Magazinrundschau

Die Suppe seiner Mutter

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.06.2021. Die beste "Asian American Music" findet man auf der anderen Seite des Pazifiks, versichert Pitchfork, dem der Begriff dennoch nicht ganz geheuer ist. Vanity Fair sucht den Ursprung des Coronavirus' in einem mit US-Dollars unterstützten Labor in Wuhan. Elet es Irodalom denkt mit György Lukács über Ethik und Revolution nach. Der New Yorker betrachtet Nero, geigenlos. Believer wird Teil einer denkwürdigen Theateraufführung in Juarez-Stadt. Dangerous Minds hört Easy-Listening-Coverversionen psychedelischer Pophits der 60er und 70er ("Silver Machine" vom James Last Orchester anyone?).

Pitchfork (USA), 08.06.2021

Der Begriff "Asian American" war einst ein Schlagwort der US-Studentenbewegung der 60er, um das missliebige Wort "oriental" als Bezeichnung wegzubekommen - aber längst hat der Begriff seine eigenen Tücken entwickelt, erklärt Cat Zhang (sehr sehenswert zu dieser Problematik ist auch die aktuelle Sendung von John Oliver): Der Begriff vereint völlig unterschiedliche Migrationsgeschichten und -wellen eines ganzen Kontinents und verdeckt innerhalb der auf diese Weise homogenisierten Communitys erhebliche Dynamiken und Unterschiede. Und selbst wohlmeinende Medien, die "Asian American Music" feiern und zelebrieren wollen, tappen dabei in die Exotismusfalle und präsentieren dann lediglich Musik von Menschen, deren von Migration geprägte Familiengeschichten man ihnen eben buchstäblich im Gesicht ansieht, ohne auf die Spezifität von "Asian American Music" einzugehen. Ein Hot Spot, an dem sich asiatische, afrikanische und amerikanische Musik zusammentaten, waren zum Beispiel die Jazzdebatten an amerikanischen Colleges in den 70ern. "In Stanford diskutierten der Saxophonist Francis Wong und ein Freund über McCoy Tyners 'Sahara', das Downbeat-Album des Jahres 1973. Das Cover zeigte Tyner mit einer japanischen Koto in den Händen. 'Wir sprachen darüber, wie eine asiatisch-amerikanische Version des Jazz sein könnte', erinnert sich Wong. 'Also nicht nur Asian-Americans, die Jazzstandards spielen, sondern was wir konkret beitragen könnten.' Insbesondere die Bay Area war ein reichhaltiger Ort für den kulturellen Austausch. ... Unterdessen missfällt vielen Künstlern, mit denen ich sprach, der Ausdruck 'Asian American Musik' aus Sorge darüber, dass er essenzialisieren oder eine vereinheitliche Ästhetik beschreiben könnte. Wer oder was 'Asian America' ist - darüber wird es nie eine allgemein griffige Auffassung geben. Deshalb ist das Nachdenken über die Musik darüber auch so endlos herausfordernd. Zum Beispiel auch, weil es wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass 'Asian American' eine Konstruktion ist, die zum beträchtlichen Teil von Krieg und Kolonialisierung geformt ist. Wegen der Allgegenwärtigkeit des amerikanischen Militärs in Asien lässt sich von vielen zeitgenössischen Musiken - von den Elektropionieren des Yellow Magic Orchestras bis zum psychedelisch informierten Thai molam - sagen, dass sie asiatische und amerikanische Aspekte aufweisen. Die 'originalen K-Pop Stars', ein einnehmendes südkoreanisches Trio namens The Kim Sisters, begannen ihre Karriere damit, vor Soldaten während des Koreakriegs amerikanische Folk, Jazz und Country-Standards zu singen. Jahre später trug der Vietnamkrieg nicht nur zur Entstehung des vietnamesischen Rock'n'Roll bei, sondern auch des kambodschanischen Rock'n'Rolls, da die US-Radiosender über die Grenzen hinweg sendeten. 'Asian American Jazz ist cool, aber ehrlich gesagt: Die beste 'Asian American Music' findet man auf der anderen Seite des Pazifiks', sagt der Musiker und Historiker Julian Saporiti." Wer einmal in diese Compilation mit Rock- und Soulmusik aus dem Saigon der 60er und 70er gehört hat, wird ihm kaum widersprechen können:

Archiv: Pitchfork

HVG (Ungarn), 03.06.2021

Im Interview mit Zsuzsa Mátraházi spricht der Unternehmer Gábor Bojár u.a. über das von der Orban-Regierung vorangetriebene, umstrittene Projekt der der chinesischen Universität Fudan, die einen Ableger in Budapest gründen will (mehr bei der Deutschen Welle): "Ländern wie Singapur oder Finnland, die aus einem gewissen Rückstand aufgestiegen sind, haben gemeinsam, dass sie das meiste Geld in Bildung gesteckt haben. Doch die in Bildung investierten Summen bringen keine sichtbaren Ergebnisse innerhalb von vier Jahren - und nur dafür interessiert sich die Politik hierzulande (...) Das Gute an dem Fudan-Projekt ist, dass die Bildung in den Fokus gerät. Doch eine Universität in chinesischem Eigentum, aufgebaut von chinesischen Arbeitern, mit chinesischem Kredit, bezahlt jedoch vom Geld der ungarischen Steuerzahler - das ist ein Skandal. Die hiesige Hochschulbildung hat man umgemodelt, weil die Regierung eine eigene Elite erziehen will, und erwartungsgemäß wird in dieses Feld viel Geld aus der EU fließen."
Archiv: HVG

The Assembly (USA), 30.05.2021

John Drescher schildert einen interessanten Streitfall an der Journalistenschule der University of North Carolina. Einer der größten Mäzene der Journalistenschule, Walter Hussman, hat 25 Millionen Dollar gespendet, um einen neutralen und faktenbasierten Journalismus zu propagieren. Nun soll aber die New-York-Times-Reporterin Nikole Hannah-Jones als Lehrerin engagiert werden, die durch engagierten Journalismus berühmt wurde und sich als schwarze Journalistin auf das Leiden ihrer Community spezialisiert hat - ihre bekannteste Arbeit ist das "1619"-Projekt der New York Times über die Geschichte der Sklaverei. Die Idee von Objektivität ist nicht mehr en vogue, macht John Drescher klar: "Hussmans Ansatz, immer beide Seiten zu Wort kommen zu lassen, beruht auf der Idee der Objektivität. Hannah-Jones hält dies für einen wenig ernstzunehmenden Ansatz, der nur zu falscher Ausgewogenheit führt. 'Mainstream-Medien haben lange dazu tendiert, als Stenografen der Macht zu funktionieren, und wir haben das als unvoreingenommene, objektive Berichterstattung verstanden', sagte sie im vergangenen Juni dem 1A-Podcast von NPR. 'Wenn weiße Amerikaner zu mir sagen: 'Ich will nur eine sachliche Berichterstattung', dann sagen sie mir damit, dass sie eine Berichterstattung aus einer weißen Perspektive wollen... mit einer weißen normativen Sichtweise, und das war einfach noch nie objektiv.'"
Archiv: The Assembly

Vanity Fair (USA), 07.06.2021

Die Vermutung, das Coronavirus könnte einem Laborunfall entsprungen sein, wurde ziemlich schnell in die Ecke der Verschwörungstheorie abgeschoben. Vor allem auch mit einem Statement in der honorigen Zeitschrift Lancet, mit dem die Crem de la Creme der internationalen Virologie jegliche Spekulation in dieser Richtung als moralisch inakzeptabel verwarf. Doch in Washington dreht sich der Wind gerade, nicht zuletzt da bekannt wurde, dass drei Wissenschaftler des Wuhan Institute of Virology schon im November 2019 mit Covid-19-Symptomen ins Krankenhaus gebracht werden mussten. In einer Wahnsinnsrecherche spürt Katherine Eban der Theorie bis in die Fledermaushöhlen von Yunan nach und zeigt unter anderem, dass nicht nur von China die Aufklärung verhindert wurde, sondern auch von den USA: "... Dann kam die Enthüllung, dass das Statement in Lancet nicht nur von dem Zoologen Peter Daszak unterzeichnet, sondern auch organisiert worden war, eben jenem Mann, der Forschungsgelder der amerikanischen Regierung für aggressive virologische Forschung gesammelt und an verschiedene Einrichtungen weitergeleitet hatte - darunter auch das Wuhan Institute of Virology. David Asher leitete im Außenministerium die Untersuchungen zu den Ursprüngen von Covid19. Er sagt, es wurde ziemlich schnell klar, dass es eine große Gain-of-function-Bürokratie innerhalb der Regierung gebe. Während die Monate vergingen, ohne dass ein Zwischenwirtstier die Theorie eines natürlichen Ursprungs belegen konnte, erreichten die Fragen ernstzunehmender Skeptiker an Dringlichkeit. In den Augen eines früheren Gesundheitspolitikers stellte sich die Situation so dar: Ein Institut, 'das mit amerikanischen Geldern ausgestattet ist, versucht ein Fledermaus-Virus so zu manipulieren, dass es menschliche Zellen infizieren kann, und plötzlich gibt es dieses Virus' in der gleichen Stadt wie das Labor. Es sei 'intellektuell unredlich, diese Hypothese nicht zumindest zu erwägen'. Und da China eine transparente Untersuchung so aggressiv abblockt und nicht davor zurückschreckt, zu lügen, zu vertuschen und Opposition zu zerschlagen, kann man wohl mit Recht fragen, ob Shi Zhengli, die führende Forscherin am Wuhan Institute, wirklich so frei wäre, einen Unfall in ihrem Labor zu melden, selbst wenn sie gewollt hätte."
Archiv: Vanity Fair

Respekt (Tschechien), 06.06.2021

Anlässlich des Todes der tschechischen Soziologin, Feministin und ehemaligen Dissidentin Jiřina Šiklová unterhält sich Silvie Lauder mit dem Historiker Vilém Prečan, einem langjährigen Weggefährten Šiklovás, der mit ihr zusammen zu Kommunismuszeiten wichtige Schriften und Literatur kodierte und ins Ausland schmuggelte. Šiklová, die nach der Samtenen Revolution ferner die tschechischen Gender Studies begründete, habe nach der Maxime gelebt, dass "wir als Bürger alle eine Verpflichtung haben, eine Verpflichtung gegenüber dem Land, in dem wir leben, denn niemand sei eine völlig private Person". Wegen ihrer Dissidententätigkeit saß Šiklová zehn Monate unter den Kommunisten im Gefängnis. Dabei habe sie nie ihre Schlagfertigkeit verloren, erzählt Prečan. Als sie einmal in einem Verhör von den Geheimdienstlern gefragt wurde, was sie mit Wolfgang Scheur zu schaffen habe (einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft, der Anfanger der Achtzigerjahre als Bindeglied zwischen Dissidenten und Exiltschechen fungierte), denn sie sei mit ihm gesehen worden, behauptete sie einfach: "'Ich schlafe mit ihm.' Darauf konnten sie nichts mehr sagen."
Archiv: Respekt

Believer (USA), 01.06.2021

In einem epischen Artikel der neuen Ausgabe nimmt uns José Orduna mit auf eine etwas andere Entdeckungsreise durch eine der gefährlichsten Städte der Welt - Juarez-Stadt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze: "Diese Safari durch Juárez sollte nicht in einem Theater, sondern an verschiedenen Orten der Stadt stattfinden, auch in den Häusern der Menschen, und die Aufführung würde vier Stunden dauern. Sechs Einheimische hatten jeweils einen Schauspieler einer lokalen Theatergruppe zu sich aufgenommen und lebten zwei Wochen mit ihm zusammen. Sie hatten ihr Leben einander geöffnet und einen Text konzipiert. Regisseure wurden hinzugezogen, um daraus Performances zu entwickeln … Als Julián uns verriet, dass er eine kleine, unbedeutende Rolle im Drogenhandel spielte, hatten wir bereits die Suppe seiner Mutter gegessen, den Geruch seiner Sachen eingeatmet, seinen entblößten Körper gesehen und seine Liebe zu seinem Kind kennengelernt. Es war nicht mehr so leicht, die gängigen Grenzen zu ziehen. Seine Person widersprach den offiziellen Narrativen, dass die massive Gewalt des Drogenkriegs von Kriminellen verkörpert werden, die sich kategorisch von uns Unschuldigen unterscheiden und dass Kriminalität die Summe illegaler Handlungen von Einzelpersonen oder Gruppen ist, die auf schlechten Entscheidungen beruhen und den Einsatz der Polizei erfordern. Er erinnerte mich an so viele meiner Kindheitsfreunde, Kinder, mit denen ich im Sommer mein Eis geteilt hatte, deren Mütter ich kannte und die später den Platz einnehmen würden, den die Gesellschaft für sie geschaffen hatte."
Archiv: Believer
Stichwörter: Mexiko, Juarez-Stadt, Drogenhandel

La vie des idees (Frankreich), 01.06.2021

Akribisch zeichnen Artur Kula und Judith Lyon-Caen den Prozess gegen die polnischen Historiker Jan Grabowski und Barbara Engelking nach, der weltweit Aufsehen erregte (unsere Resümees), weil er zeigte, dass das Kaczynyski-Regime mit juristischen Mitteln in die Arbeit von Historikern eingreift. Eine Polin hatte gegen die beiden geklagt, weil sie das Gedächtnis ihre Onkels beschädigt sah, der zwar Juden gerettet, aber auch beraubt hatte. Das Gericht ließ sich zwar nicht ganz auf die Klage ein, verurteilte die Historiker aber, sich zu entschuldigen. Und das Urteil liest sich für die Autoren von La Vie des Idées als ein Eingriff in Geschichtsschreibung: "Wer immer auch Polen Verantwortung für die Ermordung von Juden während der deutschen Besatzung zuschreibt, gilt als jemand, der die fundamentale Tatsache in den Hintergrund stellt, dass Polen als Ganzes ein Opfer der Deutschen war. Wenn man also beginnt, die Ermordung oder Enteignung der polnischen Juden den nichtjüdischen Polen zuzuschreiben, dann 'relativiert' man das Leiden der Nation und kann so in jedem polnischen Bürger das Gefühl der nationalen 'Zugehörigkeit' (przynależność) und 'Würde' (godność) verletzen, man schadet dem nationalen 'Erbe' (dziedzictwo)." Alles Begriffe, die nun offenbar Eingang in das polnische Recht finden.

The Harvard Gazette (USA), 03.06.2021

Amartya Sen ist ein begeisterter Fahrradfahrer, stellt sich im langen autobiografischen Gespräch mit Christina Pazzanese heraus. Und er erzählt (vielleicht nicht zum ersten Mal), wie ihm das Rad seine bahnbrechenden Studien ermöglichte: "Eine meiner Forschungsreisen im Jahr 1970 befasste sich mit der Entwicklung von Hungersnöten in Indien. Ich untersuchte die bengalische Hungersnot von 1943, bei der etwa drei Millionen Menschen starben. Für mich war klar, dass der Grund dafür nicht ein Rückgang des Nahrungsangebot im Vergleich zu früher war. Vielmehr hatten wir einen kriegsbedingten Wirtschaftsboom, der die Löhne einiger Menschen erhöhte, aber nicht die anderer. Und diejenigen, die keine höheren Löhne hatten, mussten mit den höheren Preisen für Lebensmittel fertig werden - insbesondere für Reis, der das Grundnahrungsmittel in der Region ist. So kam es zu den Hungersnöten. Um diese Untersuchung durchzuführen, musste ich herausfinden, welche Löhne die Menschen für verschiedene ländliche Tätigkeiten erhielten. Ich musste auch herausfinden, wie hoch die Preise für Grundnahrungsmittel auf den wichtigsten Märkten waren. All das erforderte, dass ich zu vielen verschiedenen Orten fuhr und mir deren Aufzeichnungen ansah, also fuhr ich all diese Strecken mit dem Fahrrad."
Stichwörter: Sen, Amartya, Indien, Fahrrad

Novinky.cz (Tschechien), 01.06.2021

Die tschechisch-deutsche Publizistin Alena Wagnerová erkennt in einem Essay gewisse Ähnlichkeiten zwischen den hierarchischen Machtstrukturen der Katholischen Kirche und der Kommunistischen Partei: Indem Lenins Vorstellung der Arbeiterklasse als Avantgarde sich institutionalisierte, entstanden autoritäre, hierarische Strukturen, die der katholischen Kirche ähnelten. "Ihre Priester wurden Funktionäre und ihr 'unfehlbarer' Kopf die Stalinsche Komintern." Im Prozess der Institutionalisierung hätten sich bei beiden Institutionen die geistigen Grundlagen verändert (wenn auch bei den Katholiken schon viele hundert Jahre vorher). "Aus der Verkündigung und der Botschaft wurde ein Dogma (…), aus der Idee eine Ideologie, aus den einst Verfolgten wurden Verfolger, was früher oder später bedeutet, dass sich Macht und Gewalt verbünden und eine blutige Spur hinterlassen: bei der katholischen Kirche durch Kreuzzüge, Inquisition und Exkommunikationen, bei der kommunistischen Partei durch Schauprozesse, Hinrichtungen, Arbeitslager - und Panzer." Freilich habe es in beiden Institutionen immer auch einfache Gläubige beziehungsweise Parteimitglieder sowie geistige Eliten gegeben, die die ursprüngliche Botschaft hochhalten wollten. Doch in autoritär-hierarchischen, undemokratischen Institutionen würden Kritik und Reformversuche immer zum Problem, da sie automatisch Machtverlust bedeuteten. Und Wagnerová kommt zum Fazit: Der Bedeutungsverlust der verbliebenen kommunistischen Parteien sollte der katholischen Kirche in ihrer derzeitigen Krise eine Lehre sein.
Archiv: Novinky.cz

Dangerous Minds (USA), 03.06.2021

Joseph Lanza ist der Fachmann für obskure Nischen der Popkultur. Mit "Easy Listening Acid Trip: An Elevator Ride through Sixties Psychedelic Pop" hat er nun ein Buch über Easy-Listening-Coverversionen psychedelischer Pophits aus den 60s und 70s geschrieben. Dazu steht er im Gespräch gern Rede und Antwort: Entdeckt hat er diese Musik schon in jungen Jahren, in den Radiosendern, die seinen Eltern zur Berieselung laufen ließen. Die Sender "schienen Geisterorchester und -chöre zu übertragen", in Studienzeiten hörte er diese Musik nachts in speziellen Radiosendern. "Diese Musik wurde fast überall und an unterschiedlichen Orten gespielt. Im Laufe der Jahre zog sie mich immer mehr an. Ich fragte mich, welche Leute und Studios wohl hinter diesen Sessions steckten. Diese Musik war ja nicht das Produkt einer indifferenten Maschine, sondern von hochkarätigen Sessionmusikern, die auch auf Popalben und in Top40-Songs mitspielten. Vinnie Bell wäre so ein Beispiel. Er trug zu Muzak-Sessions bei, spielte seine 'Wassergitarre' aber auch für 'Theme to Midnight Cowboy' von Ferrante & Teicher. ... In den späten 60ern, als die 'Gegenkultur' und politische Gewalt ihren Höhepunkt erfuhr, spielten Easy-Listening-Stücke wie Paul Mauriats 'Love is Blue' auf denselben Top40-Sendern, auf denen auch die Doors und Jefferson Airplane liefen. Als ich für mein Buch recherchierte, erzählte mir Brad Miller, der Toningenieur und Produzent der frühen Alben des Mystic Mood Orchestras, dass die auch unter den Jugendlichen der Bay Area populär waren. 'Die Popmusik versuchte damals gegenüber den üblichen elektrischen Rockbands mehr Textur anzubieten', behauptet er. Der psychedelische Appeal fühlte sich nicht an wie eine von den 'Jetsons' inspirierte Vision der Zukunft, sondern wie ein melancholischer Blick in die Vergangenheit, der häufig alte Klänge aus der British Music Hall, des American Vaudeville und der Tin Pan Alley wiederbelebte. Dies hilft beim Verständnis dafür, warum Easy Listening - mit seiner Betonung traditioneller Melodien - und Psychedelia so ein unheimliches Bündnis eingingen. Sogar die Rolling Stones nahmen sich die Zeit, um mit Liedchen wie 'She's a Rainbow' zu ihren europäischen Wurzeln zurückzukehren."

Eine solche Vorlage schreit natürlich nach einem Direktvergleich. Hier das wild ekstatische Stück "Silver Machine", im Original von Hawkwind aus dem Jahr 1972 (richtig, der Mann am Mikro ist Lemmy Kilmister, der spätere Frontmann von Motörhead) ...



... und hier die mit Schmiss eingespielte Coverversion des James Last Orchestra:

Archiv: Dangerous Minds

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.06.2021

Zum fünfzigsten Todestag von György Lukács schreibt der Literaturhistoriker und Mitarbeiter des Budapester Lukács-Archivs András Kardos über die Haltung Lukács' zur Ethik: "In seinem ganzen Leben schwebte ihm die Ausarbeitung einer Ethik vor und es ist kein Zufall, dass daraus lediglich Fragmente und Vorarbeiten entstanden. Doch wenn wir die Frage uns so stellen, ob es möglich sei, auch als Kommunist nach der Maxime der Einhaltung des anständigen Benehmens zu streben, dann muss die Antwort lauten, dass es möglich ist. 'Mein Interesse an Ethik führte (mich) zur Revolution', sagt Lukács am Ende seines Lebens." Kardos geht auf die Schwierigkeiten Lukács' mit der Partei ein: Dass er immer wieder Schwierigkeiten bekam, bedeute "nichts anderes, als dass Moskau und Budapest darauf aufmerksam wurden, dass sie mit Lukacs seit Jahrzehnten eine 'Schlange der Autonomie' an der Brust wärmten. Denn Lukács war einerseits ein Denker; andererseits benahm er sich aber auch in schwierigen Situationen ethisch, trotz aller taktischen Selbstkritik. Er konnte seine Ethik nicht schreiben, doch diese leben, konnte er schon. Gelebtes Denken."
Stichwörter: Lukacs, Georg, Kardos, Andras

New Yorker (USA), 14.06.2021

Anlässlich einer Schau im British Museum fragt Rebecca Mead in einem Beitrag des Magazins, wie degeneriert der römische Kaiser Nero wirklich war. Sein Hang zu Exzessen: "Laut neuesten Erkenntnissen nichts als Übertreibung beziehungsweise ein Narrativ vorurteilsreicher, auf fragwürdigen Quellen basierender Geschichtsschreibung, verfasst Jahrzehnte nach Neros Tod. Nero war der letzte der julisch-claudischen Kaiser, und die posthumen Berichte wurden teilweise dazu benutzt, diese dynastische Linie zu verunglimpfen und den Ruf ihrer Nachfolger aufzupolieren. Darstellungen von Nero als berüchtigt 'basieren auf einer parteiischen Quellenerzählung', erklärt Thorsten Opper, Kurator der griechisch-römischen Sektion des British Museum, das eine Ausstellung zeigt, die zwar nicht darauf zielt, Nero zu rehabilitieren, aber seinen grotesken Ruf hinterfragt. 'Alles, was wir über Nero zu wissen glauben, gründet auf Manipulation und 2000 Jahre alten Lügen', meint Opper. Tatsächlich sind einige Geschichten über Nero, etwa die, er habe auf der Geige geübt, während Rom brannte, offensichtlich absurd: Geigen wurden erst im 16. Jahrhundert erfunden … Die Forschung hat festgestellt, dass viele zur Charakterisierung Neros verwendete Tropen Ähnlichkeit mit literarischen Berichten über mythische Ereignisse aufweisen. 'Das Ganze basiert auf literarischen Techniken, die in römischen Rhetorikschulen gelehrt wurden', so Opper."

Vielleicht schreckte die Leute aber auch seine Visage ab?

Marmorbüste von Nero. Italy, um 55 n.u.Z.. Foto von Francesco Piras / Ministero della Cultura - Museo Archeologico Nazionale di Cagliari


Außerdem: Adam Kirsch erinnert an den Gräzisten Milman Parry, der in den 1930ern feststellte, dass die Homerischen Epen einer oralen Erzähltradition folgen. Amanda Petrusich porträtiert die schwarze Country-Sängerin Mickey Guyton.
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Nero, Antike, British Museum, Country