Magazinrundschau

In der Krise ist hartes Licht gefragt

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
22.12.2020. Kunst mag politisch sein, meint Peter Schjeldahl im New Yorker. Aber politische Kunst mag auch ein Verfallsdatum haben. Himal staunt über die einst charmante Stadt Dhaka, die zur schwindelerregenden und brutalen Metropole wurde. In Tablet ärgert sich Tony Badran über den Orientalismus der linken Eliten. BBC bringt neue Erkenntnisse über die Ausbeutung der Uiguren auf Baumwollplantagen. In Magyar Narancs erklärt der Sohn von Péter Esterházy , warum sich die Familie entschieden hat, die Archive des Autors nach Berlin zu geben. In TLS kommt Caryl Phillips auf den Windrush-Skandal zurück.

BBC Magazine (UK), 22.12.2020

Die BBC hat Dokumente gesehen, die offenbar belegen, dass China gezielt Uiguren und Vertreter anderer Minderheiten zur Zwangsarbeit auf den chinesischen Baumwollfeldern einsetzt. Mehr als eine Million Menschen arbeiten in diesen Lagern, die China zu "Berufsschulen" deklariert hat, berichtet John Sudworth. Geplant war das offenbar schon länger: "Eine im August 2016 von der Regionalregierung von Xinjiang herausgegebene Mitteilung über die Verwaltung der Baumwollpflücker weist die Beamten an, 'ihre ideologische Erziehung und die Erziehung zur ethnischen Einheit zu stärken'. Ein Propagandareport, den Dr. Zenz gefunden hat, erklärt, dass die Baumwollfelder eine Gelegenheit bieten, das 'tief verwurzelte, faule Denken' der armen, ländlichen Dorfbewohner zu verändern, indem man ihnen zeigt, dass 'Arbeit glorreich ist'. Solche Sätze spiegeln die Ansicht des chinesischen Staates wider, dass der Lebensstil und die Bräuche der Uiguren ein Hindernis für die Modernisierung darstellen. Der Wunsch, zu Hause zu bleiben und 'Kinder zu erziehen', wird in einem anderen Propagandabericht über die Vorteile des Baumwollpflückens als 'wichtige Ursache für Armut' beschrieben. Der Staat sorgt für 'zentralisierte' Betreuungssysteme für Kinder, alte Menschen und Vieh, so dass jeder 'ohne Sorge arbeiten gehen kann'. Und es gibt viele Hinweise darauf, wie die mobilisierten Baumwollpflücker Kontrollen und Überwachung unterworfen werden, die offenkundig im Widerspruch zu jeder normalen Beschäftigungspraxis stehen. Ein Grundsatzdokument aus Aksu vom Oktober dieses Jahres legt fest, dass die Baumwollpflücker in Gruppen transportiert und von Beamten begleitet werden müssen, die 'mit ihnen essen, leben, lernen und arbeiten und aktiv Gedankenerziehung während des Baumwollpflückens betreiben'."
Archiv: BBC Magazine
Stichwörter: China, Zwangsarbeit, Uiguren, Xinjiang

New Yorker (USA), 28.12.2020

Liubov Popova: Kleiderproduktion für Schauspieler No. 7 (Prozodezhda aktera No. 7). 1922, datiert 1921
Peter Schjeldahl denkt anlässlich der Ausstellung "Engineer, Agitator, Constructor: The Artist Reinvented, 1918-1939" im Moma darüber nach, was es bedeutet, wenn Kunst einem ideologischen Zweck dienen will, wie es in der Zwischenkriegszeit in Europa und vor allem Russland so oft der Fall war. Und natürlich sieht er auch die Parallelen zu heute: "Kunst, die nicht von der Persönlichkeit beeinflusst ist, wirkt steril. Das muss kein Versagen sein. Es kann eine klarsichtige Entscheidung aus Prinzip sein. Es gibt viele Dinge, die wichtiger sind als Kunst. Heute beschäftigen Fragen der rassischen und sozialen Gerechtigkeit zahlreiche Künstler. In der Krise ist hartes Licht gefragt; weg mit den Mondstrahlen. Was gesagt werden muss, bedingt die Art und Weise, wie es gesagt wird. Das bedeutet aber auch zu akzeptieren, dass sich das Werk als vergänglich erweisen kann, sollten sich die Bedingungen ändern. Kein lebender Künstler, den ich kenne, wie glühend aktivistisch er auch sein mag, diffamiert Kunst als Ablenkung vom moralischen Engagement, wie es die extremeren Konstruktivisten taten. Aber ein großer Teil der polemischen Kunst der letzten Zeit deutet auf ein Verfallsdatum hin, das nicht mehr weit in der Zukunft liegt. Das ästhetische Urteil, das auf Erfahrung beruht, bestätigt die Unterschiede zwischen dem, was seiner Zeit entspricht, und dem, was sich, abgesehen davon, dass es seiner Zeit entspricht, als zeitlos erweisen kann."
Archiv: New Yorker

Himal (Nepal), 22.12.2020

Wie sehr sich Bangladesch in den letzten fünfzig Jahren verändert hat, kann man nirgends besser sehen als in der Hauptstadt Dhaka, meint Zafar Sobhan: "Dhaka ist heute nicht wiederzuerkennen als die verschlafene, charmante, ruhige Stadt, die sie noch vor einem halben Jahrhundert war. Die Verwandlung von einer vornehmen und behäbigen Stadt mit baumgesäumten Alleen, Teichen, Kanälen und geräumigen Bungalows inmitten von überwucherten Gärten in eine schwindelerregende Metropole mit 12 Millionen Einwohnern, dröhnenden Autos und einem Häuserblock nach dem anderen mit unbemalten Betonwohnungen, soweit das Auge reicht, hat etwas durchaus Erschreckendes. Aber der Unterschied liegt nicht nur in der physischen Transformation, sondern auch im Ton und im Gefühl. Dhaka ist heute eine hochoktanige Megastadt, in der das Leben schnell und rasant ist (mit Ausnahme des Verkehrs, der langsam und träge bleibt), in der Wut und Gewalt unter der Oberfläche brodeln. Die Stadt ist ein Pulverfass, in dem Straßenräuber, Gelegenheitsdiebe und Entführer routinemäßig von wütenden Bürgerwehren zu Tode geprügelt werden; in dem zornige Industriearbeiter jeden Moment die Straßen übernehmen; in dem Gewalt und Anarchie nie weit entfernt sind. Dhaka brodelt, schwillt an, wogt und pulsiert. Vom Rikschafahrer über den Taxifahrer, den Verkehrspolizisten, den Textilarbeiter, den Studenten, den Tagelöhner bis hin zum gut situierten Geschäftsmann - manchmal scheint es, als hätten alle in Dhaka eines gemeinsam: die Wut. Die Wut brodelt ewig unter der Oberfläche dieser einst so friedlichen Stadt und droht jeden Moment überzukochen. Es ist diese Wut, die das Dhaka des 21. Jahrhunderts von dem Dhaka der Vergangenheit unterscheidet. Und es ist die Verrohung, die die einschneidendste und bemerkenswerteste Veränderung ist, die die Geschichte hervorgebracht hat."
Archiv: Himal
Stichwörter: Bangladesch, Dhaka

Tablet (USA), 22.12.2020

Tony Badran, selbst mit seinen Eltern aus dem Libanon in die USA eingewandert, erinnert sich noch gut an die Zustände in seinem von Konfessionskriegen zerrissenen Herkunftsland, vor denen die Familie geflohen ist. Umso schärfer seine Reaktion auf die "Klasse der amerikanischen Orientalisten" (abgekürzt AOC) - womit er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker, Auslandskorrespondenten und Berater von Think Tanks meint -, die es lieben, Trumps Amerika mit den blutigen Diktaturen des Nahen Ostens auf eine Stufe zu stellen: "Nehmen Sie zum Beispiel die nivellierende Sprache in diesem Tweet eines Think-Tankers, der über Syrien und al-Qaida arbeitet, als Reaktion auf die Teilnahme seines syrischen Freundes an den Protesten in Washington, D.C. Sie wird zu einem 'Kampf für unsere Rechte in #Amerika - nur ein paar Jahre, nachdem er gezwungen war, aus #Syrien zu fliehen, während er dasselbe forderte'. Gibt es einen besseren Weg, um die Bitterkeit und Depression zu überwinden, die sich aus der hilflosen Identifikation mit den Gesellschaften der Dritten Welt ergeben, in denen sie gelebt und gearbeitet haben und in denen praktisch alle Massenproteste im Scheitern endeten? Jetzt kann es sich in Amerika abspielen, und dieses Mal wird es erfolgreich sein, gegen unseren eigenen Trump-Assad! Die Identifikation Obamas und der AOCs mit hässlichen Dritte-Welt-Regimen wie dem Iran und den gescheiterten Gesellschaften der Region weist auf einen größeren Nivellierungsprozess hin, der derzeit in Amerika am Werk ist. Dieser Prozess macht mich besorgt über die Zukunft des großen Landes, in das ich eingewandert bin - in der Hoffnung, die Krankheiten meiner früheren Gesellschaft hinter mir zu lassen."
Archiv: Tablet
Stichwörter: Libanon

Times Literary Supplement (UK), 18.12.2020

Der britische Schriftsteller Caryl Phillips, der mit seiner Familie als kleines Kind von St. Kitts nach Britannien kam, blickt auf seine Kindheit in Leeds und all die Demütigungen zurück, die Migranten aus dem Commonwealth erdulden mussten, nicht zuletzt auch mit dem Windrush-Skandal: "Meine Mutter und mein Vater kamen an in einem Britannien, das sie für ihre Heimat hielten, ihr Mutterland, den Mittelpunkt der Welt, deswegen blickt sie anders auf ihre Zukunft als Migranten, die aus ökonomischen oder politischen Gründen in ein fremdes Land ziehen. Anders gesagt: Ihre Reise nach Britannien war beladen mit der schweren Fracht der Erwartung. Doch dann kam das Aufeinandertreffen. Migranten aus den Kolonien mussten für ihre Teilhabe ein ungeheures Maß an Demütigungen schlucken, sonst hätten sie nur vor der Einsicht kapitulieren können, dass das gesamte koloniale Gebilde auf Täuschung beruhte. Wie wir wissen, blieb die große Mehrheit der Nachkriegsmigranten; sie leckte ihre Wunden und kämpfte darum, sich und ihren Kinder einen Platz in Britannien zu verschaffen, das sie zu verändern hofften. Und während es vielen gelang, das Land zu verändern, wurden andere niedergeschlagen, einige verloren ihre Kinder oder ihren Verstand, und etliche ihr Leben. Ich war tatsächlich immer zutiefst irritiert von den Werken migrantischer Schriftsteller (wie Samuel Selvon), die angesichts einer überwältigender Ablehnung weiterhin an ihrer Loyalität gegenüber dem Land und seinen Städten festhielten… Sie saßen in der Falle. Ihre Identitäten waren lange geformt, bevor sie in Hull oder Suthampton an Land gingen. Wenn sie erst einmal gelandet waren, konnten sie allen schmerzhaften Erfahrungen zum Trotz gar nicht anders, als an dem festzuhalten, was sie waren: Sie waren stolze britische Untertanen, die verzweifelt versuchten, britische Bürger zu werden."

Magyar Narancs (Ungarn), 15.12.2020

Der ältere Sohn des 2016 verstorbenen Schriftstellers Péter Esterházy, Marcell Esterházy spricht im Interview mit Dénes Krusovszky u.a. über die Gründe und Motive, warum sich die Erben von Péter Esterházy dafür entschieden haben, den Nachlass des Schriftstellers in der Berliner Akademie der Künste bewahren zu lassen. Damit ist Esterházy neben Imre Kertész und György Konrád der dritte bedeutende ungarische Schriftsteller, dessen Nachlass in Berlin liegt: "Es würde sich lohnen darüber nachzudenken, warum die bedeutendsten Autoren der letzten Jahrzehnte oder ihre Erben dachten, dass das Lebenswerk am besten im Ausland aufgehoben ist. Es hängt mit dem Misstrauen gegenüber den ungarischen Institutionen sowie der Instabilität der Gesellschaft und des Staates zusammen. Wir mussten dafür sorgen, dass der Nachlass an einen Ort kommt, wo er in Sicherheit ist, wo er geschätzt wird und wo man sich damit beschäftigt. Dass dies nicht in Ungarn geschehen kann, ist die Realität, die wir akzeptieren müssen. Ich sehe diese Lebenswerke, das von meinem Vater, von Kertész, von Konrád so, dass sie zwar auf Ungarisch entstanden waren, doch Teil einer gemeinsamen europäischen Kultur sind. Aus dieser Perspektive sind sie sehr wohl dort, wo sie hingehören, in Berlin, wo sie als Teil der europäischen Kultur betrachtet werden."
Archiv: Magyar Narancs

Propublica (USA), 19.12.2020

Raymond Zhong, Paul Mozur, Aaron Krolik und Jeff Kao decken auf, wie Chinas Regierung mit Hilfe einer Armee von Internet-Trolls die Gefahr des Coronavirus heruntergespielt und die Erfolge des chinesischen Krisenmanagements übertrieben hat: "Geschätzte Hunderttausende Chinesen arbeiten in Teilzeit an Kommentaren und Online-Inhalten, die die Staatsideologie verbreiten und stützen, viele von ihnen kleine Angestellte der Regierung und Parteiorganisationen. Die Universitäten haben Studenten und Lehrer zu diesem Zweck rekrutiert und in Schulungen angeleitet. Die Regierung nutzt eine Vielfalt an Software, um Online-Inhalte zu frisieren. Urun, eine der beteiligten Software-Firmen, unterhält seit 2016 zwei Dutzend Verträge mit lokalen Behörden und staatlichen Unternehmen. Wie eine Analyse des von Urun verwendeten Codes und von Dokumenten des Unternehmens zeigt, können Uruns Produkte Onlinetrends verfolgen, Zensur koordinieren und gefälschte Social-Media-Accounts verwalten. Ein Urun-System bietet Regierungsmitarbeitern eine benutzerfreundliche Oberfläche zum schnellen Hinzufügen von Likes. Über das System können Kommentatoren bestimmte Aufgaben zugewiesen werden. Die Software kann verfolgen, wie viele Aufgaben ein Kommentator erledigt hat und was diese Person verdient. Kommentatoren in der südlichen Stadt Guangzhou erhalten etwa 25 Dollar für einen eigenen Beitrag über 400 Zeichen. Die Markierung eines negativen Kommentars wird mit 40 Cent vergütet, Reposts mit einem Cent. Uruns App hilft, die Arbeit zu erleichtern. Sie teilt Kommentatoren Aufgaben zu, die Kommentatoren stellen ihre Posts ein und belegen sie mit Screenshots. Urun hat auch ein Spiel konzipiert, in dem Teams von Kommentatoren gegeneinander antreten, um festzustellen, wer die besten Posts generiert."
Archiv: Propublica

Osteuropa (Deutschland), 21.12.2020

Das neue Heft ist den Protesten in Belarus gewidmet. Maryia Rohava und Fabian Burkhardt analysieren sehr eingehend die Lage im Land, wo sich trotz der massiven Repressionen horizontale Gesellschaftsstrukturen herauszubilden beginnen: "Obwohl die staatlichen Behörden die Bildung von institutionalisierten Oppositionsstrukturen etwa als Schattenregierung oder Partei verhindern können, setzt sich die horizontal vernetzte Mobilisierung der Gesellschaft mit immer neuen Initiativen in Städten, Bezirken und Hinterhöfen im ganzen Land fort. Der gegenwärtige Zustand bleibt höchst volatil. Auch wenn Lukaschenka die Kontrolle über die Sicherheitsorgane behält und weiter Unterstützung aus Russland genießt, wird die Krise zum Dauerzustand. Für Lukaschenka und seinen Staatsapparat gibt es kein Zurück, denn die Legitimität, die sich aus staatlicher Leistungsfähigkeit und Wahlen ergibt, ist ebenso wie seine Popularität im Volk und die internationale Anerkennung dauerhaft beschädigt. Damit sind die traditionell wichtigsten Pfeiler des Autoritarismus in Belarus heftig ins Wanken geraten."

Außerdem schildert Ingo Petz ausführlich die zahlreichen Protestaktionen der belarussischen Opposition. Und fortgesetzt wird natürlich auch die Solidaritätsaktion mit den politischen Gefangenen in Belarus
Archiv: Osteuropa

Novinky.cz (Tschechien), 17.12.2020

Die Soziologin Irena Reifová hat in einer Untersuchung von elf tschechischen Reality-TV-Sendungen (Formate à la "Ehefrauentausch", "Tisch gedeckt!" oder "Schuldenbezwinger") eine Erniedrigungkultur ausgemacht, in der Arme bloßgestellt und stigmatisiert würden, wie sie im Gespräch mit Zbyněk Vlasák berichtet. Oft werde die "Geschichte" um einen Konflikt herum aufgebaut, der zwischen jemand Bessergestelltem und jemandem aus niedriger sozialer Schicht bestehe. Eine Schlüsselrolle komme der Kamera zu, die demonstriere, wie verwahrlost der betreffende Haushalt ist: vom nicht gesäuberen Katzenklo bis zur fleckigen Tischdecke, die natürlich in Großaufnahme gezeigt wird. Nicht nur Leute innerhalb der Sendung äußerten sich abschätzig, auch auf den dazugehörigen Online-Fanseiten sei das Verdikt einheitlich: Die Zuschauer empören sich etwa darüber, "dass es da keine Zahnbürste gibt und es den betreffenden Leute an Verantwortungsgefühl, Arbeitseifer und Moral mangelt". Reifová hat außerdem bewusst Zuschauer aus verschiedenen Gesellschaftsschichten befragt und festgestellt, dass selbst Angehörige einer Subkultur, die solche Sendungen mit ironisch-belustigter Distanz ansähen, sich geringschätzig über die Armen äußerten. Hinter der "Schadenfreude" (dies als deutsches Wort) stehe oft die "Selbstversicherung, dass man selbst nicht ganz so schlimm dran ist". Interessanterweise werde etwa im belgischem Fernsehen ein solches Armutsbashing nicht betrieben. "Dort nimmt man die Armut nicht zwangsläufig als individuelles Versagen wahr, sondern als etwas, das gesellschaftliche Ursachen hat. In Tschechien dagegen sehen wir Armut als etwas, was jemand selbst verschuldet hat und Gegenstand moralischer Ächtung sein sollte. Die sozialen Strukturen, die hinter dieser Armut stehen, sehen wir nicht."
Archiv: Novinky.cz

Hakai (Kanada), 15.12.2020

Christopher Clark wirft einen Blick auf die Küste Kongos, wo die traditionelle Haifischfischerei die Bevölkerung wirtschaftlich und auch im Wortsinn ernährte. Jetzt droht Überfischung - nicht nur wegen der Professionalisierung des Zweigs, mangelnder Regulierung durch den Staat und der steigenden Präsenz Chinas in der Region, sondern auch, weil Haifisch mittlerweile im gesamten Land zentraler Bestandteil der Ernährung ist. Hinzu kommt: "Die Covid19-Pandemie hat internationale Handelsrouten blockiert und damit die ohnehin taumelnde Wirtschaft Kongos weiter gelähmt. Unterdessen sieht sich eine wachsende Zahl von Migranten im ganzen Land und der umgebenden Region in Richtung Küste gedrängt - die Folge einer Kombination aus Klimawandel und Konfliktherden. Der Wettbewerb um die ohnehin schon überausgebeuteten Ressourcen nimmt damit zu. Hinzu kommt, dass der Kongo weiterhin Fischer aus anderen westafrikanischen Ländern anzieht, deren Fischbestände entweder leer gefischt sind oder denen striktere Kontrollen auferlegt wurden, um genau dies zu verhindern. Sollte Kongos Fischerei kollabieren, wären die Folgen im ganzen Land und in der umliegenden Region spürbar. Angesichts der ähnlich trüben Lage bei den Sardinen, von denen ein Großteil nach China verkauft wird, um daraus Fischmehl herzustellen, würde dieser Kollaps nicht nur drückende ökonomische und ökologische Sorgen nach sich ziehen, sondern auch ein beträchtliches Risiko für die Ernährung darstellen. In einem Land, dessen Bevölkerung zum großen Teil auf Fisch - und besonders auf Haifisch - als primäre und oft einzige Eiweißquelle angewiesen ist, könnte sich das Wohlergehen des Fischereihandwerks als Sache von Leben und Tod herausstellen. Bis auf weiteres allerdings und entgegen einer Fülle internationaler Empfehlungen von Organisationen wie der Food and Agriculture Organization der UNO, verbleibt die Haifischerei de facto unreguliert."
Archiv: Hakai

Film-Dienst (Deutschland), 17.12.2020

Der FAZ-Filmkritiker und Schriftsteller Dietmar Dath ist in diesem Jahr Siegfried-Kracauer-Preisträger für die beste Filmkritik (und zwar für diese hier). Ulrich Kriest hat aus diesem Anlass ein episches Gespräch mit Dath geführt, der eher zufällig zur Filmkritik kam, wie er erzählt: Nachdem er die FAZ verlassen hatte, was ihn in Sachen literarischer Produktivität eher verlottern ließ, klopfte er reumütig wieder an beim Blatt - wo allerdings gar keine neue Stellen mehr eingerichtet wurden. Dann starb der Filmkritiker Michael Althen - und Dath konnte nominell, aber mit inhaltlichen Freiheiten, Filmredakteur werden - quasi ein Praktikum unter Bedingungen einer Vollzeit-Festanstellung. "Okay, dann war ich also Filmkritiker. Ich habe gar nicht erst versucht, Michael Althens Position einzunehmen, was Arbeitsabläufe, den intellektuellen Level oder die Vertrautheit mit den Gegenständen angeht. Sondern mich bemüht, mir das auf meine Art draufzuschaffen. ... Plötzlich kam ich in Berührung mit Weltkino. Einen peruanischen oder chilenischen Film hatte ich vorher noch nie gesehen. Beim Arthouse-Kino hatte ich noch ein sehr schmales Repertoire. Das waren dann Filmemacher, die in irgendeine Genre-Richtung gingen. Wenn ich irgendwo las, dass 'Antichrist' von Lars von Trier 'doch nur so eine Art Horrorfilm' sei, dann musste ich lediglich das 'nur' durchstreichen, um mich dafür zu interessieren. So habe ich versucht, das zu lernen. Ich habe mir ein Beispiel genommen an Leuten wie Andy Mangels oder Harlan Ellison. Die hatte ich viel gelesen und die gingen - wie ich - nicht aus cineastischen Gründen ins Kino. Dann guckte ich die anfallenden Filme und, wie bei einer Klassenarbeit, meiner Nachbarin Verena Lueken über die Schulter, wie die ihre Sache schmeißt. Deren Texte fand ich immer schon glänzend. Diese spezifische Mischung aus 'Ich hab' keine Ahnung', 'Ich fall' da rein', 'Ich geb' mir die größte Mühe, weil ich das auch als Broterwerb ernst nehme', 'Ich spick' ein bisschen zur Seite' und dabei immer Leute im Hinterkopf behalten, die mich früher begeistert haben. So lässt sich beschreiben, was da passiert ist. ... Wobei ich bei dieser Filmkritikertätigkeit das große Glück habe, dass ich das Ganze wiederum für mich selbst nicht zu ernst nehmen muss. In dem Sinne, dass keine Überzeugungen oder das eigene ästhetische Projekt in einem Umfang daran hängt, wie es mir beispielsweise bei dem Wort 'Science-Fiction' als einem Begriff für Literatur geht. Wenn ich etwas über Science-Fiction als Literatur sage, will ich viel stärker Recht haben, weil ich darüber seit 35 Jahren nachdenke. Da kommt es dann zu geronnenen Meinungen. Beim Film ist alles mehr im Fluss."
Archiv: Film-Dienst

Dissent (USA), 01.12.2020

Manchmal fragt man sich, ob eine so idiotische Debatte wie die über ″kulturelle Aneignung″ überhaupt real ist. Ist sie, und Brian Morton zitiert in seinem lesenswerten und vor allem mit interessanten Schriftstelleräußerungen gewürzten Artikel auch die maßgebliche Definition LeRhonda S. Manigault-Bryants, einer Afrikanistik-Professorin am Williams College. Für sie besteht "kulturelle Aneignung darin, jemand anderem die Kultur - das geistige Eigentum, Artefakte, Stil, Kunstformen et cetera - ohne Erlaubnis zu nehmen". Wieviel klüger frühere Generationen von Autoren über das Thema nachdachten, zeigt Morton etwa an Ralph Ellison, der alle möglichen legitimen und illegitimen Weisen kultureller Beeinflussung nennt und sagt: "Erst durch diesen Prozess kultureller Aneignung (und Verfälschung) wurden die Engländer, Europäer, Afrikaner und Asiaten zu Amerikanern." Morton selbst argumentiert von einem wohltuend humanistischen Standpunkt: "Der Punkt ist, dass Künstler die Erfahrungen anderer durch gemeinsame Menschlichkeit imaginieren. Eine gemeinsame Menschlichkeit: Dieser Satz klingt altmodisch, anachronistisch, während ich ihn niederschreibe. Aber ich denke, die Erneuerung der Würde und des Prestiges dieser Idee gehört zu den Aufgaben der aktuellen Linken."
Archiv: Dissent

En attendant Nadeau (Frankreich), 22.12.2020

Die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) ist ein Leuchtturm des intellektuellen Lebens in Paris. Sie bringt einen bemerkenswerten Band über die Pariser Attentate im November 2015 (aber auch andere Attentate wie die von Madrid) heraus, der großenteils in der Dokumentation all der spontanenMahnmale″ besteht, die nach den Attentaten entstanden. Riesenhaufen von Blumen, Wände voller Graffiti. Der Band heißt ″Les mémoriaux du 13 novembre″ (Die Mahnmale des 13. November). ″Was sagen all diese Inschriften″, fragt Philippe Artières mit dem Soziologen Gérôme Truc, der die Graffiti studierte: ″Sie richten sich an die Opfer, schreien ihre Wut heraus, sprechen Friedensbotschaften aus, beharren auf 'Liberté, égalité, fraternité', sind religiöse Gebete...Sie drücken vor allem ein 'Wir' aus, unterstreicht der Soziologe. Das selbe emotionale 'Wir', das auch die ForscherInnen bei ihren Recherchen nie aus dem Sinn verloren. Denn die sie täuschen keine Distanz vor und sehen sich auch als Zeugen des Ereignisses.″
Stichwörter: Pariser Attentate

New York Times (USA), 20.12.2020

In einem Artikel der aktuellen Ausgabe erklärt Abraham Lustgarten Russland zum Gewinner der Klimakrise. Durch die Erderwärmung werden riesige Gebiete des Landes eisfrei und landwirtwirtschaftlich nutzbar: "Im Osten Russlands vollzieht sich ein großer Wandel. Seit Jahrhunderten ist der überwiegende Teil des Landes nicht bewirtschaftbar. Nur die südlichsten Abschnitte entlang der chinesischen und mongolischen Grenze, einschließlich der Umgebung von Dimitrovo, waren gemäßigt und boten urbaren Boden. Mit der Erderwärmung kam die Aussicht, das Land zu kultivieren. Vor zwanzig Jahren kam das Frühjahrstauwetter im Mai, jetzt spätestens im April, Regenstürme sind heute viel stärker und feuchter. In ganz Ostrussland verwandeln sich wilde Wälder, Sümpfe und Wiesen langsam in Sojabohnen-, Mais- und Weizenfelder. Dieser Prozess wird sich beschleunigen: Russland hofft, die durch den Klimawandel verursachten Temperaturen und längeren Vegetationsperioden nutzen zu können, um sich als einer der größten Lebensmittelproduzenten der Welt neu zu positionieren … Kein Land ist dazu besser aufgestellt als Russland mit der größten Landmasse auf der nördlichen Hemisphäre. Es liegt nördlicher als all seine südasiatischen Nachbarn, in denen zusammen der größte Teil der Weltbevölkerung lebt, der mit der Bedrohung durch steigende Meeresspiegel, Dürre und Hitze zu kämpfen hat. Russland ist wie Kanada reich an Ressourcen und Land und bietet Raum für Wachstum. In den kommenden Jahren soll der Ernteertrag durch die Erderwärmung gesteigert werden, während die Erträge in den USA, Europa und Indien voraussichtlich sinken. Durch Zufall oder durch eine clevere Strategie des russischen Staates, der Flaggen in die Arktis pflanzt und dort die Getreideproduktion ankurbelt, sieht sich Russland zunehmend in der Lage, in einer wärmeren Welt seinen Supermachtstatus zurückzuerobern."
Archiv: New York Times