen, gibt es Deutungskämpfe. Das ist unerlässlich. Politik ist nicht nur ein Ringen um die Gestaltung der Zukunft, sondern auch um die Deutung der Vergangenheit, weil dies der Nährboden ist, aus dem künftige Erwartungen und Ideale erwachsen."
Archiv: Eurozine

168 ora (Ungarn), 11.11.2020

Im Interview mit Zsuzsanna Sándor spricht die Dramatikerin, Regisseurin Andrea Pass über die schwierige Situation der freien Künstler, die in der zweiten Welle der Pandemie  ohne staatliche Unterstützung auskommen müssen. "Die Mehrheit der freiberuflichen Schauspieler muss ihr Überleben mit unglaublich viel Arbeit sichern. Um sie bin ich am meisten besorgt. Für sie sind die Einschränkungen eine finanzielle Katastrophe. Die Branche müsste sich schleunigst zusammensetzen und darüber beraten, was getan werden muss und wie wir unsere Interessen gemeinsam vertreten können. Das hätten wir nach der ersten Welle tun müssen. Es ist auch unser Fehler, dass wir uns auf diese jetzige Situation nicht vorbereitet haben. (...) Die Zuschauer sind höchstwahrscheinlich in einer ähnlich schlimmen Situation wie wir, vielleicht haben sie gerade ihre Arbeit verloren. Und warum sollen sie ausgerechnet uns unterstützen, wenn vom Gesundheitswesen bis zur Bildung fast alle auf solche private Unterstützung angewiesen sind? Es wäre die Aufgabe des Staates die freien Künstler in Zeiten der Pandemie zu unterstützen."
Archiv: 168 ora

London Review of Books (UK), 19.11.2020

Katherine Rundell huldigt in einem ihrer schönen Tierporträts der Eleganz der Giraffe, über die Europäer in Verzückung geraten, seit Kleopatra Cäsar eins der Tiere als Geschenk mitgab. Sie werden bis zu fünf Meter groß werden und bringen es auf eine Geschwindigkeit von 40 Meilen pro Stunde, wobei sie aber häufig über ihre eigenen langen Beine stolpern: "Wir wissen nicht, woher sie ihre Gestalt haben. Bis vor Kurzem wurde ihr langer Hals so erklärt, wie Darwin es nahegelegt hatte: Die 'Hypothese konkurrierender Laubfresser' postuliert, dass Konkurrenten wie Impalas und Kudus die stetige Verlängerung des Halses vorantrieben, und es der Giraffe so erlaubten, an Futter zu gelangen, an das andere nicht heranreichten. Es hat sich jedoch gezeigt, dass Giraffen relativ selten Nahrung in voller Höhe suchen, und je langhalsiger die einzelnen Tiere, desto eher sterben sie in Hungerzeiten. Möglicherweise gibt ein langer Hals männlichen Tieren einen Vorteil in Dominanzkämpfen - bei denen sie ihre Hälse gegeneinander schwingen. In den nächsten Jahren wird dazu sicher mehr geforscht werden: Dominanzkämpfe führen oft zu sexuellen Aktivitäten zwischen den rivalisierenden Männchen. Tatsächlich ist der meiste Sex bei Giraffen homosexuell: In einer Studie machten gleichgeschlechtliche Besteigungen 94 Prozent des gesamten sexuellen Verhaltens aus. Aber was auch immer die Ursache sein mag, der lange Hals hat seinen Preis. Jedesmal wenn sich eine Giraffe mit gespreizten Beinen zum Trinken herunterbeugt, strömt das Blut in ihr Hirn; beim Beugen hält die Halsvene das Blut aus dem Kopf heraus, damit sie nicht in Ohnmacht fällt, wenn sie sich wieder aufrichtet. Selbst wenn es reichlich Wasser gibt, trinken Giraffen nur alle paar Tage. Eine Giraffe zu sein ist schwindelerregend."

Weiteres: Ende Oktober hatte Colm Toibín Venedig fast für sich allein, er nutzte die menschenleere Stadt, um sich in allen möglichen Kirchen Tintorettos Kreuzigungen anzusehen. Adam Schatz fürchtet, dass Donald Trump die amerikanische Demokratie nachhaltig geschwächt hinterlässt.

En attendant Nadeau (Frankreich), 11.11.2020

Larissa Reissner, Fotograf unbekannt.
Ein Buch über den Arbeiteraufstand in Hamburg 1923, fehlgesteuert von der KPD. In Frankreich wird so etwas noch übersetzt, in Deutschland erschien das Buch zuletzt vor ein paar Jahren an entlegener Stelle, aber man kann "Hamburg auf den Barrikaden - Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923", auch in der Gutenberg-Edition lesen. Larissa Reissner (oder Reisner) gehörte zum Hochadel des frühen Kommunismus, erzählt Jean-Jacques Marie, Trotzki widmete ihr entzückte Seiten in seinen Memoiren, liiert war sie bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1926 mit dem legendären Kommunisten und späteren Stalin-Opfer Karl Radek. 1923 schrieb sie ihre Reportage über den Hamburger Aufstand - die Hamburger Arbeiter wollten Revolution machen und wussten nicht, dass die Partei die Aktion schon abgeblasen hatte. Es gab 21 Tote. "Reissner verbindet eine dramatische, manchmal poetische Erzählung der Episoden dieses gescheiterten Aufstands mit einer minuziösen Beschreibung des Lebens der Arbeiter und vor allem der Arbeiterinnen, die allzu häufig der Gewalt ihrer Männer ausgesetzt sind, besonders wenn diese keine Arbeit haben. Es gelingt ihr, dieser abgebrochenen Aktion eine epische Dimension zu geben und den Hamburger Hafen als eine monströse Maschinerie zu zeichnen, wo 'nicht ein Qudratzentimeter nackten Bodens übrigbleibt' und wo auf dreißig Kilometern Ausdehnung nur zwei todkranke Bäumchen wachsen."

New York Times (USA), 15.11.2020

Im neuen Heft macht sich der Autor Ben Ehrenreich auf die Suche nach Menetekeln für eine zerfallende Gesellschaft. Dazu trifft er Joseph Tainter, Autor des Buches "The Collapse of Complex Societies": "Das große Bild, das Tainter malt, ist düster. Unsere Kreativität, die außergewöhnliche Fähigkeit unserer Spezies, sich selbst zu organisieren, um Probleme gemeinsam zu lösen, führt uns direkt in die Falle, aus der es kein Entkommen gibt. Komplexität ist heimtückisch, meint er. 'Sie wächst in kleinen Schritten, von denen jeder für sich zunächst vernünftig wirkt.' Und dann fällt alles auseinander, und man fragt sich, wie das geschehen konnte … Die Pandemie hat vielen von uns eine Ahnung davon gegeben, was passiert, wenn die Gesellschaft die an sie gestellten Herausforderungen nicht bewältigt, wenn die Entscheidungsträger sich nur um ihre eigenen Probleme kümmern. Die Klimakrise wird uns noch weiter fordern … Schließen wir die Augen und öffnen sie wieder - die periodisch wiederkehrenden Auflösungserscheinungen, die unsere Geschichte prägen, all die zerfallenden Ruinen, sie lösen sich auf und etwas anderes kommt in den Blick: Findigkeit, Sturheit und die vielleicht stärkste menschliche Eigenschaft: Anpassungsfähigkeit. Unsere Fähigkeit, uns zu verbünden und kreativ auf neue und schwierige Verhältnisse zu reagieren, ist möglicherweise kein tragischer Fallstrick, wie Tainter es sieht, keine Geschichte, die im Kollaps enden muss. Vielleicht ist es, was wir am besten können. Ist der eine Weg eine Sackgasse, probieren wir einen anderen, versagt ein System, bauen wir ein neues. Wir bemühen uns, es anders anzugehen, und machen weiter. Wie immer haben wir keine Wahl."
Archiv: New York Times

New Statesman (UK), 13.11.2020

Donald Trump ist Geschichte, seine Rückzugsgefechte dienen nur noch dazu, möglichst viel Straffreiheit auszuhandeln, glaubt John Gray in einem Rundumschlag gegen linke und rechte Gewissheiten. Aber auch unter Joe Biden werden die USA nicht so schnell aus der tiefen Krise kommen, in der sie politisch, moralisch und juristisch stecken, warnt er. Vierzig Jahre Liberalismus, so Gray, haben dem Land postindustrielle Ödnis eingebracht, die Opioidkrise, eine unvergleich mächtige Waffenlobby, die Zerrüttung der Institutionen, eine allumfassende Verschwörungskultur und einen nahezu religiösen Kampf um Identitäten und Werte: "Amerikanische und europäische Werte scheinen auseinanderzudriften. Einige amerikanische Liberale sahen in der Enthauptung eines Lehrers in Frankreich durch einen Islamisten keinen unverzeihlichen Angriff auf die Meinungsfreiheit, wie Emmanuel Macron es ganz richtig beschrieb. Stattdessen sollte sich darin das Scheitern des französischen Integrationsmodells zeigen. Die implizite Botschaft lautet, dass Amerikas Multikulturalismus von Europa und wahrscheinlich auch überall sonst adoptiert werden sollte. Seltsamerweise scheint dies auch die Ansicht jener Liberalen zu sein, die Amerika für unverbesserlich rassistisch halten. Aber jenseits der amerikanischen Küste sieht niemand mehr in den USA ein globales Modell. Wie sollten Amerikas Werte universal sein, wenn sich Amerikaner selbst in einem Krieg über ihre Werte befinden? Wenn der amerikanische Universalismus früher verärgerte Ablehnung erfuhr, dann ruft er heute nur spöttisches Gelächter hervor."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.11.2020

Im Interview mit Bálint Kovács spricht der Sprachwissenschaftler, Lyriker und Übersetzer Ádám Nádasdy anlässlich der Veröffentlichung seines ersten Prosabandes über die Unterschiede der Komposition der (gleichgeschlechtlichen) Liebe in der Lyrik und in der Prosa. "Das Gedicht ist wie eine Bleistiftzeichnung: ich ziehe paar Linien, schon heißt es: oh, ein Liebespaar! Die Prosa ist mehr wie ein Foto: man muss überlegen, was im Hintergrund ist, man muss das Zimmer mit Gegenständen einrichten und man muss wissen, welche Farbe die Augen der Figuren haben. Das ist wirklich nicht einfach, ich kann doch nicht schreiben: "Wie geht es deinem Vater, dem pensionierten Apotheker?" (...) Ein Freund von mir fragte einst: Wo würdest du im Buchladen gern deine Bücher stehen sehen: bei der Schwulen- und Lesbenliteratur oder bei der Belletristik? Was hätte ich antworten können: in beiden. (...) In meinen Gedichten habe ich die Paare oft nicht spezifiziert - nicht weil ich tricksen wollte, sondern weil ich dachte, dass Liebe Liebe ist, Treue Treue und Kummer Kummer. Doch in der Prosa gibt es kein Entkommen, wenn man die Hose runterlässt, dann muss man zeigen, was man hat."

New York Review of Books (USA), 03.12.2020

Ob Frauenrechte und insbesondere Abtreibungsrechte in den USA gewährleistet sind, hängt weniger vom Supreme Court ab als von den einzelnen Bundesstaaten, erklärt Madeleine Schwartz. Und die haben Abtreibungen vielfach nicht nur praktisch unmöglich gemacht, sie sind auch zunehmend darauf aus, Frauen vor Gericht zu zerren, die wegen angeblich persönlichen Fehlverhaltens eine Fehlgeburt erlitten haben. Betroffen sind vor allem arme Frauen: "Unser Rechtssystem ist mehr und mehr gegen sie aufgestellt. Da die Müttersterblichkeit, oft aufgrund einer Kombination aus Armut und einem kaputten Gesundheitssystem, zugenommen hat - und die Müttersterblichkeit in den USA ist bereits sehr viel höher als in den meisten Industrieländern, insbesondere unter schwarzen Frauen -, haben Politikerinnen den rechtlichen Schutz von Föten gesetzlich verankert. Jedes Jahr werden fast ein Dutzend solcher Gesetze erlassen. Die Regierung verfolgt Frauen immer eifriger - sei es, weil sie Abtreibungen vornehmen lassen oder den Zugang zu Abtreibungen erleichtern oder einfach einen Schwangerschaftsverlust erleiden, der die Vorstellung der Staatsanwälte vom Verlauf einer Schwangerschaft sprengt. ... Bei vielen Frauen, die schwanger sind, gilt jedes Problem oder jeder Verlust, der auftritt, potenziell als eine kriminelle Handlung. Jahrzehntelang waren schwarze und braune Frauen das Ziel der Gesetze für die Gefährdung von Föten; diese Fälle fanden in der Presse relativ wenig Beachtung. Laut Lynn Paltrow, der Gründerin und leitenden Anwältin der NAPW, sind es jetzt weiße Frauen, die Drogen konsumiert haben, die mit größerer Wahrscheinlichkeit verhaftet werden. 'Seit 2005 sind die meisten Verhafteten Frauen mit niedrigem Einkommen, weiße Frauen vom Land', sagt sie, fügt jedoch hinzu, dass schwarze und braune Mütter im gesamten Strafrechtssystem nach wie vor unverhältnismäßig stark ins Visier genommen werden."