Magazinrundschau

Eine Million Augen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.02.2021. Der New Yorker recherchiert, warum die Covid-Sterberaten in den westlichen Industrieländern so viel höher sind als in Afrika und Asien. Auch autoritäre Staaten bekommen Covid nicht in den Griff, meint La vie des idees mit Verweis auf Polen. In Elet es Irodalom erklärt László Krasznahorkai, warum er beim Schreiben nichts von Punkten hält. Denik Referendum würdigt den letzte Woche verstorbenen Philosophen Jan Sokol. Das New York Magazine porträtiert die amerikanische Filmemacherin Chloé Zhao.

New Yorker (USA), 01.03.2021

In einem Text für die aktuelle Ausgabe untersucht der Krebsforscher Siddhartha Mukherjee, warum die Pandemie manche Länder härter trifft als andere: "Ein epidemiologisches Rätsel, denn normalerweise folgen Infektionskrankheiten (Malaria, Thyphus, Diphterie, H.I.V.) einem traurigen Muster: Die armen Länder trifft es am härtesten, die reichen am wenigsten. Das Muster von COVID-19 sieht anders aus. Die meisten Toten verzeichnen Belgien, Italien, Spanien, die USA, Großbritannien. Die Todesrate in Indien mit seinen 1,3 Milliarden Menschen und seinem maroden Gesundheitswesen beträgt ein Zehntel derer der USA. Unter Nigerias zweihundert Millionen Menschen beträgt sie etwa ein Hundertstel. Reiche Länder mit gutem Gesundheitswesen sind stärker betroffen als arme Länder in Südasien oder Subsahara-Afrika. Die Frage nach den Ursachen beschäftigte mich, ein epidemiologisches Whodunnit. Hatte es mit der Demografie zu tun, mit falschen Zahlen, mit den Reaktionen der jeweiligen Regierung auf die Krise oder mit weniger offensichtlichen Faktoren? … Im Juli und August untersuchte ein Team des Gesundheitsökonomen Manoj Mohanan die Anzahl der Infizierten im 64-Millionen Staat Karnataka in Südwestindien. Proben ergaben eine Rate für Antikörperträger von 45 Prozent, fast die Hälfte der Bevölkerung hatte sich also irgendwann infiziert … In Neu Delhi ergaben die Zahlen 56 Prozent, also 10 Millionen Menschen … Wenn es wahr ist, dass bestimmte Pathogene in der Bevölkerung ein hohes Immunitätslevel bedeuten, dann müsste sich ihre Verbreitung, sagen wir in Lagos oder Los Angeles, in geografisch bestimmbaren unterschiedlichen Todesraten manifestieren."

Außerdem: Ian Parker freut sich über neue, angstvolle, witzige und romantische Arbeiten der Malerin Nicole Eisenman. Nick Paumgarten berichtet über die fantasiereichen Einfälle von Restaurantbesitzern. Und Anthony Lane stellt eine Biografie über den Dramatiker Tom Stoppard vor.
Archiv: New Yorker

La vie des idees (Frankreich), 19.02.2021

Das Beispiel Polen zeigt, dass autoritäre Regimes keineswegs besser in der Lage sind, eine Krise wie die Pandemie zu bewältigen, schreibt die Politologin Jolanta Kurska. Polen ergriff zwar früh drastische Maßnahmen, aber da sei es darum gegangen, den schlechten Zustand des Gesundheitswesens zu kaschieren. Das Virus habe dann in der Folge die national-populistischen Tendenzen noch verstärkt, wie man beim Abtreibungsgesetz sehen konnte, das "mitten im Lockdown aus dem Gefrierfach gezogen" wurde. Administrativ habe die Bekämpfung des Virus nur Durcheinander ausgelöst. Und "die Liste plötzlicher und unüberlegter Entscheidungen ist lang. Entstanden ist daraus ein kommunikatives Chaos und die Überzeugung, dass die Behörden auf die Schnelle agieren und eher Partei- und politischen Interessen folgen als denen der Bürger. Zugleich wurden Informationsrechte über die Pandemie eingeschränkt, wodurch man Raum für Zweideutigkeiten und und Zweifel ließ. Und die Statistiken auf nationaler und kommunaler Ebene sind ebenfalls unklar: Die nationalen Zahlen liegen oft unter den addierten Zahlen aus den Kreisen." Aber eine klare Zahl weiß Kurska zu nennen: Die Übersterblichkeit liegt in Polen, vergleichen mit den Jahren 2016 bis 19, bei 40 Prozent.

El Pais Semanal (Spanien), 23.02.2021

"Bum Bum Tam Tam" gegen Corona: In Brasilien erobert gerade ein YouTube-Video des Rappers McFioti die sozialen Netzwerke, berichtet die Journalistin Naiara Galarraga Gortázar: "Ein Wortspiel mit dem Namen des staatlichen medizinischen Forschungszentrums und Impfstoffentwicklers Instituto Butantan und dem in Brasilien umgangssprachlichen Wort für Hintern oder Popo - Bumbum - kombiniert mit einen Remix der Partita a-Moll für Flöte solo. McFioti war im Internet auf ein Fragment davon gestoßen, es stammt von einem gewissen Bach, von dem er noch nie gehört hatte - verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in eine offensichtlich unwiderstehliche Werbung für die Corona-Impfung und gegen die hartnäckig beibehaltene Ignoranz Präsident Bolsonaros. Die Butantan-Mitarbeiter ergriffen die Gelegenheit begeistert und tanzten zu und für McFiotis funkigen Rap durch die Flure und Labore ihres Instituts. Wenig später spielte auch das Symphonie-Orchester von Salvador de Bahía eine eigene Version des Stücks ein, das inzwischen schon an die zehn Millionen Aufrufe gehabt hat." Ein tanzendes gesundheitsamt? Das muss man sich doch ansehen:

Archiv: El Pais Semanal

Eurozine (Österreich), 22.02.2021

Dass Alexej Nawalny zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, ist in den Augen der russischen Bürgerrechtlerin Olga Romanowa alles andere als "beispiellos", sondern sehr typisch für die zur Farce verkommene Justiz und das Lagersystem, in dem in sowjetischer Manier Verurteilte untergebracht werden, die keine Kapitalverbrechen begangen haben. Das erzählt Romanowa im Interview mit Osteuropa, das Eurozine auf Englisch bringt: "Der GULag war ein feuerspeiender, blutrünstiger Drache, der die Menschen bei lebendigem Leibe verspeiste. Hundert Jahre sind vergangen, der Drache ist alt geworden und hat kein Feuer mehr, seine Krallen sind abgestumpft, und er hat nicht mehr so viel Appetit wie früher. Er sieht mehr aus wie eine alt gewordene Raupe. Aber es ist noch derselbe Drache. Er lebt immer noch. Das gegenwärtige Strafvollzugssystem in Russland ist niemals - ich betone: niemals - grundlegend reformiert worden. Das Äußerste, was noch unter dem damaligen Geheimdienstchef Lawrenti Beria erfolgte, war, dass das Strafvollzugssystem nicht mehr den Tschekisten oder der Polizei untersteht, sondern ins Justizministerium eingegliedert wurde. Das ist alles. Auch heute wird das Strafvollzugssystem de facto vom FSB verwaltet. Das gesamte Führungspersonal kommt aus dem Inlandsgeheimdienst. Aber das ist nicht anders als in der Freiheit. Ganz Russland steht unter Leitung von Geheimdienstlern, angefangen mit Putin."

Belarus ist beileibe nicht so zweigeteilt wie die Ukraine, wo die sprachliche und historische Trennung das Land zerreißt, betont die belarussische Autorin Nelly Bekus, dennoch gebe es auch in Belarus zwei Formen der nationalen Identität, die offizielle und die alternative: Die offizielle Version der belarussischen Geschichte basiert sehr stark auf der gemeinsamen belarussischen und russischen Existenz: Ob nun im Russischen Reich oder in der Sowjetunion, diese Perioden werden als entscheidend für die Bildung der belarussischen Identität angesehen. In der alternativen Interpretation der Geschichte, sehen sich die Weißrussen als eine osteuropäische Nation, die mehr mit Polen, Litauen und Tschechien gemein hat."
Archiv: Eurozine

New Statesman (UK), 19.02.2021

Der Feldzug gegen die BBC ist abgesagt, berichtet Harry Lambert. Der Abgang von Boris Johnsons Berater Dominic Cummings und die Corona-Krise haben die hartgesottenen Gegner des Senders erst einmal verstummen lassen, die für die BBC ein Abo-Modell wie für einen Streamingsdienst vorsahen. Aber, heißt es in einem zweiten Artikel, der Sender steht nicht über der Kritik: "Trotz der Kürzungen von dreißig Prozent seit 2010 hat die BBC noch eine aufgeblasene Bürokratie, zu viele Manager und Moderatoren verdienen über 150.000 Pfund im Jahr (sic!). Auf der redaktionellen Ebene hat die vielbeschworene Unparteilichkeit zu einer Strategie der falschen Äquivalenz geführt: Klimawandelleugner werden gegen Wissenschaftler gestellt. Programme wie die 'Question Time auf BBC One haben zu oft Mob-Taktiken nachgegeben und die ideologisch polarisiertesten Diskussionsrunden zusammengestellt, anstatt originelle nuancierte Gedanken zu verbreiten. Eben dadurch haben die Sendungen genau die manichäische Medienkultur genährt, die jetzt ihre Existenz bedroht. Konservative Kritiker halten der BBC eine linke Einseitigkeit vor, während die Opponenten genau das Gegenteil tun. In Wahrheit steht die BBC immer auf Seiten des Establishments: Sie hält es mit denen an der Macht."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.02.2021

Im Interview mit László J Győri spricht der Schriftsteller László Krasznahorkai über seinen neuen Roman mit dem Titel "Herscht 07769", der in einer Siedlung in Thüringen spielt und in dem der Bach-Kult auf Neonazis trifft. Bei knapp 440 Seiten besteht der Roman - nicht untypisch für Krasznahorkai - aus einem einzigen Satz, "jedoch nicht im herkömmlichen Sinne, wie auch in meinen früheren Büchern folgte ich nicht der Schreibweise, die üblichweise für einen Satz gilt. In meinen Romanen und Erzählungen verwende ich Schreibweisen, die keine Rücksicht nehmen auf die Tradition der letzten paar hundert Jahre. Der Grund dafür ist, dass ich mich nicht verpflichtet fühle, einen Filter zu verwenden oder die auf mich einströmenden Monologe in irgendeine disziplinierende Form zu zwingen. Die strömenden Dinge und die Gespräche der Personen erreichen mich mit einer überwältigenden Kraft, wer bin ich denn, dass ich diesen unüberwindbaren Kräfte Hindernisse entgegenstelle? Ich schreibe die Monologe genauso auf, wie diese in mein Gehirn donnern, ich schneide sie nicht in kleine, nette Teilchen. Habe ich zu viele Kommata und nur einen Punkt? Nun, ich denke, dass man sich an meine Kommata gewöhnen kann, so wie man sich an das Atmen gewöhnen kann, das die lebendige Kraft der aufrechterhaltenden Mitteilung nicht anhalten und erträglicher machen will, sondern eben aufrechterhalten und schwungvoll weiterleiten. Die Musik von Bach ist ebenfalls sehr komplex, doch wir hören sie uns an, ohne sie an den Taktgrenzen anzuhalten, nur weil wir so die Zeit hätten zu überdenken, wo wir uns eigentlich befinden."

New York Magazine (USA), 16.02.2021

Alison Willmore porträtiert die in China geborene, aber in den USA lebende und arbeitende Filmemacherin Chloé Zhao, die sich mit ihren bisherigen drei Low-Budget-Filmen (darunter etwa "The Rider", 2017 von Werner Herzog selbst gepriesen) zu einer der interessantesten amerikanischen Regisseurinnen der Gegenwart gemausert hat: Ihr aktueller Film "Nomadland" hat gute Aussichten, ihr nach dem Goldenen Löwen in Venedig auch den Oscar für den "Besten Film" einzubringen. Und die Marvel-Studios haben bei ihr bereits einen Superhelden-Blockbuster bestellt. "Hollywoods Hunger auf neue Talente außerhalb der gängigen Liste weißer Männer bedeutet auch, dass junge Filmemacher nicht mehr zwangsläufig ein kommerzielles Filmprojekt als Visitenkarte benötigen, um die Aufmerksamkeit von Managern auf sich zu ziehen. Sich selbst als meisterlicher Künstler zu etablieren, der auf Authentizität und regionale Eigenheiten achtet, stellt nicht mehr notgedrungen ein Hindernis dafür dar, sich Richtung Blockbuster weiterzubewegen. Zhaos Karriere ist ein Musterbeispiel dafür, was von einem zeitgenössischen Filmemacher in Hollywood verlangt wird: Sowohl das exquisit Intime, als auch das massiv Kommerzielle bedienen zu können. ... Das filmische Marvel-Universum mag zwar ein gigantisches Multiplattform-Unternehmen darstellen, das die Popkultur derzeit beherrscht, aber Stimmen wie Zhao benötigt es dennoch. Während es in die Streamingwelt expandiert, haben die Filme damit begonnen, Figuren aufzugreifen, mit denen ein Publikum, das die Comics nur lose kennt, weniger vertraut ist. Zhaos 'Eternals' basiert auf Jack Kirbys Schöpfungen aus den 70ern und dringt damit weit tiefer in die Comicwelt vor als, sagen wir, Spider-man. Es hat den Anschein, als würde diese neue Marvel-Ära auf der großen Leinwand nach Regisseuren mit einer Vision für Figuren verlangt, die sich nicht darauf verlassen können, dem Namen nach bekannt zu sein."

Deník Referendum (Tschechien), 19.02.2021

Viele Nachrufe gibt es in den tschechischen Medien auf den letzte Woche verstorbenen christlichen Philosophen Jan Sokol, der mit seiner vielfältigen und integren Persönlichkeit offenbar viele Menschen beeindruckt und beeinflusst hat. Martin Beck Matuštík würdigt den 1936 geborenen "Goldschmied und Uhrmacher, Mathematiker und Programmierer, Philosophen und Pädagogen, Übersetzer, Unterzeichner der Charta 77, ehemaligen Abgeordneten und Schulminister, Präsidentschaftskandidaten und Gründungsdekan der Fakultät der Humanwissenschaften an der Prager Karls-Universität" auch als unermüdlichen Wikipediabeiträger und beliebten Hochschullehrer. "Er eröffnete gerne eine Debatte und wartete dann auf den Konsens. In der Politik wie an der Universität hielt Sokol Opposition für einen wichtigen Schutz vor autoritären Tendenzen selbst angesichts der besten Führungspersönlichkeiten. 'Eine vernünftige Regierung muss sich ihre Kritiker kultivieren. Ohne sie lassen sich große Fehler und Dummheiten unmöglich vermeiden', meinte er. Nach dem gleichen Prinzip zeigte er sich kritisch gegenüber autoritären Strukturen auch anderer Institutionen und Regierungen, in seiner Heimat wie in den benachbarten Ländern, so verteidigte er zum Beispiel Soros' Zentraleuropäische Universität in Prag und dann in Budapest. (…) Durch seine Treue zum Gedanken des Ideenpluralismus darüber, wie man innerhalb starker demokratischer Institutionen richtig lebt, war Sokol ein Mensch, der die Grenzen unseres Denkens verschob."
Stichwörter: Sokol, Jan

Gentlemen's Quarterly (USA), 15.02.2021

Gabriella Paiella unterhält sich mit Patricia Lockwood - als Twitterin ("es ist Frivolität, die ich online gern auslebe") nicht weniger bekannt denn als Autorin - über deren neues Buch "No One Is Talking About This", das in weiten Strecken um die sozialen Medien kreist. An einem Punkt des Gesprächs geht es um den Sturm auf das Kapitol, der zwei verschiedene Twitterstreams auslöste: der eine superernst politisch, der andere voller lustiger Meme. "Es waren zwei gleichzeitige Streams, und noch seltsamer wurde es für mich", sagt Lockwood, " durch die Tatsache, dass ich an diesem Tag Interviews gab. Ich gebe zu, dass ich einige der verstörendsten Interviews meines Lebens gegeben habe. Aber ich habe auch amerikanische Interviewer erlebt, die sich über Zoom einschalteten, und es war absolut wie auf dem Friedhof, düstere Gesichter. Ich sprach mit Leuten in Britannien und sie sagten: "Also, das war urkomisch. Wir haben das hier alle genossen. Dieser Wolfs-Typ!" Mich hat dieses sehr langsame Rinnsal der Geschichte interessiert. Es war wie: 'Oh, ein paar Typen treiben sich im Kapitol herum. Jetzt bewegen sie sich zielstrebiger. Jetzt schlagen sie die Fenster und Türen ein.' Zu dem Zeitpunkt musste ich zum Friseur, weil ich ein Fotoshooting für ein Interview hatte. Und ich fragte mich: 'Stirbt Nancy Pelosi gerade, während ich mir den Pony schneiden lasse?' Ich denke, es ist gesund, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von Twitter zurückzuziehen. Aber in Zeiten wie diesen sagt man sich: 'Okay, ich springe in das Portal und sehe, was passiert, weil es eine Million Augen sind.' Nur so kann man alle Seiten erleben. Die absurden Seiten und die tragischen Seiten. Es ist nicht so, dass es ein komplett lustiges Ereignis war, offensichtlich. Es ist auch nicht so, dass es komplett tragisch war. Und das Portal hat sich wirklich zu einem Ort entwickelt, an dem wir all diese Seiten erleben können - es ist der einzige Ort, an dem man das tun kann."