Magazinrundschau

Die Unmittelbarkeit des Todes

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
02.02.2021. Der Rolling Stone erzählt am Beispiel eines Highways, wie viel und wie wenig gleichzeitig die USA mit ihrem Krieg in Afghanistan erreicht haben. Im New Statesman erklärt John Gray, warum eine Welt ohne Unglück und Zwietracht nur eine Dystopie sein kann. Die New York Review of Books würdigt die japanische Fotografie. Die Stadtstaaten am Golf sind heute noch echte Sklavengesellschaften, meint Aeon mit Blick auf die Wanderarbeiter dort. A2larm erinnert an die Pockenepidemie in Polen 1963. Die Äthiopier sollten einen kritischen Blick auf die Geschichte ihres Landes werfen, wünscht sich in der London Review die äthiopisch-amerikanische Schriftstellerin Maaza Mengiste.

Rolling Stone (USA), 02.02.2021

Wie viel und wie wenig gleichzeitig die USA mit ihrem Krieg in Afghanistan erreicht haben, kann man an der 300 Millionen Dollar teuren Straße von Kabul nach Kandahar sehen, die Symbol für ein neues modernes Afghanistan sein sollte, erzählt Jason Motlagh. Vor 17 Jahren wurde sie fertiggestellt, inzwischen ist sie von Bombenkratern durchsetzt, und wer auf ihr fährt, wird von den Taliban beschossen. So geht es auch Zarifa Ghafari, die sechs Tage die Woche diese Straße benutzen muss, um von Kabul nach Maidan Shar zu gelangen, wo die 27-Jährige Bürgermeisterin ist. Sie hat bereits mehrere Attentatsversuche überlebt: "'Wenn die Taliban die Chance bekommen, werden sie mich definitiv töten', sagt sie. 'Ich stehe auf ihrer schwarzen Liste.' Ghafari ist gerade einmal 27 Jahre alt, schlank und selbstbewusst, trägt ein mitternachtsblaues Kopftuch und eine übergroße Brille. Sie ist ein kühner Beweis dafür, wie weit die afghanischen Frauen seit der US-geführten Invasion im Jahr 2001, die das extremistische Taliban-Regime stürzte, gekommen sind. Als Kind war sie gezwungen, eine geheime Schule für Mädchen zu besuchen, nur um eine Ausbildung zu erhalten. In der Post-Taliban-Ära hat sie sich durchgesetzt, einen Universitätsabschluss in Wirtschaftswissenschaften erworben und einen von den USA finanzierten Radiosender in Wardak gegründet, der sich an Frauen richtet. 2018 wählte Präsident Ashraf Ghani sie unter 137 anderen Kandidaten - allesamt Männer - zum Bürgermeister von Maidan Shar, dem Sitz einer strategisch wichtigen Provinz an der Grenze zu Kabul, in der die Taliban Unterstützung genießen. 'Alles, was ich hatte, war mein Talent und meine Ausbildung', sagt Ghafari. 'Sonst nichts.' Aber ihr tägliches, riskantes Spiel, in einer gewalttätigen Stadt so nahe der afghanischen Hauptstadt zur Arbeit zu erscheinen, ist sinnbildlich für eine Regierung in der Krise. Die Taliban kontrollieren jetzt fast die Hälfte des Landes, einschließlich großer Teile des Highway 1, und sind auf dem Vormarsch, angetrieben durch ein Friedensabkommen mit den USA im Februar. Im Austausch für ein vages Versprechen, die Feindseligkeiten zu reduzieren und keine terroristischen Gruppen wie Al-Qaida zu beherbergen, verpflichtete sich die Trump-Administration zu einem vollständigen Truppenabzug bis zum Sommer dieses Jahres. In den Monaten seither haben die Taliban ihre Offensive verstärkt."
Archiv: Rolling Stone

New Statesman (UK), 01.02.2021

John Gray ruft dazu auf, wieder den 1884 geborenen russischen Autor Jewgeni Samjatin zu lesen. In seinem dystopischen Roman "Wir" von 1920 beschrieb er lange vor Aldous Huxley und George Orwell, dass eine Gesellschaft, in der Unglück und Zwietracht eliminiert werden sollen, alles verliert, was das Leben wertvoll macht: "Samjatins lehnte das Utopische ab, aber nicht weil er glaubte, eine perfekte Gesellschaft sei unerreichbar, sondern weil er nichts von Idee der Perfektion hielt. Seiner Ansicht nach würde jedes rationales Modell einer Gesellschaft, das ein einziger Mensch ersonnen hätte, in die Tyrannei führen. Dabei beunruhigte ihn nicht am meisten die politische Unterdrückung. Ihn beschäftigte vielmehr, welche Auswirkung der Rationalismus auf die Seele hätte. Menschliche Kreativität sei untrennbar verbunden mit Unruhe stiftenden Leidenschaften. Utopische Vorstellungen seien von Natur aus dystopisch. Hierin folgte Samjatin Fjodor Dostojewskis wegweisenden dystopischen 'Aufzeichnungen aus dem Kellerloch' von 1864. Für Dostojewskis Ich-Erzähler wäre eine auf Logik und Wissenschaft basierende Gesellschaft, wenn überhaupt möglich, dann ein spirituelles Gefängnis. Die Fähigkeit zu Aufopferung und unvernünftiger Liebe, sich für Kampf und Leid, statt für Frieden und Glück zu entschieden, waren für ihn wesentlicher Teil der menschlicher Freiheit." Aber vor allem, meint Gray, war Samjatin im Gegensatz zu Huxley und Orwell Optimist und deshalb davon überzeugt, dass die menschliche Unvollkommenheit am Ende jeden rationalen Despotismus besiegen wird.

Francis Bacon war der größte Maler war, den Britannien seit William Turner hervorgebracht hat, stellt Andrew Marr klar. Müssen wir da noch einmal all die saftigen Geschichten aus seinem Leben lesen, die Mark Stevens und Annalyn Swan in ihrer Biografie "Francis Bacon: Revelations" zusammentragen? "Sex, Tod, Glamour, Tratsch, Tratsch, Tratsch"? Ja doch, auch wenn sie keine echten Enthüllungen mehr sind: "Bacon hat den Zweiten Weltkrieg äußerst intensiv erlebt und erfahren. Als Brandmeister im Blitz sah er unaussprechliche Dinge; beim Warten auf Hitler hatte er sein Monster fertig vor Augen. Die Unmittelbarkeit des Todes putscht auf - und aus ihr entstand sein Wunder. Aber wie bewahrt man sich diese Intensität, wenn die Welt banal wird? Als schwuler Mann mit sadomasochistischer Ader, fand Bacon eine Art, könnte man sagen, im Privaten mit dem drohenden Desaster zu leben. Hielt ihn das als Künstler lebendig? Er brauchte das gefährliche Cruising, die abenteuerlichen Wetten, die Schläge, sie gaben seinem Leben die nötige Kantigkeit. Deswegen sind die berühmten Geschichte nicht unwichtig. Einen großen Empfang geben für die neue Ausstellung im Herzen von Paris, mit den Größen der Stadt lachend und plaudernd, während der Liebhaber sterbend im Hotelzimmer liegt - und dann für Jahre die niederschmetternde Schuld spüren. Was kann einen berechenbarer daran erinnern, dass man am Leben ist, aber nicht mehr für lange?"

Weiteres: Der Historiker Richard J. Evans wirft der britischen Regierung eine desolate Politik in der Pandemie vor, die das Land über 100.000 Tote gekostet hat: "Die britische Corona-Krise rührt aus dem Versagen grundlegender Staatsführung, einer tödlichen Kombination aus Inkompetenz und Untätigkeit.
Archiv: New Statesman

Magyar Narancs (Ungarn), 01.02.2021

In der vergangenen Woche wurde entschieden, dass die drei wichtigsten Universitäten Ungarns außerhalb der Hauptstadt (Debrecen, Szeged, Pécs) ebenfalls in private Stiftungsuniversitäten umgewandelt werden, wobei die bereits bekannten Kuratoriumsmitglieder Politikerinnen und Politiker der Regierungspartei Fidesz oder regierungsnahe Geschäftsleute sind, die ihre Position alle auf Lebenszeit erhalten sollen. Neben dem Verlust der Autonomie der Universitäten, ist die Qualität der Forschung und Lehre ebenfalls ernsthaft gefährdet. Im Gegenteil zu den anderen Universitäten gab es an der Universität Szeged eine abstimmende Senatssitzung, wobei sie skandalös verlief, denn einerseits durften antragstellende Senatoren (Professoren) ihre Änderungsanträge nicht begründen, andererseits stimmten einige Professoren mit Fidesz-Parteibuch entgegen der Weisungen ihrer Fakultäten, welche die Umwandlung ablehnten. Der Universitätsprofessor Mihály Szajbély (Universität Szeged), der selbst einen Änderungsantrag stellte, erklärt im Interview mit György Bányai: "Was man uns angeboten hat, ist eine große Schüssel Linsen, wie der Rektor der Universität es in einer früheren Senatssitzung bezeichnete. Es gibt leider welche, die aus Naivität oder aus Pragmatismus unbedingt das Angebot wahrnehmen wollten. Damit machten sie aber die Universität zum Gegenstand eines Hasardspiels: wenn wir Glück haben und ein gutes Kuratorium und ein gutes Gründungsdokument bekommen, welches die Autonomie der Universität garantieren, dann könnte die ganze Geschichte auch gut ausgehen. Doch wenn es anders kommt, dann können wir alles verlieren."
Archiv: Magyar Narancs

New York Review of Books (USA), 11.02.2021

Leo Rubinfien, selbst Fotograf, der lange in Japan gelebt hat, bespricht dieses gigantische Fotobuch der Fotobücher (Bilder), das nebenbei die Geschichte der japanischen Fotografie erzählt. Die interessanteste Zeit, so Rubinfien, ist ganz klar die Nachkriegszeit bis in die Siebziger. Aber das berühmteste aller Fotobücher, Masahisa Fukases "Raben" (Neuauflage), ist erst aus dem Jahr 1986. Und danach kam dann doch noch eine ganz neue Generation, darunter viele Fotografinnen wie Rinko Kawauchi und Mayumi Suzuki. Japan hat Fotografen in der ganzen Welt mit der Idee des Fotobuchs inspiriert. Aber warum? "Fast überall auf der Welt arbeiten Fotografen mit künstlerischen Absichten sowohl für die Wand als auch fürs Papier, aber während die Westler lange Zeit die Museen im Sinn hatten, haben die Japaner es weitgehend vorgezogen, Bücher zu publizieren. Warum hat sich in Japan die Kultur des Fotobuchs so energisch entwickelt? Die übliche Erklärung beginnt mit der Architektur. Da die Wände in den älteren japanischen Häuser vor allem aus Schiebetüren bestehen, haben sie kaum Platz für Bilder, und Kunstsammler, haben aus Mangel an Präsentationsmöglichkeiten Schränke und Gewölbe gefüllt, aus denen eine wertvolle Keramik oder ein Bild herausgeholt werden, um es nur einen Nachmittag lang zu betrachten."

A2larm (Tschechien), 30.01.2021

Veronika Pehe erinnert daran, dass im Jahr 1963 im polnischen Wrocław (Breslau) eine hoch ansteckende und tödliche Pockenepidemie ausbrach. Der "Patient Null" hatte sich in Indien infiziert, und nach seiner Rückkehr breitete sich das Virus sofort aus. Damals habe die WHO prognostiziert, die Epidemie werde zwei Jahre dauern und rund zweitausend Todesopfer fordern. Dass Polen die Ausbreitung stattdessen innerhalb von drei Monaten nach 99 Infektionen und 7 Todesopfern stoppen konnte, habe zum einen natürlich damit zu tun, dass bereits Impfstoffe zur Verfügung standen (es wurden sofort Vakzine nachproduziert und aus der UdSSR und Ungarn angefordert), zum anderen mit den "Möglichkeiten" eines autoritären kommunistischen Staates. "Zuerst noch nicht verpflichtend, mussten sich ab dem 1. August 1963 alle Einwohner von Wrocław und Umgebung zur Impfung einfinden." Außer in Arztpraxen wurden Impfstationen an den Arbeitsstätten und zum Beispiel am Hauptbahnhof eingerichtet. "Im Vergleich zu heute waren die Schutzvorkehrungen primitiv - die Ärzte hatten Handschuhe, Schutzbrille und Stoffmasken an, das war alles. (…) Natürlich gab es auch damals Leute, die sich gegen die Impfung sträubten. In manchen Dörfern versperrten mit Heugabeln bewaffnete Einwohner den Ambulanzen den Weg. Bei Verweigerung der Pflichtimpfung drohten hohen Geldstrafen. Wenn sich ein Impfverweigerer angesteckt hatte und damit die öffentliche Gesundheit bedrohte, stand ihm ein strafrechtliches Verfahren mit bis zu fünfzehn Jahren Haft bevor. Diese Strafen wurden auch tatsächlich durchgesetzt, die Namen der Personen, die ein Bußgeld zahlen mussten, in der lokalen Presse veröffentlicht." Quarantänen mussten in streng bewachten sogenannten "Isolatorien" vollzogen werden. Auch dieser Pflichtunterkunft versuchten nicht wenige zu entgehen. "Sie versuchten über den Zaun zu fliehen oder sie rebellierten - manchmal gar mit Messern bewaffnet - gegen die schlechte Verköstigung." Um sich aus der Stadt ein- oder herauszubewegen oder um den öffentlichen Verkehr zu benutzen, benötigte man eine Impfbescheinigung - woraus sich schnell ein Schwarzmarkt für diese Dokumente entwickelte, die man - so ging das Gerücht - auch bei Angestellten der öffentlichen Toiletten erwerben konnte. Trotz dieser nicht wenigen Widerstände habe Polen damals in kurzer Zeit 8,5 Millionen Menschen impfen und die Epidemie besiegen können.
Archiv: A2larm

London Review of Books (UK), 04.02.2021

Noch möchte die äthiopisch-amerikanische Schriftstellerin Maaza Mengiste die in Äthiopien auf Premierminister Abiy Ahmed gesetzen Hoffnungen nicht aufgeben, doch der gegenwärtige Konflikt mit der Regionalregierung von Tigray zeigt ihr wieder einmal, wie sehr dem Land ein kritischer Blick auf seine jüngere Geschichte fehlt. Ein Regime löste das andere ab, nach Haile Selassie kam die sozialistische Militärdiktatur, danach die EPRDF-Koalition und jetzt die Wolhstandspartei, aber nie wurde die Untaten und Verbrechen aufgearbeitet: "Das nördliche Hochland von Äthiopien ist bergig und steinig, die Menschen dort sind stur. Obwohl Mussolini 1936 den Sieg für sich verbuchte, war der Krieg nicht zu Ende. Äthiopische Kämpfer nahmen die Berge ein, sie lebten in Höhen und führten einen Guerilla-Krieg, mit dem sie 1941 schließlich die Italiener vertrieben. Wahrscheinlich erinnerten sich die Bewohner des nördlichen Hochlands in den Jahres des Derg-Regime an das Blutvergießen, das die Italiener angerichtet hatten, entweder aus eigenem Erleben oder aus Familienerzählungen. Es ist auch wahrscheinlich, das etliche, die die heutigen Konflikt erleben, Erinnerungen an die Derg-Jahre mit sich tragen. Um zu verstehen, was heute geschieht, braucht es geschichtliche Tiefenschärfe, aber Äthiopiens Stolz aus seine lange und ununterbrochene nationale Existenz, die schon in der Bibel, in der Ilias, bei Herodot und anderen antiken Texten bezeugt ist, erscheint heute als ein Hindernis in der Aufarbeitung seiner Geschichte. Es reicht nicht mehr, dem gegenwärtigen Konflikt einige antike historische Anklänge vorwegzuschicken."

Jeremy Harding dröselt außerdem en detail den Konflikt zwischen französischem Säkularismus und Islamismus auf, und am Ende ist klar, wem er einen Mangel an pragmatischer Vernunft ankreidet: "Mit der Realität dschihadistischer Mordtaten vor Augen muss man fragen, ob Charlie Hebdos Krieg gegen Bigotterie und Gewalt eine präzis geführte Offensive war oder ein Flächenbombardement muslimischer Sensibilitäten. Und unabhängig davon: Verminderte er im Ergebnis die dschihadistische Gewalt oder erhöhte er sie? Trennte Charlies Halsstarrigkeit den Feind von der großen Mehrheit der französischen Muslime, oder unterzog er ihre republikanische Loyalität einer neuen Art von Stress? Verstärkte er den Respekt für die Laizität unter Muslimen oder erweiterte er den Rahmen der Ambivalenz? Eine weitere Zwickmühle: Ist die Meinungsfreiheit ein absolutes Recht, auf das sich jeder berufen kann, der behauptet, in ihrem Namen zu zeichnen, zu rappen, zu lehren, zu veröffentlichen oder zu töten?" Überschrieben ist der Artikel dann auch mit "Charlie's War" - als wären es die Journalisten gewesen, die einen Krieg angefangen hätten.

Aeon (UK), 02.02.2021

Der britische Jurist Bernard Freamon, Spezialist für islamisches Recht, blickt auf die sechs superreichen arabischen Stadtstaaten am Persischen Golf und sieht - Sklavenhaltergesellschaften. "Sklaverei und Sklavenhandel bildeten einen wichtigen Teil ihrer Handelsgeschichte, insbesondere nach dem Aufkommen des Islam. Afrikaner, Belutschen, Iraner, Inder, Bangladescher, Südostasiaten und andere aus den Küstenregionen des Indischen Ozeans wurden stetig und unfreiwillig in immer größerer Zahl in den Golf transportiert, um dort als Hausangestellte, Dattelpflücker, Seeleute, Steinmetze, Perlentaucher, Konkubinen, Wächter, Landarbeiter, Hilfsarbeiter und Viehzüchter zu arbeiten. Historiker haben festgestellt, dass es im 18. und 19. Jahrhundert, während der Blütezeit des Sklavenhandels im Indischen Ozean, einen großen Aufschwung des Sklavenhandels in der Region gab. Viele Familien am Persischen Golf wurden durch diesen Aufschwung sehr wohlhabend. Dies ist der Hintergrund für das, was sich als ein sehr hässlicher und trauriger Aspekt des spektakulären Aufstiegs der zeitgenössischen Gesellschaftsordnungen in den sechs Stadtstaaten am Golf herausstellt. Jeder von ihnen ist ein Beispiel - und vielleicht das einzige Beispiel, das heute auf der Welt existiert - für das, was der Soziologe Moses Finley (1912-86) eine 'echte Sklavengesellschaft' nannte." Im Folgenden macht Freamon das vor allem an der Behandlung der Migrantenarbeiter fest.
Archiv: Aeon

Elet es Irodalom (Ungarn), 29.01.2021

Der 80-jährige Schriftsteller László Végel schreibt über das Verschwinden seiner Heimat, Jugoslawien, das mit dem Aufflammen des ethnischen Populismus einherging, der sich auf dem ganzen Kontinent verbreitete. "War das 20. Jahrhundert wirklich kurz und ist es 1989 wirklich zu Ende gegangen, so wie es Historiker behaupten? Es ist sicher, dass die Wunden nicht verheilt sind, somit blieb das Jahrhundert ein Torso. Die Zeit eilt ohne uns weiter, sie ließ die Menschheit an der Straße liegen. Der Fortschritt hat uns vergessen, was weder eine humane noch eine antihumane Geste ist, wir werden einfach nicht mehr gebraucht, aus diesem Grunde ließ sie uns hilflos zurück. Aus Rache nannten wir ihn das Opium der Aufklärung. Aber was für ein Fortschritt? Die neue Utopie wurde ein konservatives Retro. Im 21. Jahrhundert stiefeln wir, die Stiefkinder Europas, zwischen abgelegenem Strauch und Gebüsch, schlendern in eine unbekannte Richtung, die nicht mehr von uns festgelegt wird."

Tablet (USA), 02.02.2021

Wir leben in einer Kultur der Flachheit, die sich seit den siebziger Jahren ausbreitet, fürchtet Alana Newhouse: Libertäre Republikaner und neoliberale Demokraten hätten daran ebenso mitgewirkt wie die Tech-Industrie. Sie haben die Institutionen geschleift und eine Horde von Jasagern geschaffen, die - auch oder sogar gerade in der akademischen Welt - jedes Anecken, jede kontroverse Position vermeidet, so Newhouse: "Ich will die Uhr nicht zurückdrehen in eine Zeit, bevor wir alle E-Mails und Handys hatten. Was ich will, ist, mich von der letzten Generation inspirieren zu lassen, die eine neue Lebenswelt geschaffen hat - den amerikanischen Malern des abstrakten Expressionismus der Nachkriegszeit, Jazzmusikern, Schriftstellern und Dichtern, die einen alternativen amerikanischen Modernismus schufen, der die aufstrebende kommunistische Moderne direkt herausforderte: eine Mischung aus Formen und Techniken, bei der die Betonung nicht auf der Gesichtslosigkeit der Massenproduktion lag, sondern auf individueller Kreativität und Können."

Amerika hat ein neues Klassensystem, behauptet Michael Lind von der University of Texas at Austin. Und zum ersten Mal wird es nicht bestimmt von Lokalfürsten. "Erst in der letzten Generation sind diese regionalen Patrizier in einer einzigen, zunehmend homogenen nationalen Oligarchie aufgegangen, mit demselben Akzent, denselben Umgangsformen, denselben Werten und demselben Bildungshintergrund von Boston über Austin und San Francisco bis nach New York und Atlanta. Dies ist eine wahrhaft epochale Entwicklung. ... Immer mehr Amerikaner finden heraus, dass 'Wokeness' in der neuen, zentralisierten amerikanischen Elite als Mittel zum Ausschluss von Amerikanern der Arbeiterklasse aller Rassen funktioniert, zusammen mit den rückständigen Überbleibseln der alten regionalen Eliten. Tatsächlich ändert die neue nationale Oligarchie die Codes und Passwörter etwa alle sechs Monate und informiert ihre Mitglieder über die Universitäten und die Prestigemedien und Twitter. Amerikas Arbeiterklasse-Mehrheit aller Rassen schenkt den Medien weit weniger Aufmerksamkeit als die Elite und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie ein Kind in Harvard oder Yale hat, das sie aufklärt. Und nicht akademisch gebildete Amerikaner verbringen sehr wenig Zeit auf Facebook und Twitter... Das ständige Ersetzen alter Begriffe durch neue Begriffe, die nur den Oligarchen bekannt sind, ist eine brillante Strategie der sozialen Ausgrenzung."

Außerdem: Dana Kessler liest ein Buch über israelische Lapid Keramiken (mehr dazu auch hier).
Archiv: Tablet

New York Times (USA), 31.01.2021

In einem Beitrag für die neue Ausgabe schiebt Emily Bazelin das Problem der Zensur in den sozialen Medien auf eine nicht funktionierende Politik: "Wie sehen die entsprechenden demokratischen Prozesse aus? Amerikaner haben eine natürliche Skepsis gegenüber einem die Redefreiheit regulierenden Staat. Momentan füllen die Tech-Riesen das durch diese Skepsis entstehende Vakuum aus. Aber wollen wir einer Handvoll CEOs vertrauen, deren Plattformen den demokratischen Prozess mitbestimmen? Bei der Regierung haben wir Bedenken, beim Silicon Valley auch, aber wenn es niemand in die Hand nimmt, ist uns auch nicht wohl. Als Twitter Donald Trumps Account sperrte, bekam er Unterstützung von ungewohnter Seite: Kanzlerin Angela Merkel kritisierte die Entscheidung als 'problematische' Verletzung der Redefreiheit, nicht, weil sie Trumps Inhalte verteidigen wollte, sondern weil der Maulkorb von einem privaten Unternehmen kam. Stattdessen, so ließ sie wissen, sollten die USA wie Deutschland ein Gesetz gegen Hetze im Internet erlassen, das Hassrede und Fake News verhindern hilft. Die USA glauben, dass Redefreiheit ein Grundrecht ist, das alle anderen Rechte bedingt. In Europa neigt man eher dazu, destabilisierende Lügen zu bekämpfen, indem man die Redefreiheit mit anderen Rechten abgleicht. Ein Ansatz, der mit der Erfahrung mit Faschismus und Propaganda zu tun hat und mit dem Wissen, dass Lügen und Sündenbock-Denken gegen Minoritäten autoritäre Regime zur Macht verhelfen können."

Außerdem: Kashmir Hill erzählt die haarsträubende Geschichte eines erschreckend fleißigen Internet-Trolls. David Marchese unterhält sich mit Jodie Foster übers Schauspielen. Und Brooke Jarvis fragt, was wir seid Covid-19 neu über unseren Geruchssinn gelernt haben.
Archiv: New York Times