Magazinrundschau

Leute stehen einfach auf extreme Dinge

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
16.03.2021. Bloomberg sieht das indische Kastensystem Einzug halten in amerikanische IT-Konzerne. Quietus zieht die Klänge der Venus denen des Mars vor. Die LRB porträtiert den sozialistisch-neoliberalen Traum, der Singapur ist. La vie des idees und Eurozine betrachten die Finessen russischer Unterdrückungspolitik. Die Technology Review erklärt, warum Facebooks nur mit Fake News weiter wachsen kann. Der New Yorker verzeichnet einen wachsenden Trend zu Polyamorie wie Polygamie.

Bloomberg Businessweek (USA), 11.03.2021

Amerikanische IT-Konzerne rekrutieren im großen Stil an den indischen Tech-Universitäten. Klingt modern und divers, über die Hintertür holen sie sich damit aber auch das, trotz einiger politischer Maßnahmen, noch längst nicht überwundene Kastensystem ins Boot, schreibt Saritha Rai: Wer es aus den angeblich niederen Kasten wie den Dalits via ein Quotensystem an die Elite-Unis geschafft hat, muss dort durch einen wahren Flaschenhals an Diskriminierungen hindurch. Das Problem besteht vor allem in den Mitstudenten, die einmal als "nieder" identifzierte Studenten ziemlich skrupellos mobben und ausgrenzen, berichtet etwa Amit Jatav, ein Dalit: "Seine "Klassenkameraden erkannten ihn rasch als solchen. Er hatte Unterricht an Hindi-Sprachschulen genommen und sein Englisch war schlecht. Seine Kleidung war abgetragen und schäbig. Er hatte kein Smartphone. In einer Umgebung, in der die in den Eignungstests erzielte Punktezahl als Statussysmbol gilt, rangierte Jatav relativ niedrig, was ihn als 'Quotenstudent' auswies. Er hörte laute Kommentare, dass er ja nur wegen seiner 'Kategorie' an der Universität sei, statt sich diesen Status 'tatsächlich erarbeitet' zu haben. Man lud ihn nicht zu Studienzirkeln ein, Abendessen und gesellschaftlichen Anlässsen ein. 'Ich hatte mit meinem Studium schwer zu kämpfen, aber niemand half mir', sagt Jatav, heute 21 und in seinem letzten Studienjahr. 'Die allgemeine Einstellung war: Der ist ein Dalit, lass ihn ruhig kämpfen.' ... Für US-Firmen wäre es wohl naiv anzunehmen, dass ihre indischen Angestellten ihre Vorurteile auf dem Subkontinent zurücklassen, sagt Sarit K. Das, ein Professor für Maschinenindustrie am IIT Madras, der bis Februar noch Direktor des IIT Ropar gewesen ist. 'Die Absolventen nehmen sie mit zu Amazon oder Google oder wohin auch immer, und die Gefühle, die sie anderen Personen mitbringen lauten: Du hast es nicht so geschafft wie ich, daher stehst Du unter mir.'"

La vie des idees (Frankreich), 09.03.2021

Die Russlandexpertin Françoise Daucé zieht im Gespräch mit Florent Guénard und Jules Naudet  eine sehr nüchterne Bilanz der politischen Lage in Russland. Auf die Frage, warum keine wirkliche Opposition zustande kommt, verweist sie einerseits auf Proteste in der Provinz, die durchaus mal reüssieren können wie in Chabarowsk im fernen Osten. Zugleich aber erklärt sie die immer wieder einkehrende Friedhofsruhe schlicht mit der Angst der Bürger vor der Repression. Unter Putin funktioniert vieles nicht - auf die staatliche Repression aber ist noch Verlass, so Daucé: "Es sollte auch beachtet werden, dass neben der sichtbaren Polizeigewalt auf der Straße der Zwang oft an Mittelsleute weitergereicht wird. Universitäten können gegen mobilisierte Lehrer oder Studenten vorgehen, öffentliche Verwaltungen gegen ihre Angestellten und neuerdings werden auch die Eltern aufgefordert, für das gute Benehmen ihrer pubertierenden Nachkommen zu sorgen. Es wird also eine Form der Delegation von Kontrolle innerhalb der Gesellschaft ausgeübt."

Eurozine (Österreich), 10.03.2021

Ähnlich nüchtern wie Françoise Daucé in La Vie des Idees (siehe oben) schildert die polnische Osteuropahistorikerin Maria Domańska die Lage in Russland. Auch sie beobachtet, dass Putin, nachdem die mobilisierende Kraft seines Regimes verlorengegangen ist und die Wirtschaftskraft beständig sinkt, vor allem auf Manipulationen des Wahlsystems und auf Repression zurückgreift. Das völlig marode Wahlsystem soll bei den Parlamentswahlen im September (einige Tage vor den deutschen Wahlen) die erwünschte Zweidrittelmehrheit für Putin produzieren. "Die Behörden haben also alle Werkzeuge geschaffen, um die Wahl zu manipulieren, offiziell gefälschte Ergebnisse zu verkünden und mögliche soziale Proteste zu unterdrücken. Abgesehen von Repressionen werden sie den gesamten Verwaltungsapparat einsetzen, um die loyale Wählerschaft zu mobilisieren und gleichzeitig Regimegegner von der Stimmabgabe abzuhalten... Angestellte des öffentlichen Dienstes werden gezwungen, für die vom Kreml unterstützten Kandidaten zu stimmen; andere notwendige Stimmen werden durch die zusätzliche Gewährung von Sozialhilfe gekauft, die in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise dringend benötigt wird."
Archiv: Eurozine

MIT Technology Review (USA), 11.03.2021

Karen Hao erklärt, warum Facebooks Algorithmen nicht zu stoppen sind und weiter Fehlinformationen verbreiten, obwohl KI-Spezialisten wie Joaquin Quinonero Candela sich mühen: "Der Grund ist einfach. Alles, was Facebook unternimmt oder nicht unternimmt, wird von einer einzigen Motivation bestimmt: Zuckerbergs Verlangen nach Wachstum. Quinineros KI-Expertise hat das Wachstum angetrieben. Sein Team wurde eingeteilt die Fehler der KI zu korrigieren, weil so eine Korrektur Regulierungen unnnötig macht, die das Wachstum behindern würden. Facebooks Führung hat wiederholt Initiativen verhindert oder geschwächt, die Fehlinformation auf der Plattform verhindern wollten, weil das dem Wachstum geschadet hätte. Mit anderen Worten: Die Arbeit des KI-Teams, erfolgreich oder nicht bei der Bekämpfung der Anfälligkeit der Algorithmen für Falschinformation, ist im Grunde nicht ausschlaggebend im Kampf gegen die größeren Probleme der Falschinformation, des Extremismus und der politischen Polarisierung. Und wir alle zahlen den Preis … Mit täglich neu hinzukommenden Modellen maschinellen Lernens hat Facebook ein ganz neues System geschaffen, um seine Wirkung festzustellen und das die Nutzerbindung zu maximieren … Aber es gibt eine Kehrseite. Die neuen Modelle zur Nutzerbindung favorisieren auch Kontroversen, Falschinformation und Extremismus. Leute stehen einfach auf extreme Dinge."

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.03.2021

Überhaupt nicht beeindruckt sind Frédéric Pierru, Frédérick Stambach und Julien Vernaudonvon der britischen und amerikanischen Impfpolitik, die mit allen Hebeln der Machtpolitik ihre Interessen durchsetzt - vor allem auf Kosten ärmerer Länder, aber auch auf Kosten einer Öffentlichkeit, die zum großen Teil die Forschung und Entwicklung der Impfstoffe mitfinanziert hat. Warum also nicht mit Zwangslizenzen gegen eine unberechtigte Patentierung vorgehen? Aus prinzipiellen Gründen? "Wer Zwangslizenzen ins Spiel bringt, riskiert ein Kräftemessen mit anderen souveränen Mächten. Das gilt vor allem für die USA, wo die beiden Pharmafirmen ansässig sind, die derzeit die wirksamsten Impfstoffe herstellen. Hätten Frankreich, die EU und andere Staaten den Mut, gegen Washington aufzubegehren? Paris hat es jedenfalls noch nie gewagt. Als der US-Konzern Gilead Sciences 2014 bei seinem sehr effizienten Hepatitis-C-Medikament Sovaldi 41.000 Euro für die 12-Wochen-Therapie verlangte, akzeptierte die französische Regierung den hohen Preis. Und reduzierte die Zahl der anspruchsberechtigten Patienten, statt eine Zwangslizenz zu verhängen und Vergeltungsmaßnahmen der USA zu riskieren. Die US-Regierung kennt solche Skrupel nicht. Als Terroristen nach dem 11. September 2001 mit Biokampfstoffen wie Anthrax drohten, zögerten sie nicht, Zwangslizenzen ins Spiel zu bringen, um das von Bayer produzierte Antibiotikum Ciprofloxacin gegen Milzbrand selbst herstellen zu können. Der Pharmakonzern ging schließlich auf die Forderungen ein und senkte seine Preise."

Weiteres: Arezki Metref besucht die Kabylen von Ménilmontant. Und François Misser berichtet, dass die internationalen Ölfirmen mit immer mehr Macht nach Afrikas Ressourcen greifen: "In Subsahara-Afrika wurden mittlerweile für 71 Prozent der Unesco-Weltnaturerbestätten Bergbau- oder Ölförderkonzessionen vergeben."

Quietus (UK), 10.03.2021

Die ersten Klänge, die mit einem Außenmikrofon von der Atmosphäre des Mars übertragen wurden, waren eher enttäuschend, schreibt Chloe Lula in The Quietus. Kein Wunder: Bei dieser dünnen Atmosphäre ist mit wenig zu rechnen. Was nicht heißt, dass es im Sonnensystem nicht toll klingende Orte gibt. Der Physiker Timothy Leighton etwa sieht in den Mars-Tönen lediglich NASA-PR in eigener Sache. "'Der musikalisch interessanteste Planet ist die Venus, da der Effekt einer flüssigkeitsgetränkten Atmosphäre dort großartig ist', sagte er mir. 'Wenn die Atmosphäre aus einem wässrigen Mix besteht, eröffnet sich die Möglichkeit, mit Blasen, berstenden Wellen, plätschernden Bächen und Wasserfällen ganz andere Sounds hervorzubringen.' Würde man Klangsensoren in den Eisfeldern von Jupiter und Saturn anbringen, würde sich 'eine unglaublich reiche Umgebung' offenbaren - voller knarzendem Eis und geothermischer Aktivität, fügt er hinzu. Auch auf weiteren Planeten und Monden unserer Galaxie entstehen andere, faszinierende Klänge - von den Methanseen auf Titan, erdähnlicher Donner und atmosphärische Blitze auf der Venus und Kryo-Vulkane auf Io und Europa, die strömeweise Kohlenwasserstoff, Mineralien und Ammoniak ausspucken."

Außerdem: Aug Stone erinnert an die legendäre Westberliner Kneipe Risiko, wo man - je nachdem - mit etwas Glück oder etwas Pech mitten in der Nacht auch mal von Blixa Bargeld vermöbelt werden konnte. Nicholas Burman spricht mit dem Filmemacher John Smith, dessen experimentelle Quarantäne-Filme - unter anderem kompiliert er Boris Johnsons Pressekonferenzen - jetzt auf Mubi gezeigt werden.
Archiv: Quietus

CT 24 (Tschechien), 14.03.2021

Vor 100 Jahren veröffentlichte Jaroslav Hašek den ersten Band seiner Abenteuer um den braven Soldaten Schwejk, der seither als typisch für den tschechischen Nationalcharakter gilt. Wie viel ist da dran, will der Kulturkanal des Tschechischen Fernsehens wissen. Die Schriftstellerin Pavla Horáková meint, interessant sei nicht nur die Frage, ob Hašeks Figur seinerzeit typische tschechische Wesenszüge getroffen habe, sondern auch, in wieweit die Tschechen sich diese Züge in hundert Jahren angeeignet hätten. "In den nationalen Schwejk vermögen sich nämlich auch die hineinzustilisieren, die den Roman gar nicht gelesen haben." Das heutige, touristische Bild des Schwejk habe dabei mehr mit den zeichnerischen und filmischen Bearbeitungen zu tun als mit dem literarischen Original. "Und gerade dieser popularisierte Schwejk verkörpert einen sicher nicht unerheblichen Teil tschechischer Männlichkeit", meint Horáková, die zwei Aspekte des Schwejk unterscheidt: Der Schwejk "an sich" sei ein Schlitzohr, ein Schwätzer und Säufer, der weder Frau noch Familie braucht, ein ewiges Kind ohne Sorgen und Verpflichtungen, ein zwar freundliches, aber recht gefühlloses Wesen. Der andere Aspekt des Schwejk sei sein Verhältnis zur Macht: "Nur ausnahmsweise stellt er sich Willkür und Unrecht entgegen, meistens stellt er dem Bösen nur verstohlen ein Bein. Er wirkt harmlos, ist aber in Wahrheit ein rücksichtsloser Manipulator. (…) Dieser Schwejk ist Pate all jener Tschechen, die gegen den Totalitarismus per Autodestruktion in den Kneipen ankämpften (…) Die Bier-Résistance wurde zum gefragten, ja gefeierten Lebensstil, und noch heute sieht man in dieser vergeudeten Generation von Tschechen gerne Helden. Doch gerade jetzt zahlt sich diese Lebensstrategie für uns nicht aus - gegen die Pandemie wehren wir uns genauso effektiv wie gegen die Besatzungsmächte des 20. Jahrhunderts. Der passive Widerstand wird zu Passivität und zu völliger Resignation. Und hinter dieser Untätigkeit steht keine daoistisch erleuchtete Weisheit, sondern Trotzköpfigkeit."
Archiv: CT 24

London Review of Books (UK), 18.03.2021

Als hervorragendes Geschichte des britischen Konservatismus empfiehlt Jonathan Parry Edmund Fawcetts "Conservatism: The Fight for a Tradition", der er zum Beispiel entnimmt, dass erst Margaret Thatcher mit dem britischen Upperclass-Konservatismus aufgeräumt hat, der sich als Kombination aus Traditionalismus und "intellektueller Unzulänglichkeit" darstellte: "Gesellschaftlicher Zusammenhalt wurde ursprünglich organisch betrachtet, hergestellt durch Hierarchien des Ranges und des Besitz, doch die wachsenden Spannungen zwischen den Klassen machte das zunehmend unangemessen, also verbreiteten sich die Idee der Nation. ... Seit konservative Parteien eine Allianz mit kapitalistischen Interessen geschmiedet haben, um ihr Eigentum zu schützen, verläuft die peinlichste Bruchlinie zwischen der Verteidigung von Gemeinschaft und Konvention auf der einen Seite, und der Freiheit zur Innovation und Wohlstandsmehrung auf der anderen. Zu Beginn misstrauten Konservative daher den neuen Formen der Politik, die Liberale geschaffen hatten. Oftmals waren sie Aristokraten und daran gewohnt, Anweisungen zu geben. Öffentliche Debatten waren ihnen nicht geheuer und ihnen erschloss sich auch nicht, wozu es eine Intelligenzija oder Medien bräuchte."

Thomas Meaney blickt nach Singapur, das sich heute als wahr gewordener Traum des Neoliberalismus präsentiert. Dabei sah sich Singapurs Lee Kuan Yew anfangs eher neben Nehru, Nkrumah oder Tito: "Singapur begann das 20. Jahrhundert als eine Drehscheibe des asiatischen Kommunismus, und in der Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg hatten hier sämtliche Ideologien des Jahrhunderts ihren Auftritt. Als einstiger Anhänger der Fabian Society gestaltete Lee Kuan Yew Singapurs Wohlfahrtsstaat und Wohnungsbau nach dem Modell von Clement Atlees Britannien, allerdings als hyperbolische Version: Singapurs Regierung gehören heute 85 Prozent des Landes, 80 Prozent der Bevölkerung leben im öffentlichen Wohnungsbau. Lee übernahm auch andere Ideen von seinen linken Rivalen: Säuberungskampagnen, Anti-Korruptions-Wellen und Uniformen mit kurzen weißen Ärmeln sollten die Reinheit der People's Action Party beweisen. Seine Kampagne für asiatische Werte und sein Eugenik-Programm von 1980 - eines der wenigen, dass die Bürger Singapurs ablehnten - machten dagegen eher Anleihen beim japanischen Faschismus. Das ausgefeilte Kadersystem der PAP bezieht sich explizit auf das vatikanische Kardinalskollegium. Und dabei zieht sich ein immenses Brokat-Band von kolonialem Recht und Vorschriften durch Singapurs politisches Leben wie ein sorgsam gehütetes viktorianisches Erbstück."

En attendant Nadeau (Frankreich), 12.03.2021

Die Autorin Jacqueline Lalouette untersucht in ihrer sehr aktuellen, eingehenden Studie "Les statues de la discorde" einige Fälle postkolonialen Ikonoklasmus, besonders in Frankreich und in französischen Überseegebieten, berichtet Thierry Bonnot. Denn nicht nur in Amerika und Großbritannien wurden nach dem Polizeimord an George Floyd Statuen ehemaliger Sklavenhalter geschleift oder beschädigt. Frankreich hat hier eine lange Tradition, die mindestens bis zur Französischen Revolution zurückreicht. Dabei untersucht die Autorin auch einige Paradoxien; etwa dass die Bilderstürmer den Kunstwerken eine größere symbolische Kraft zuweisen als jene, die sie aus historischen Gründen verteidigen. Aber es gibt noch andere Widersprüche: "Die Autorin setzt sich mit dem Fall von Victor Schœlcher auseinander, dem nicht etwa vorgeworfen wird, ein Kolonialist zu sein. Ihm kreidet man im Gegenteil an, durch sein abolitionistisches Wirken die Kämpfe der Schwarzen für ihre Befreiung aus eigener Kraft unterlaufen zu haben. Er ist das Inbild des Paternalisten, das Emblem des zugleich großmütigen und herablassenden weißen Mannes, der die Sklaven von einem Joch 'befreit', das andere weiße Männer ihnen auferlegten. Verdient Schœlcher, dessen Statue in Fort-de-France zerstört wurde, diese Abrechnung?"

New Yorker (USA), 22.03.2021

In einem Beitrag für das neue Heft untersucht Andrew Salomon, wie Polyamorie und Polygamie herkömmliche Familienkonzepte auf den Kopf stellen: "Polygamisten und Polyamoristen drängen immer mehr auf Gleichberechtigung, seit die gleichgeschlechtliche Ehe in den USA legal ist. Anders als die Polygamie, die meist religiös motiviert ist und einen Mann mit mehreren Frauen meint, die untereinander keine sexuelle Beziehung haben, gründet die Polyamorie auf utopischen Ideen von sexueller Freiheit und erlaubt viele Konstellationen. Der eigentliche Unterschied aber liegt im Auge des Betrachters; wie üblich in der Identitätspolitik ist die Zugehörigkeit eine Frage der Selbstbestimmung. In der allgemeinen Vorstellung sind Polygamisten rechtsorientierte Frauenhasser und Polyamoristen dekadente Linke, doch die beiden Gruppierungen haben gemeinsame Ziele und häufig auch Lebensweisen."

Außerdem: Jane Meyer berichtet von den andauernden juristischen Untersuchungen gegen Donald Trump. Jennifer Gonnerman blickt hinter die Kulissen eines 5-Sterne-Hotels in New York. Louis Menand schaut zurück auf die Bewegung der Neuen Linken in den 1960er und 70ern und ihr Erbe.
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 10.03.2021

Der Regisseur Dénes Nagy erhielt bei der diesjährigen Berlinale für seinen Film "Természetes fény" (Natural Light) den silbernen Bären für die beste Regie. Im Interview erzählt Nagy: "Alle meine bisherigen Arbeiten handelten von Gesichtern, beziehungsweise von der Beziehung zwischen Gesichtern und Gegenden. Mit 'Természetes fény' wollte ich herausfinden, wie man einen Spielfilm um ein Gesicht herum bilden kann, das alles in sich trägt, was die Geschichte erzählt. Darüber hinaus interessierten mich immer dichte Milieus und Atmosphären, wo nichts berechenbar ist, wo rohe Naturelemente bestimmend sind. Wir fingen vor fünf Jahren mit den Arbeiten an und wir waren bis zum letzten Augenblick unsicher, ob es klappt."
Archiv: Magyar Narancs

Wired (USA), 09.03.2021

Xiaodi Zheng fährt mit dem Schriftsteller Chen Qiufan durch Peking. Neben dem Pionier Liu Cixin und der Schriftstellerin Hao Jingfang ist Chen Qiufan international der derzeit wohl bekannteste Autor chinesischer Science-Fiction, die in den letzten Jahren national wie international enorm erfolgreich war. Nicht zuletzt dieser Erfolg dürfte wohl auch das Begehr der chinesischen Regierung geweckt haben: "Im letzten Sommer veröffentlichten die Filmbehörden Richtwerte dahingehend, wie man Science-Fiction-Filme zu drehen habe. Sie halten die Filmemacher dazu an, 'chinesische Werte zu betonen', 'die chinesische Innovationskraft zu kultivieren' und 'die Gedanken Xi Jinpings sorgfältig zu studieren und zu implementieren'. Diese Maßnahmen haben Autoren und Verlage in ihrer Sorge, einen Fehlschritt zu tun, paranoider gemacht. ... International gesehen befinden sich Chinas Science-Fiction-Autoren mitten in einem Tauziehen zwischen miteinander konkurrierenden geopolitischen Agendas. ... Vor fünf Jahren pries US-Präsident Obama Liu Cixins 'Die Drei Sonnen' noch als Must-Read, während republikanische Senatoren letzten September die anstehende Netflix-Adaption wegen Lius politischer Ansichten verdammten. ... Chen zufolge war das Timing der Veröffentlichung von 'Die Drei Sonnen' entscheidend. Würde der Roman heute erscheinen statt 2008 - den Tagen bilateraler Beziehungen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und der Olympischen Spiele in Peking - würde er wohl von den chinesischen Behörden zensiert oder von Amerikanern verdammt und von beiden genau ins Visier genommen werden. 'Ich halte mich aus der Politik raus, denn was weiß ich denn schon', sagt Chen. 'Manchmal fühle ich mich so, als baumle ich an den Strippen der Geschichte.'"
Archiv: Wired