Magazinrundschau

Lass dir Zeit, UN

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
27.04.2021. Die Burmesen fühlen sich von der Welt verlassen, warnt Atlantic. In Südafrika ist der Klassenkampf in der Schwebe, diagnostiziert Africa is a Country, angesichts der maroden ANC-Politik. Bellingcat und Osteuropa erklären den Hintergrund der Ausweisung russischer Diplomaten durch Tschechien, die mit der Explosion für die Ukraine bestimmter Munition eines bulgarischen Waffenhändlers zusammenhängt. Der Guardian überlegt, wie man Whiteness abschaffen kann. Pitchfork hört den 'climate grief' in klassischer Musik.

The Atlantic (USA), 27.04.2021

Seit sich das Militär in Myanmar im Februar an die Macht geputscht hat, reißen die Demonstrationen nicht ab. Tausende Menschen sind gefoltert oder getötet worden. Der Rest der Welt - vielleicht zu beschäftigt mit dem Zählen von Mikroaggressionen im eigenen Land - schlägt gelegentlich die Hände über dem Kopf zusammen, tut aber nichts. Bei den Burmesen kommt das nicht gut an, versichert Timothy McLaughlin, der fürchtet, Myanmar könne wie Syrien ein gescheiterter Staat werden: "In den letzten Tagen und Wochen haben viele Burmesen den Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft ihr Gefühl von Verrat und Verzweiflung ausgedrückt und ihre intensive Wut, weil dem Land nicht geholfen wurde. Trotz der besten Bemühungen des Militärs, Myanmar offline zu halten, ist eine Reihe von Memes und Nachrichten aufgetaucht. In einem viralen GIF sieht man eine grinsende Karikatur von einem Soldaten, der ein automatisches Gewehr auf einen Demonstranten richtet, der ein Schild hält. Ein UN-Beamter in der Nähe wirft ein Papierflugzeug, das harmlos von der Mütze des Soldaten abprallt. Der Soldat feuert daraufhin. Der Demonstrant wird aus dem Bild geschleudert, eine animierte Blutspur folgt ihm. Ein anderes weit verbreitetes Bild zeigt einen Mann, der ein handgeschriebenes Pappschild hält, auf dem steht: IN '70' TAGEN NUR '700' MENSCHEN GETÖTET. LASS DIR ZEIT, UN. WIR HABEN NOCH 'MILLIONEN' ÜBRIG."
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: Myanmar, Vereinte Nationen

Africa is a Country (USA), 27.04.2021

Nach dem Ende der Apartheid ist der ANC mit vielen Versprechungen für alle Südafrikaner angetreten. Und was ist davon geblieben? Nicht viel, meint Russell Grinker in einer ausführlicheren Analyse. Trotzdem stimmen die Südafrikaner immer wieder für den ANC: "Wie die demütigen Bittsteller des Mittelalters sind viele unserer Leute auf einen Zustand moderner Leibeigenschaft reduziert worden, zu verarmten Bittstellern der Machthaber. Die einst kämpferischen südafrikanischen Massen der 1970er und 1980er Jahre sind zunehmend zu einer Armee von arbeitslosen Bettlern geworden, die verzweifelt bei jedem Wetter Schlange stehen, auf die zufällige Chance hin, dass sie die peinlichen R350 ($25) Sozialhilfe der Regierung erhalten (eingeführt während der COVID-19 Pandemie-Sperre). (Laut einer Studie sind über 60 Prozent der Südafrikaner nach COVID-19 auf Sozialhilfe angewiesen.)" Verantwortlich für diesen Zustand macht Grinker auch die Zersplitterung der Linken, die sich zerstritten hat oder korrumpieren lassen, weshalb Arbeitskampf heute oft in schlichte Zerstörungswut münde: "Der Klassenkampf ist in der Schwebe. 'Politik' ist nichts mehr als ein Konflikt zwischen den Parteieliten geworden. Ein Amalgam aus populistischen Politikern und Unternehmern bildet den Kern des politischen Establishments. Der kontinuierliche Prozess der Verschiebung von Ausrichtungen zwischen konkurrierenden Gruppen von Politikern zeigt, dass die heftigen Kämpfe innerhalb des ANC keinerlei ideologische Bedeutung haben, selbst wenn sie in radikal klingende Sprache gekleidet sind ... Die Massen werden nur als Zuschauer wahrgenommen, die als Bühnenarmee in den Schlachten der Fraktionseliten eingesetzt werden."

Bellingcat (Großbritannien), 26.04.2021

Mehr oder weniger flüchtig geisterte in den letzten Wochen die Meldung durch die desinteressierten deutschen Medien, dass Tschechien russische Diplomaten auswies, weil es im Jahr 2014 eine Explosion in einem Munitionslager gab (Russland erwiderte seinerseits mit Ausweisungen). Den Hintergrund erzählt mal wieder das Recherchemagazin Bellingcat. Die in einem Nato-Staat in die Luft gejagte Munition war für die Ukraine bestimmt und mit ihr einher gingen Giftanschläge nach bekanntem Muster auf bulgarische Waffenfabrikanten: "Die von Bellingcat analysierten Daten stützen die Hypothese, dass die Explosionen 2014 in Tschechien Teil einer längerfristigen GRU-Operation waren, die darauf abzielte, die Fähigkeiten der Ukraine zur Beschaffung von Waffen und Munition zu stören, die für die Verteidigung gegen russische Truppen und von Russland unterstützte Kämpfer im Krieg in der Ostukraine entscheidend waren. Die Operation scheint kurz nach dem Juli 2014 eingeleitet worden zu sein, als Russland die verschiedenen von Russland unterstützten militanten Gruppen in der Donbass-Region in der Ostukraine unter die militärische Aufsicht des Geheimdienstes GRU stellten. Die Mission, die offenbar von der Untereinheit 'Subversion und Sabotage' der GRU-Einheit 29155 geleitet wurde, umfasste mehrere zusammenhängende Operationen, darunter die Explosionen in den Depots von Vrbetice, das Attentat auf den Waffenhändler Emilian Gebrev und - mit zunehmender Wahrscheinlichkeit - mindestens eine der drei Explosionen in Munitionsdepots in Bulgarien Anfang bis Mitte 2015."
Archiv: Bellingcat

Osteuropa (Deutschland), 17.03.2021

In einem extrem informativen Interview mit Volker Weichsel spricht der Prager Politikwissenschaftler Vladimír Handl über die Explosion in der tschechischen Munitionsfabrik in Vrbětice (auf Englisch bei Eurozine). Ein von der Prager Regierung veröffentlichter Bericht ergab, dass die beiden russischen Agenten des Militärgeheimdiensts GRU, die auch schon den Überläufer Sergej Skripal ermordet hatten, im Jahr 2014 die Sprengsätze gelegt haben. Die Munition gehörte einem bulgarischen Waffenhändler und war für die Ukraine bestimmt, erklärt Handl. Auf die anschließende Ausweisung russischer Diplomaten aus Prag habe Moskau extrem angefasst reagiert: "Dies hat damit zu tun, dass der tschechische Verfassungsschutz seit vielen Jahren in seinen Berichten erklärt, die Botschaft sei eine Operationsbasis russischer Geheimdienste - neben dem Militärgeheimdienst GRU auch des Auslandsgeheimdienstes SVR, des Inlandsgeheimdienstes FSB und des Föderalen Sicherheitsdienstes FSO, die von Prag aus in ganz Ostmitteleuropa und darüber hinaus tätig seien. Die Russlandfreunde in Tschechien werden sich gegen einen solchen Schritt sperren. Nicht nur Präsident Zeman, auch der vormalige Präsident Václav Klaus, der jetzt - ganz im Stil der Moskauer Propaganda und von dieser sofort aufgegriffen - erklärt hat, die Regierung wolle mit der Geschichte vom russischen Geheimdienst, der in Mähren sein Unwesen treibe, die Bevölkerung einschüchtern, um sie besser beherrschen zu können. Zwei konkrete Folgen gibt es aber schon jetzt: Die Regierung hat entschieden, dass der russische Staatskonzern Rosatom nicht zu dem Bieterverfahren für den Bau von zwei neuen Atomreaktoren am Standort Dukovany zugelassen wird. Und das Thema Sputnik V ist sicherlich vom Tisch."
Archiv: Osteuropa

168 ora (Ungarn), 27.04.2021

Nachdem die "inrichtung eines Roma-Kulturzentrums in Budapests 8. Bezirk gescheitert ist, überlegt der Maler Norbert Oláh, wie fruchtbar der Begriff "Roma-Kunst" ist: "Meiner Meinung nach kann man im ästhetischen Sinne nicht von Roma-Kunst sprechen, zumindest als Terminus technicus kann er nicht verwendet werden. Trotzdem hat der Begriff eine Bedeutung, obschon er nicht über klare Grenzen verfügt und in manchen Fällen sogar zu Missverständnissen führt. (...) Was soll nun der Künstler tun, um eine Kategorisierung, Vorurteile, kulturelle Segregation zu vermeiden und sich trotzdem nicht verleugnen zu müssen? Was soll er tun, wenn er nicht aus der wahrlich wertvollen Diskussion herausgelassen werden möchte, aber sich auch nicht assimilieren möchte? Diese widersprüchlichen Gefühle und Gedanken verursachen in jedem schaffenden Menschen mit einem minimalen Sinn für Kritik eine furchtbare Beklommenheit. (...) Eine Lösung ist nicht in Sicht."
Archiv: 168 ora

Guardian (UK), 26.04.2021

Noch 2008 landete Christian Landler mit seinem Blog "Stuff White People Like", wo das schlimmste Vergehen weißer Amerikaner ihr schlechter Geschmack war, einen Riesenerfolg. 2017 erklärte Ta-Nehisi Coates Whiteness zur einer "existenziellen Gefahr für die USA und die Welt". Robert P Baird rekapituliert die lange und wechselvolle Geschichte der Whiteness, also die Vorstellung weißer Überlegenheit, von ihrer Erfindung zur Rechtfertigung der Sklaverei über ihre Entlarvung durch W.E.B. Du Bois, die Epochen der Farbenblindheit bis zu den Critical Race Theories. Am Ende hält es Baird mit den Machern der Zeitschrift Race Traitor, die ein für alle mal "die Weißen abschaffen" wollten: "Whiteness als Gruppenidentität muss bedeutungslos werden, Whiteness muss so in der Zeit versinken werden wie das Preußentum oder die etruskische Kultur. Am Ende seines Lebens beschrieb James Baldwin Whiteness als moralische Entscheidung, um zu betonen, dass es nicht nur eine natürliche Tatsache sei. Aber Whiteness ist vielleicht mehr als eine moralische Entscheidung: Es ist ein dichtes Gewebe aus moralischen Entscheidungen, von denen eine große Mehrheit bereits für uns getroffen wurde, oft ohne eigenes Zutun. So gesehen wäre Whiteness ein Problem wie der Klimawandel oder ökonomische Ungleichheit: Sie ist so gründlich in die Struktur unseres alltäglichen Lebens eingearbeitet, dass die Vorstellung einzelner moralischer Entscheidungen ein wenig entrückt erscheint."
Archiv: Guardian

Pitchfork (USA), 22.04.2021

Der Klimawandel ist ein blinder Fleck der Popmusik, schreibt Jayson Greene. Ihre Versuche, sich ihm zu stellen, sind eher überschaubar, vor allem aber selten angemessen, etwa Grimes' Versuch, den Klimawandel auf ihrem aktuellen Album "Miss Anthropocene" zu einer Art negativen Popikone umzudeuten. Auch drastische Musikgenres wie Death Metal und Hardcore bleiben in ihren apokalyptischen Szenarien greller Effekt, findet er. Als ästhetisches Gefäß für den "Climate Grief" - also die beinahe depressive Trauer darum, dass sich das globale Habitat im Zeitlupentempo der Katastrophe nähert - hält er klassische und experimentelle Musik für viel geeigneter. "Eine Schar elektronischer Künstler und Komponisten haben sich den Klängen, die die Erde selbst von sich gibt, zugewendet, als ob sie versuchen, den Planeten selbst beim Akt des Trauerns zu fassen zu kriegen. ... Matthew Burtners Arbeit 'Glacier Music' (2019) beginnt mit dem eigentlich ja beruhigenden Klang fließenden Wassers, was hier aber mit Vorahnungen aufgeladen ist. Der in Alaska geborene Komponist verbindet in seinen Arbeiten Saiten- und Holzblasinstrumente mit dem unheimlichen Brummen, das Gletscher von sich geben, bevor sie bersten. ...  Der in San Francisco ansässige, elektroakustisch arbeitende Komponist Erik Ian Walker hat dem kompositorischen Rahmen seiner Arbeit 'Climate' (2019) Klimadatenvariable übergelegt: Ansteigende Karbondioxid-Werte korrelieren mit dem Tempo, Ph-Werte des Ozeans mit der Form, die Lufttemperatur an der Oberfläche mit Höhe und Harmonie, die Ein- und Abgabe von Wärme mit Verzerrung und Modulation ... Walker konzentriert sich auf die Jahre 1800 bis 2300, wobei jede Minute 25 Jahren der Menschheitsgeschichte entspricht. Die Musik beginnt einfach, elegisch, begleitet von wenigen Streichern, die gegen tiefes Synthesizergemurmel ansingen", aber "wenn die Temperatur ab dem Jahr 2024 um 2,6 Grad Celsius und damit ein gutes Stück über jenen Schwellenwert angestiegen ist, der einen katastrophalen, irreversiblen Wandel noch aufhaltbar erscheinen lässt, sticht die Musik entschieden ins Chaos. Der Takt entgleitet, während die Violinen und Synthesizer röcheln und schreien und sich zu einer einzigen, qualvollen Stimme verbinden." Eine Kurzversion der Komposition kann man hier (nach einer etwa vierminütigen Einführung) hören:

Archiv: Pitchfork