Magazinrundschau

Dann bin ich fertig mit dem Denken

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.11.2020. Der New Yorker lernt von Zimmermann Mark Ellison die Intelligenz des Körpers schätzen. Die London Review liest haitianische Geschichte von haitianischen Autoren. Lidove noviny stellt die tschechische Künstlerin Olga Karlíková vor, die Töne zeichnete. Elet es Irodalom nimmt teil am Forum der Liebe. In The Nation fragt Pankaj Mishra, warum afroamerikanische Intellektuelle so wenig internationale Solidarität zeigen. Africa is a country erzählt die Geschichte Äthiopiens. The Atlantic schildert das Drama hinter der Diskussion um die Abtreibung behinderter Föten.

London Review of Books (UK), 23.11.2020

Über zweihundert Jahre war der Blick auf die Geschichte Haitis geprägt von europäischen Zeugnissen. Noch vor vierzig Jahren fanden Historiker keinen Verlag, wenn sie mit haitianischen Quellen arbeiteten, hält Pooja Bhatia fest. Zum Glück ändert sich das gerade, und Bhatia kann eine Reihe von Büchern empfehlen - neben Julius S. Scotts endlich veröffentlichter Geschichte der haitianischen Revolution "Common Wind" auch Johnhenry Gonzalez' "Maroon Nation". Maroons sind eigentlich entkommene Sklaven, im Kreolischen bezeichnet der Begriff aber auch Menschen, die sich nicht festnageln lassen. Gonzalez zeigt in aller Klarheit, meint Bhatia, wie falsch die Entscheidung von Haitis großem Revolutionär Toussaint Louverture war, auch nach der Abschaffung der Sklaverei an der Plantagenwirtschaft festzuhalten: "Die Landarbeiter wurden nach wie vor als Eigentum des Staates betrachtet. Selbst nach der Unabhängigkeit 1804 waren die Lebensbedingungen so drakonisch, dass es mehr Maroons gab als vor dem Aufstand von 1791. Haitis politische Führer wussten um die symbolische Bedeutung von Peitsche und Ketten, sie vermieden ihren Gebrauch. Louverture, Jean-Jacques Dessalines und Henri Christophe waren allesamt selbst Sklaven gewesen. Trotzdem trieben die Aufseher die Landarbeiter gewaltsam an. Wer zu behaupten wagte, dass auch eine Rute eine Peitsche sei oder das neue Agrarsystem der Sklaverei ähnelte, konnte auf Louvertures Anordnung hin verhaftet werden. Und während Louverture einerseits um die Rückkehr weißer Plantagenbesitzer warb, konsolidierte er andererseits seine Macht auf Santo Domingo, indem er verlassene Anwesen an seine Rebellen-Offiziere vergab. Nach seinem Tod verfolgten Dessalines und Christophe eine ähnliche Linie, versuchten aber stärker, die weiße Plantokratie durch eine einheimische zu ersetzen. Für die meisten Haitianer machte es keinen Unterschied, ob die Plantagenbesitzer schwarz, weiß oder gemischt waren, ob sie sich für französisch, britisch oder haitianisch hielten, oder ob das System Sklaverei, Landarbeit oder militarisierte Landwirtschaft hieß. Es kam darauf an, nicht mehr Teil davon zu sein."

A2larm (Tschechien), 23.11.2020

Seit einem Monat, seit dem Beschluss des Verfassungsgericht über ein verschärftes Abtreibungsverbot, finden in Polen die größten gesellschaftlichen Proteste seit 1989 statt, und zwar nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Provinz. Die Soziologin Ludmiła Władyniak spricht in ihrem Beitrag von einem nie gesehenen Werteaufruhr. "Die katholische Kirche als traditioneller Hauptakteur des polnischen öffentlichen Lebens verliert allmählich ihren Einfluss auf die Gesellschaft." Ihre Position werde schwächer, auch durch die sich mehrenden Berichte Betroffener, die in ihrer Kindheit von Kirchenmännern sexuell missbraucht wurden. "Eine nicht geringe Rolle spielt dabei eine kürzlich ausgestrahlte Fernsehdokumentation, die die Ohnmacht der staatlichen Verwaltung in Polen gegenüber der Kirche aufzeigte. Ganz Polen erfuhr dadurch, dass der engste Mitarbeiter des Papstes Johannes Paul II., sein persönlicher Sekretär, der emeritierte Krakauer Erzbischof und Kardinal Stanisław Dziwisz, aktiv an der Vertuschung von Pädophiliefällen beteiligt war. Die Sendung hat eine große und in Polen bisher nie dagewesene Debatte über den Beitrag Johannes Pauls II. zur Herausbildung und Bewahrung solcher pathologischer Mechanismen innerhalb der katholischen Kirche losgetreten." Vergangenen Mittwochabend nun habe die Regierung eine Grenze überschritten, so Ludmiła Władyniak, als die Polizei in den Warschauer Straßen eine völlig unangemessene physische und verbale Agressivät gegen die Demonstranten bewies, Tränengas anwendete und Provokateure unter die Protestierenden schleuste. "Dass es sich um einen Krieg handelt, daran zweifelt wohl keine der beiden Seiten mehr. Die Regierungspartei versinkt immer mehr im Pandemiechaos und der Werteverunsicherung, die mit dem moralischen Fall der katholischen Kirche einhergeht, und ihre Politik bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Zu einer Zeit, in der ihr immer öfter die Unfähigkeit zu regieren vorgeworfen wird, hat sie beschlossen, die verbale Gewalt, mit der sie bislang die Gesellschaft unterfüttert hat, in reale Gewalt umzuschmieden. Als hätte sie den letzten Respekt vor der Bevölkerung verloren, die ihr das demokratische Mandat zum Regieren verlieh."
Archiv: A2larm

New Yorker (USA), 30.11.2020

In einem Artikel der aktuellen Ausgabe stellt Burkhard Bilger Mark Ellison vor, den gefragtesten Zimmermann New Yorks. Ein Mann für Millionäre, der aus einem Brooklyn-Townhaus einen Jugendstil-Traum zaubern kann oder das Studio 54. Ein Renaissancemensch, der alle Tricks seiner Profession kennt und immer wieder neue erfindet, wie Bilger lernt. Ellison erklärt ihm seine Arbeitsweise, während er seinem Mitarbeiter Caine Budelman zeigt, wie man mit einer Tischsäge - die eigentlich nur zum geradeaus Sägen gedacht ist - Kurven in flache Pappelbretter sägt. "Der Trick besteht darin, erklärt Ellison, die Säge falsch herum zu benutzen. Er schnappt sich ein Brett von einem Stapel auf seiner Bank. Anstatt es vor die Zähne der Säge zu legen, wie es die meisten Schreiner tun würden, legt er es neben die Zähne der Säge. Dann, während der verblüffte Budelman zuschaut, gibt er dem Sägeblatt einen Drehschwung und schiebt das Brett ruhig hinein. Einige Sekunden später hat das Brett eine glatte, halbmondförmige Einkerbung. ... Ellison ist jetzt in Schwung  und führt das Brett immer wieder in die Säge, die Augen fixieren den Fokus und bewegen sich weiter, während die Klinge sich um einige Zentimeter aus seinen Händen dreht. Während er arbeitet, hört er keine Sekunde auf zu reden - Anekdoten, Nebenbemerkungen und Erklärungen für Budelman. Was er am meisten an der Tischlerei liebe, sei die Art und Weise, wie sie der physischen Intelligenz des Körpers freien Lauf lasse, sagt er. Als er als Kind die [Baseballmannschaft] Pirates im Three Rivers Stadium beobachtete, staunte er darüber, wie Roberto Clemente wusste, wohin ein Ball fliegen würde. Er schien seinen genauen Bogen und seine Beschleunigung in der Sekunde zu berechnen, in der er den Schläger verließ. Es war nicht so sehr Muskelgedächtnis als vielmehr eine körperliche Analyse. 'Der Körper weiß einfach, wie man es macht', sagte er. 'Er versteht Gewicht, Hebelwirkung und Raum so, dass Ihr Gehirn ewig brauchen würde, um das herauszufinden. Es ist dasselbe Gefühl, das Ellison sagt, wo er einen Meißel ansetzen sollte oder ob noch ein weiterer Millimeter Holz entfernt werden muss. 'Ich kenne diesen Zimmermann namens Steve Allen', sagt er. 'Eines Tages drehte er sich zu mir um und sagte: 'Ich verstehe das nicht. Wenn ich diese Arbeit mache, muss ich mich konzentrieren, und du redest dir den ganzen Tag den Mund fusselig.' Das Geheimnis ist, dass ich nicht denke. Ich denke mir etwas aus und dann bin ich fertig mit dem Denken. Ich kümmere mich nicht mehr um mein Gehirn.'"
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 24.11.2020

Das Violinkonzert von Beethoven ist am schwierigsten, behaupten im Interview mit Judit Rácz die beiden als Ausnahmentalente geltenden Violinisten Kristóf Baráti und Barnabás Kelemen, "denn es braucht sowohl musikalischen Überblick, als auch technisches Können auf höchstem Niveau", sagt Kristóf Baráti. "Viele sagen, und ich stimme ihnen zu, dass niemand ein komplizierteres Konzertstück schrieb. Ich kann mir vorstellen, dass ein Violinist hervorragend Tschaikowsky, Schumann, Bartok, Prokofjew oder sonst jemand spielen kann und doch scheitert mit Beethovens Violinkonzert."  Hier ein kleiner Eindruck von Baratis Beethoven.
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 22.11.2020

Im neuen Heft untersucht Doug Bock Clark den boomenden Graumarkt für P.P.E. Einwegatemschutzmasken in den USA: "Anfang 2020 kamen viele der benutzten Masken aus China. Klinikausrüster kauften sie in großen Mengen und ließen sie mit Containerschiffen in die USA kommen und passten das Angebot genau an die kalkulierte Nachfrage an, für Klinikverwaltungen ein nahezu unsichtbarer Prozess. Jede Maske kostet um ca. 65 Cent, der globalisierte Handel damit lief für alle befriedigend. Doch als die Pandemie die Handelskanäle infizierte, wurden die Vorteile der Globalisierung zu Schwachstellen. Als die USA die Masken am nötigsten brauchte, gab es schwerwiegende Engpässe. Die chinesische Produktion stockte und die bedarfsorientierte Versorgungskette, die auf eine unmittelbare Lieferung baute, zerbrach. Baystate Health zum Beispiel (eine Klinikkette in Massachusetts, d Red.) verbrauchte auf einmal fünfzehnmal so viele Masken im Monat wie sonst. Und neue Lieferanten waren schwer zu finden. Neue Produktions- und Lieferketten aufzubauen, würde Monate dauern. Für die Wirtschaft ist so ein Vakuum ein No-go, und weil die Masken bald einen zehnfachen Marktpreis hatten, füllten Spekulanten die Lücke und etablierten einen Graumarkt … Manche von ihnen brüteten die Idee zum lukrativen Maskenhandel an einer Bar in Schanghai aus. Manche waren einfach inkompetent und konnten ihre Lieferversprechen nicht halten. Ein Händler ohne Expertise aber mit einer 34-Millionen-Dollar-Bestellung vom Kriegsveteranenministerium flog mit einem gemieteten Jet und einem Reporter von ProPublica los, um eine Lieferung abzuholen, die es gar nicht gab … Bis Mai untersuchte das Ministerium für Innere Sicherheit 370 Fälle von Masken-Betrug. Das Geschäft mit den Masken war so profitabel geworden, dass internationale Verbrecherorganisationen von Menschen- und Drogenschmuggel auf Masken umsattelten."

Außerdem: Theodore R. Johnson erkundet die Herausforderungen eines "schwarzen Patriotismus" in den USA. Im Gespräch erklärt der Cellist Yo-Yo Ma, wie und wo er nach dem Sinn des Lebens fahndet. Und Jonah Weiner stellt David Finchers neuen Film "Mank" vor.
Archiv: New York Times

The Nation (USA), 24.11.2020

Im Interview mit Daniel Steinmetz-Jenkins bürstet Pankaj Mishra linksliberale Intellektuelle als generell rechts und vom großen Geld abhängig ab. Interessanter ist sein Blick auf die schwarzen Intellektuellen in den USA. Die BLM-Bewegung und Autoren wie Ta-Nehisi Coates finden zwar seine Zustimmung, aber es gibt auch Kritik am Provinzialismus vieler afroamerikanischer Intellektueller und Künstler: "Selbst ein sensibler und intelligenter Schriftsteller wie Coates bringt die afroamerikanische Erfahrung nicht mit der Geschichte Asiens und Afrikas in Verbindung. In der Vergangenheit waren afroamerikanische Führer und Künstler - W.E.B. Du Bois, Nina Simone, Richard Wright, der nach Bandung reiste und über Bandung schrieb, und viele andere - sehr daran interessiert, solidarische Beziehungen zu Völkern aufzubauen, die anderswo gegen ethnischen Rassismus kämpften. Viele Nichtamerikaner erwarten natürlich, dass die BLM-Bewegung, die in mancher Hinsicht wunderbar effektiv ist, eine solide internationalistische Ausrichtung hat, zumal sich die USA in den letzten Jahrzehnten noch tiefer und katastrophaler in die Angelegenheiten anderer Länder verstrickt haben. Ich frage mich, ob es hier einen Graben zwischen den Generationen gibt. Muhammad Ali hat sich geweigert, in Vietnam zu kämpfen, aber Spike Lees neuer Film über afroamerikanische Soldaten in Vietnam zum Beispiel enthält einige der schrecklichsten amerikanischen Klischees über die Vietnamesen und nicht-weiße Ausländer im Allgemeinen. Der Leiter des '1619 Project' der New York Times behauptete kürzlich in einem Tweet, dass Afroamerikaner 'im Ausland für Demokratie kämpfen'. Ein solch naiver Amerikanismus ist auffällig, nicht zuletzt wegen der außerordentlichen internationalen Solidarität für BLM, die leider nicht erwidert wird."
Archiv: The Nation

Lidove noviny (Tschechien), 22.11.2020

Abb. aus dem Katalog zur Ausstellung
Das Prager Museum Kampa zeigt eine Retrospektive der tschechischen Künstlerin Olga Karlíková (1923-2004). Als frühe Unterzeichnerin der Charta77 hatte Karlíková in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht viele Ausstellungsmöglichkeiten und blieb lange recht unbekannt - was diese Ausstellung (die wegen Corona wohl verlängert wird) ändern möchte. Ihr Markenzeichen, erklärt der Kunsthistoriker Jiří Machalický, sei in Grafiken und Gemälden das Aufzeichnen von Tönen gewesen, ihr Anschwellen und Abebben, der wandelbare Rhythmus von konkreten Vogelarten oder der Geräusche, die ein ganzer Vogelschwarm von sich gibt. "In ihrem zarten Strich, der unglaublichem Geduld, ihrem Einfallsreichtum und auch der Demut vor der Natur näherte sie sich der asiatischen Kalligrafie an." Aber auch ihre Wahrnehmung von Musik (von Barock bis Moderne) drückte sie in ihren Arbeiten visuell aus. Zu jener Zeit, so der Kunsthistoriker Jiří Machalický, sei diese Verbindung auditiver Eindrücke mit visuellen Mitteln sowohl in ihrem Land als auch international einzigartig gewesen.
Archiv: Lidove noviny

Africa is a Country (USA), 01.11.2020

Äthiopien droht erneut in Bürgerkrieg zu versinken. Da ist dieser Artikel Pflichtlektüre für alle Auslandsredakteure deutscher und internationaler Zeitungen! Geduldig erzählt Solen Feyissa die äußerst komplexe Geschichte Äthiopiens als eine Geschichte der Narrative über die äthiopische Nation. Zunächst legt er dar, wie alt diese Geschichte ist, denn das Königreich Äthiopien bezog sich auf uralte Texte, die eine Abstammung des Landes von König Salomon behaupteten. Die äthiopisch orthodoxe Kirche ist ebenfalls äußerst wichtig für das Narrativ von äthiopischer Einheit. Aber Äthiopien zerfällt zugleich in viele unterschiedliche Ethnien. Zwei historische Kontrahenten benennt Feyissa, den Kaiser und Modernisierer Menelik und den Revolutionär Walleligne Mekonnen. Der eine steht für den Pan-Äthiopismus, der andere für den Ethno-Nationalismus. Beide Narrative sind nach wie vor in Äthiopien sehr stark. Von den Ethnonationalisten wird die Politik von Premier Abiy Ahmed misstrauisch beäugt, besonders von den Tigray, aber auch von den Oromo im Süden. Hinzu kommt nun die neue Situation, in der sich alle Parteien über soziale Medien äußern. Wie gefährlich die Spaltung zwischen den beiden Lagern ist, zeige die Reaktion auf die Ermordung des Oromo-Sängers Hachalu Hundessa im Juni 2020 (mehr hier): "Dieser Vorfall belegt ihre Tendenz, jedes Ereignis in der Weise zu interpretieren, dass ihr eigenes Narrativ unterstützt wird. Wie es im Post-Truth-Zeitalter der sozialen Medien leider üblich wurde, scheint jede der Eliten ihren eigenen Wahrheitsfilter zu benutzen, ganz gleich, wie die Fakten vor Ort aussehen. So dass direkt nach Hachalus Tod die Eliten beider Lager sofort in die sozialen Medien gingen, um ohne Beweise zu spekulieren, wer den Sänger erschossen haben könnte."

Guernica (USA), 11.11.2020

Dreiviertel aller Menschen, die aus Nordkorea nach China fliehen, sind Frauen. Ein Großteil von ihnen wird, meist ohne dass sie es zunächst ahnen, von Menschenhändlern Prostitutionsringen zugeführt. Annie Hylton hat nachgeforscht, wie dieser hohe Frauenanteil zustande kommt und ist auf die erschütternde Position von Frauen in der nordkoreanischen Gesellschaft gestoßen: "2018 veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht mit den Aussagen von 54 Frauen, die seit Kim Jong-Uns Machtaufstieg vor rund einem Jahrzehnt aus Nordkorea geflohen sind. Auch sprach die Organisation mit Beamten, die bis zu ihrer eigenen Flucht für die Regierung gearbeitet haben. Dem Bericht zufolge sind sexualisierte und gender-basierte Gewalt Alltag. Unter den Tätern befinden sich hochrangige Parteibeamte, Wärter in Gefängnissen und Gewahrsamsanstalten, Vernehmungsbeamte, Polizisten und Geheimdienste, Staatsanwälte und Soldaten. Im Juni 2018 besuchte ich Kim Seok-Hyan, eine Professorin am Insitut für Nordkoreastudien an der Ewha Womans University in Seoul. Bis dahin hatte sie seit 2010 etwa hundert nordkoreanische Frauen interviewt. Sie erzählte mir, dass 'jede' von ihnen Missbrauch durch Beamte beschrieben hatte. Die Hälfte der Frauen sagten ihr, dass sie auch zuhause Gewalt erlebt haben, die sie nie zur Anzeige gebracht hätten, zum Teil deswegen, weil ihnen das als so 'selbstverständlich' vorkam, dass ihnen eine Anzeige gar nicht erst in den Sinn gekommen sei, zum Teil aber auch, um so wenig Kontakt wie möglich zur Polizei zu haben, die gefährlich sein kann. Polizeibeamte sind dem Alltag der Leute sehr nahe, erklärte sie, und eine Frau hat häufig keine Wahl als 'zu versuchen, unterwürfig zu sein, um sich selbst zu schützen'. Anderenfalls, sagte sie, 'wird man getötet'."
Archiv: Guernica

Elet es Irodalom (Ungarn), 20.11.2020

Der Kritiker und Publizist, sowie Hochschullehrer an der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE) György Báron berichtet über den vorerst letzten Protestabend von Studierenden und Lehrpersonal der SZFE vor der aufgrund der Pandemie verhängten nächtlichen Ausgangssperre. Damit ist der über siebzig Tage dauernde Protest gegen die Umwandlung der Universität vorläufig beendet. Ob und in welcher Form die Proteste weitergehen, werden die kommenden Tage zeigen. "Der letzte Abend vor der Ausgangssperre. (…) Das 'Forum der Liebe' hält an. Die Teilnehmenden erzählen auf dem Dachboden Geschichten aus der Vergangenheit der Schule, über alte Kollegen und Lehrer, die andern online. Die Stimmung ist hervorragend, alle lachen, niemand ist traurig. Es gibt auch keinen Grund dazu. Alle wissen genau, dass sie gewonnen haben. Diese 72 Tage kann niemand von ihnen nehmen. Sie lernten mehr als bei allen Unterrichtsstunden, bei Praktika oder von irgendeinem Professor. Sie haben gekostet, was in diesem Lande selten und nur für wenige erreichbar ist: die kristallklare Luft der Freiheit und der Demokratie. Eine solche Erfahrung gibt lange Kraft, vielleicht ein Leben lang, das wissen sie auch. Und sie wissen, dass ein ganzes Land etwas von ihnen gelernt hat: Anstand und Mut. Dieses Erlebnis nehmen sie und die Universität mit."

The Atlantic (USA), 01.12.2020

Vielleicht erleben wir gerade die letzte Generation von Kindern mit Down-Syndrom. Denn die pränatale Diagnostik sorgt dafür, dass immer weniger Kinder mit Behinderung geboren werden, erzählt Sarah Zhang, die in ihrem Artikel aber auch die Frauen im Blick hat, auf denen zumeist die Hauptbürde der Entscheidung lastet: Ob sie abtreiben oder nicht, sagt ja auch immer etwas über sie aus, gerade weil es heute mehr Wahlmöglichkeiten gibt als früher. "Die zentrale Bedeutung der Wahlmöglichkeit für den Feminismus bringt ihn auch in einen unbequemen Konflikt mit der Behindertenrechtsbewegung. Anti-Abtreibungsaktivisten in den USA haben dies aufgegriffen und in mehreren Bundesstaaten Gesetze zum Verbot selektiver Abtreibungen wegen des Down-Syndroms eingebracht. Feministische Behindertenforscherinnen haben versucht, den Konflikt zu lösen, indem sie argumentierten, dass die Wahl überhaupt keine wirkliche Wahl sei. 'Die Entscheidung, einen Fötus mit einer Behinderung abzutreiben, auch weil es 'einfach zu schwierig ist', muss respektiert werden', schrieb Marsha Saxton, die Forschungsdirektorin am World Institute on Disability, 1998. Aber Saxton nennt es eine Entscheidung, die 'unter Zwang' getroffen wurde, und argumentiert, dass eine Frau, die mit dieser Entscheidung konfrontiert wird, auch heute noch eingeschränkt ist - durch populäre Missverständnisse, die das Leben mit einer Behinderung schlechter machen, als es tatsächlich ist, und durch eine Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen feindlich gegenübersteht. Und wenn weniger Menschen mit Behinderungen geboren werden, wird es für diejenigen, die geboren werden, schwieriger, ein gutes Leben zu führen, argumentiert Rosemarie Garland-Thomson, eine Bioethikerin und emeritierte Professorin an der Emory Universität. Weniger Menschen mit Behinderungen bedeuten weniger Dienstleistungen, weniger Therapien, weniger Ressourcen. Sie erkennt aber auch, dass diese Logik das gesamte Gewicht einer inklusiven Gesellschaft auf die Schultern einzelner Frauen legt."
Archiv: The Atlantic